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DEFINITION DER ZEITGEIST-BEWEGUNG DIE REALISIERUNG EINES NEUEN GEDANKENGANGS IN BEARBEITUNG Letzte Aktualisierung: 31.08.2013 Bitte wende dich bei Rechtschreibfehlern, undeutlichen Formulierungen oder Verbesserungsvorschlägen im Linguistik Team (https://www.facebook.com/pages/Linguistic-TeamGermany/541725829217985) oder bei folgender Email [emailprotected] damit wir die Fehler beheben können. Danke für deine Hilfe!

„Die enormen und sich weiterhin beschleunigenden Entwicklungen in Wissenschaft und Technik wurden nicht von einer gleichen Entwicklung in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen begleitet. [...] Wir beginnen nun [...] gerade erst das Potenzial zu entdecken, welches uns ermöglicht unsere Kultur außerhalb von Technologie, speziell in den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen zu entwickeln. Man kann mit Sicherheit sagen, dass [...] gesellschaftliche Erfindungen, wie moderner Kapitalismus, Faschismus und Kommunismus, im Anbetracht der Anpassung einer modernen Gesellschaft an moderne Methoden, als primitive Experimente gelten werden.“ - Dr. Ralph Linton

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DEFINITION DER ZEITGEIST-BEWEGUNG

von Peter Joseph

Englisches Original http://thezeitgeistmovement.com/orientation

Ehrenamtlich übersetzt vom TZM Linguistik Team Deutschland und zahlreichen weiteren Helfern. http://www.zeitgeistmovement.de/mitmachen/teams/linguistik-team/

Projektkoordination: Wolfram Kalkofen [emailprotected]

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 1) Vorwort Teil 1 - Eine Einleitung 2) Überblick 3) Das wissenschaftliche Weltbild 4) Optimierte Lösungen 5) Logik vs. Psychologie 6) Das Plädoyer für menschliche Einheit 7) Das letzte Argument: Die Menschliche Natur Teil 2 - Gesellschaftskrankheit & die Anti-Ökonomie 8) Definition der Volksgesundheit 9) Wirtschaftsgeschichte 10) Markteffizienz vs. technische Effizienz 11) Wertesystem-Störung 12) Struktureller Klassismus, der Staat & Krieg Teil 3 - Ein neuer Gedankengang 13) Einleitung zu nachhaltigem Denken 14) Echte wirtschaftliche Faktoren 15) Post-Knappheits-Trends, Möglichkeiten und Effizienz 16) Die industrielle Regierung 17) Lifestyle, Freiheit und der Menschheitsfaktor Teil 4 - Die Zeitgeist-Bewegung 18) Das Zeitalter der Destabilisierung 19) Übergang & die Hybrid-Ökonomie 20) Die Zeitgeist Bewegung werden Anhang 21) A: Glossar 22) B: Die wissenschaftliche Methode 23) C: Literaturverzeichnis 24) D: TZM: Struktur und Prozesse

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Vorwort

Vorwort „Das Ergebnis einer jeden ernst zu nehmenden Recherche kann nur das Hervorgehen von zwei Fragen aus einer Einzelnen sein.“ - Thorstein Veblen

Herkunft des Namens „Die Zeitgeist-Bewegung“ (TZM - The Zeitgeist Movement) fasst eine soziale Bewegung zusammen, die im Folgenden weiter beschrieben wird. Der Name hat keinen besonderen historischen Bezug zu etwas kulturell Spezifischem und ist nicht mit zuvor existierenden Phänomenen mit ähnlichen Bezeichnungen zu verwechseln. Vielmehr basiert der Name auf der direkten Bedeutung der Begriffe. Das Wort „Zeitgeist“ wird wie folgt definiert: „Das intellektuelle, moralische und kulturelle Klima einer Zeit“. Das Wort „Bewegung“ beinhaltet „Veränderung“. Demzufolge ist die „Zeitgeist-Bewegung“ eine Organisation, die Veränderung im vorherrschenden intellektuellen, moralischen und kulturellen Klima anstrebt. Dokumentstruktur Der folgende Text wurde verfasst, um so knapp und doch so umfassend wie möglich zu sein. Seine Struktur besteht aus einer Reihe von Texten, die nach einem bestimmten Schema angeordnet sind, sodass sie in einem größeren Zusammenhang gesehen werden können. Obwohl jeder Einzeltext auch für sich selbst steht, ergibt sich der größere Kontext dadurch, dass alle Texte zusammen weit gefasste Gedankengänge im Sinne einer möglichst effizienten Organisation der Menschheit unterstützen. Lesern dieser Texte werden Wiederholungen auffallen. Diese sind beabsichtigt, denn Wiederholungen und Betonungen werden als hilfreich angesehen, da sie Menschen mit weniger Bezug zu solchem Material den Einstieg erleichtern. Außerdem wurde viel Energie dafür investiert, mit Quellenverweisen in Form von Fußnoten und Anhängen in den Texten auf weitere Recherchen zu verweisen, die für eine detaillierte Analyse unabdingbar sind. Zudem wird - angesichts der Bezüge zwischen den Texten und deren Inhalten - ermöglicht, die Verständlichkeit zu erhalten und dem Leser weiterführende und selbstständige Recherche offen zu legen, sofern daran Interesse besteht. Der Organismus des Wissens Wie bei jeder Form von Forschungsergebnissen handelt es sich um aufeinander aufbauende Informationsbestandteile. Deren Sichtung, Bewertung, Dokumentation und Integration in anderes bereits existierendes oder zukünftiges Wissen ist die Methode, durch die sich sämtliche differenzierbare Ideen entwickeln. Es ist von großer Wichtigkeit, dieses Kontinuum zu verstehen, weil es zusammenfasst, wie wir denken und an was wir glauben und auch warum wir dies tun. Denn Informationen sind immer separat von ihrem Autor - ob Einzelperson oder Institution - zu sehen. Informationen können nur richtig bewertet werden, indem man sie einem systematischen Prozess von Vergleichen mit anderen physikalisch verifizierbaren Beweisen aussetzt. Dies führt dazu, dass jene 4

Vorwort

Informationen, abhängig von der Beweislage, sich entweder als wahr oder unwahr herausstellen. Dieses erwähnte Kontinuum beinhaltet außerdem, dass es keinen empirischen „Ursprung“ von Ideen gibt. Von einem wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus, wird Wissen meist durch Kommunikation innerhalb unserer Spezies bearbeitet, erweitert und zu seiner Entstehung gebracht. Ein jedes Individuum, mit seinen oder ihren grundsätzlich verschiedenen Erfahrungen und Neigungen, dient als spezieller, verarbeitender Filter, der eine Idee verändern kann. Gemeinsam bilden wir Individuen das, was man als „Gruppenverstand“ bezeichnen könnte. Dieser stellt einen größeren gesellschaftlichen Prozessor dar, durch den sich idealerweise die Bestrebungen von Individuen verbinden. Die traditionelle Methode von Datentransfer beispielsweise durch die Literatur, nämlich das Weitergeben von Büchern von einer Generation an die Folgende, war ein bemerkenswerter Pfad dieser „Gruppenverstands“-Interaktion.1 Isaac Newton hat diese Tatsache womöglich am besten mit folgenden Worten ausgedrückt: „Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.“2 Dies wird hier erwähnt, um den Leser erneut auf die kritische Abwägung von Informationen aufmerksam zu machen, weil es, genau genommen, eine vermeintliche „Quelle“ im empirischen Sinne nicht gibt. Nur für temporäre, traditionelle Muster unserer Kultur, wie zum Beispiel den Anhang eines Buches als Referenz für spätere Recherchen, ist solch ein Vorgehen von Bedeutung. Demnach ist keine Aussage irrtümlicher als „Dies ist meine Idee“. Solche Ansichten sind Nebenprodukte der materialistischen Kultur, die uns nach materiellen Belohnungen streben lässt – normalerweise nach Geld im Austausch gegen die Illusion der „eigenen“ Kreationen. Sehr oft liegen auch Ego-Assoziationen vor, wenn jemand Ansehen für sein „Mitwirken“ an einer Idee oder Erfindung verlangt. Das heißt aber nicht, keine Dankbarkeit oder keinen Respekt jenen gegenüber zu zeigen, die Engagement und Ausdauer für die Erweiterung des Wissens gezeigt haben. Auch heißt dies nicht, die Notwendigkeit und Wichtigkeit derer abzuwerten, die einen erfahrenen und spezialisierten „Expertenstatus“ in einem bestimmten Gebiet erreicht haben. Die Beiträge brillanter Wissenschaftler, Denker und Ingenieure unserer und auch vergangener Tage werden in diesem Text zitiert und dienen als Teil des größeren Datenkomplexes, den Du im Begriff bist, zu lesen. Besonders zu erwähnen sind hier: R. Buckminster Fuller, Jacque Fresco, Jeremy Rifkin, Ray Kurzweil, Robert Sapolsky, Thorstein Veblen, Richard Wilkinson, Dr. James Gilligan, Carl Sagan, Nicola Tesla, Stephen Hawking und viele weitere Wissenschaftler. Allen engagierten Köpfen, die zu einer besseren Welt beitragen, sei an dieser Stelle große Dankbarkeit ausgesprochen. Wenn es um den Grad des Verständnisses geht, sei ein weiteres Mal gesagt, dass Informationen selbst keine Quelle, keine Loyalität, keinen Preis, kein Ego und keine Voreingenommenheit besitzen. Sie entstehen, korrigieren und entwickeln sich selbst - wie ein Organismus durch unseren „Gruppenverstand“, an dem wir alle teilhaben. 1

Carl Sagan schrieb in seinem Werk „Cosmos“ im Bezug auf die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria, die als größte und bedeutendste Bibliothek der antiken Welt angesehen wird: „Es war, als ob die gesamte Zivilisation sich einer selbst-verschuldeten Hirn-Operation unterzogen hätte und all ihre Erinnerungen, Entdeckungen, Ideen und Leidenschaften irreparabel zerstört wurden. „ Cosmos, Sagan, Books, New York, 1980, Kapitel 13 2 „The Correspondence of Isaac Newton“, 1. Auflage, bearbeitet von HW Turnbull, 1959, Seite 416

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Vorwort

Demzufolge beansprucht die Zeitgeist-Bewegung nicht, die Quelle der Ideen zu sein. Sie ist am ehesten als eine aktivistische bildende Institution zu verstehen, die versucht, ein gemeinsames Dach zu schaffen, unter dem bereits existierende und noch entstehende wissenschaftliche Resultate zu einem gemeinsamen gesellschaftlichen Imperativ zusammengefasst werden können. Webseiten und Materialien Die folgenden zehn Websites sind offiziell mit den weltweiten Aktionen der ZeitgeistBewegung zu assoziieren: 

Globaler Hauptknotenpunkt: http://www.thezeitgeistmovement.com Dies ist die Hauptseite und Knotenpunkt für TZM-bezogene Aktionen/Ereignisse/Updates.

Globaler Chapter-Knotenpunkt: http://www.tzmchapters.net/ Dies ist der globale Hauptknotenpunkt für Informationen und Material der Chapter. Er bietet Karten, Chapter-Werkzeuge und Weiteres.

Globaler Blog: http://blog.thezeitgeistmovement.com/ Dies ist der offizielle Blog, der das Einsenden von in einem redaktionellen Stil geschriebenen Texten bietet.

Globales Forum: http://www.thezeitgeistmovementforum.org/ Dies ist unser offizielles Forum für Mitglieder, um über Projekte zu diskutieren und Ideen weltweit zu teilen.

Zeitgeist Media Project: http://zeitgeistmediaproject.com/ Die Seite des ZMP stellt Links zu diversen hörbaren, visuellen oder literarischen Werken unserer Mitglieder zu Verfügung. Nutzer stellen ihre Werke zur Verfügung und verwenden die Seite oft als Werkzeug für FlyerGrafiken, Video-Präsentationen, Logo-Animationen und dergleichen.

ZeitNews: http://www.zeitnews.org/ ZeitNews ist ein Nachrichtenservice, der in sozial relevanten Artikeln über Fortschritte in Wissenschaft und Technologie berichtet.

Weltweiter Zeitgeist Tag („ZDay“): http://zdayglobal.org/ Diese Seite wird alljährlich aktiv, um unseren globalen „ZDay“ zu ermöglichen, der jedes Jahr im März stattfindet.

Zeitgeist Media Festival: http://zeitgeistmediafestival.org/ Diese Seite wird alljährlich aktiv, um unser globales „Zeitgeist Media Festival“ zu ermöglichen, welches jedes Jahr im August stattfindet.

Globales Institut für Neugestaltung: http://www.globalredesigninstitute.org/ Das Globale Institut für Neugestaltung ist ein virtuelles Grafik-Interface nach dem „Denkfabrik“-Modell, welches ein System aus Karten und Daten nutzt, um 6

Vorwort

technische Änderungen im Sinne des Gedankengangs von TZM in diversen Regionen darzustellen. 

Soziales Netzwerk der Bewegung: http://tzmnetwork.com/ Dieses Netzwerk ist eine verflochtene Website, die viele bekannte soziale Netzwerke miteinander verbindet, indem sie einen zentralen Knotenpunkt durch viele verschiedene Medien erschafft.

Allgemeine soziale Netzwerke TZM Global auf Twitter: http://twitter.com/#!/tzmglobal TZM Global auf Facebook: http://www.facebook.com/tzmglobal TZM Global Youtube: http://www.youtube.com/user/TZMOfficialChannel

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Überblick

Teil 1: Eine Einleitung

Überblick „Weder die großen politischen und wirtschaftlichen Mächte, noch die überspezialisierten Experten, noch die allgemeine Bevölkerung erkennt, dass [...] es bereits heute äußerst machbar ist, jedem Menschen auf dieser Welt einen besseren Lebensstandard, als wir jemals gekannt haben‘ zu garantieren. Es muss nicht mehr heißen: „Entweder Du oder ich“. Egoismus, wie durch den Überlebenskampf vorgegeben, ist unnötig und folglich immer eher unvernünftig. Krieg ist überholt.“3 - R. Buckminster Fuller

Über uns Die 2008 gegründete Zeitgeist-Bewegung ist eine sich für Nachhaltigkeit einsetzende Gruppe, die durch ein Netzwerk aus regionalen Chaptern, Projektteams, öffentlichen Events, Medienveröffentlichungen und Wohltätigkeitsarbeit agiert. Der Aktivismus von TZM basiert ausschließlich auf gewaltfreien Kommunikationsmethoden mit dem Hauptfokus darauf, die Öffentlichkeit über den wahren Ursprung vieler persönlicher, gesellschaftlicher und ökologischer Probleme aufzuklären. Damit geht auch das Potenzial der Technologie einher, Lösungen zu finden und eine Verbesserung des menschlichen Daseins zu ermöglichen, welches jedoch bisher aufgrund der Barrieren in unserem Gesellschaftssystem nicht angewendet werden kann. Obwohl die Bezeichnung „Aktivismus“ wörtlich genommen zutreffend ist, sollte man die Öffentlichkeitsarbeit der Zeitgeist-Bewegung nicht missverstehen und den traditionellen aktivistischen Protestaktionen, wie wir sie in der Geschichte gesehen haben, zuordnen. Vielmehr drückt sich TZM durch gezielte, rational bildende Projekte aus, die nicht versuchen aufzuzwingen, vorzuschreiben oder blind zu überzeugen. Stattdessen geht es darum, einen Gedankengang anzustoßen, der logisch selbsterschließend ist, wenn die grundlegenden Überlegungen zu „Nachhaltigkeit“4 und „Volksgesundheit“5 durch eine wissenschaftliche Perspektive in Betracht gezogen werden. Nichtsdestotrotz ähnelt das Streben der Zeitgeist-Bewegung den traditionellen Bürgerrechtsbewegungen der Vergangenheit darin, dass sie die wahrhaftig unnötige Unterdrückung in unserem Gesellschaftssystem enthüllen, die strukturell und 3

Critical Path, R. Buckminster Fuller, St. Martin's Press, 1981, Introduction, xxv Der Begriff Nachhaltigkeit wird allgemein wie folgt definiert: „Prinzip, nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren, künftig wieder bereitgestellt werden kann“ (http://www.duden.de/rechtschreibung/Nachhaltigkeit ). Der Begriff wird heute oft in einem ökologischen Kontext benutzt/verstanden. TZMs Kontext geht darüber hinaus, indem die kulturellen und verhaltenswissenschaftlichen Nachhaltigkeitsaspekte mit einbezogen werden, bei dem die Wertigkeit eines Glaubenssystems evaluiert wird und dessen, oft komplexe, nicht offensichtliche Kausalzusammenhänge. 5 Der Begriff „Volksgesundheit“ (auch öffentliche Gesundheit) wird oft wie folgt definiert: „Hygiene und Öffentliche Gesundheit verstehen sich als die Wissenschaft und Lehre von der Erhaltung und Förderung der Gesundheit sowie der Verhütung und Kontrolle von Krankheiten sowohl für den Einzelnen als auch für die Bevölkerung“. http://de.wikipedia.org/wiki/Volksgesundheit In diesem Text wird sie als Messinstrument für körperliches, psychologisches und demnach gesellschaftliches Wohlergehen einer Bevölkerung gesehen. Dies wird als ultimativer Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg eines angewandten Gesellschaftssystems gesehen. 4

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Überblick

soziologisch menschliches Wohlergehen und Potenzial für einen Großteil der Weltbevölkerung einschränkt. Ganz zu schweigen von der Unterdrückung weit gefasster, grundlegender Verbesserungen aufgrund der etablierten Methoden. Wie in späteren Kapiteln näher beschrieben wird, weist das aktuelle Gesellschaftsmodell nicht nur enorme Ausmaße an zerstörerischer, wirtschaftlicher Ineffizienz auf, es stellt zudem eine ökonomische Gruppe oder „Klasse“ von Menschen über andere, wodurch ein technisch unnötiges Ungleichgewicht und relative Armut erzeugt wird. Das könnte man angesichts seiner Auswirkungen als „wirtschaftlichen Fanatismus“ bezeichnen. Die hieraus resultierenden Konsequenzen sind nicht weniger tückisch als die Diskriminierung von Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer Ethnie, Religion oder Überzeugung. Dieser, unserem System inhärente „Fanatismus“ ist nur ein Teil eines großen Problems, welches man „strukturelle Gewalt“6 nennen könnte. Dadurch wird ein weites Spektrum an „eingebautem“ Leid, Unmenschlichkeiten und Mangel erzeugt, welches heutzutage von der unwissenden Masse einfach als „Normalität“ hingenommen wird. Diese Form der „Gewalt“ zieht sich weiter und tiefer als viele sich vorstellen können. Das Ausmaß, indem unser sozioökonomisches System unnötigerweise unsere Volksgesundheit mindert und den Fortschritt unterdrückt, kann nur klar erkannt werden, wenn man eine objektiv-distanzierte „technische“ oder „wissenschaftliche“ Sichtweise auf diese gesellschaftlichen Belange hat und an den traditionellen - oft blendenden - Gewohnheiten vorbei sieht. Die relative Natur unseres Bewusstseins fällt oft Annahmen vermeintlicher „Normalität“ zum Opfer. Dadurch erscheint beispielsweise Mangel und Armut von über 3 Milliarden Menschen7 als natürlicher unveränderbarer gesellschaftlicher Zustand. Zumindest für diejenigen, die sich nicht der tatsächlich produzierten Menge an Lebensmitteln bewusst sind, wo diese enden oder verschwendet werden und sich nicht über die rein technische Natur der reichhaltigen Möglichkeiten moderner, effizienter Lebensmittelproduktion im Klaren sind. Diese ungesehene „Gewalt“ kann auch auf kulturelle Memen8 übertragen werden. Ebenso können gesellschaftliche Traditionen und deren psychologische Auswirkungen - ohne schädliche Absicht - für den Menschen schädliche Folgen hervorrufen. Es gibt beispielsweise einige religiöse Kulturen, die jegliche Form der medizinischen Behandlung ablehnen.9 Viele würden sich über die moralischen und ethischen Werte einer Kultur streiten, in der ein Kind an einer gewöhnlichen Krankheit stirbt, die durch fortschrittliche wissenschaftliche Anwendungen hätte behoben werden können, wenn sie nur zugelassen würde. Wir würden alle 6

Der Begriff „strukturelle Gewalt" wird für gewöhnlich Johan Galtung zugeschrieben, der diesen in dem Artikel „Gewalt, Frieden und Friedensforschung" (Journal of Peace Research, Vol. 6, No. 3, 1969, pp. 167-191) verwendete. Der Begriff bezieht sich auf eine Form der Gewalt, bei der eine gesellschaftliche Struktur oder gesellschaftliche Institution den Menschen schadet, indem sie sie daran hindert ihre Grundbedürfnisse zu decken. Später machte der Kriminalpsychologe Dr. James Gilligan folgende Trennung zwischen „verhaltensbedingter-" und „struktureller" Gewalt: „Die tödlichen Effekte von struktureller Gewalt wirken kontinuierlich, anstatt impulsiv, da Morde, Suizide...Kriege und andere Formen der verhaltensbedingten Gewalt zu einem Zeitpunkt geschehen." (James Gilligan, Violence, G.P. Putnam, 1996, p192) 7 http://www.globalissues.org/article/26/poverty-facts-and-stats (Sourcing 2008 World Bank Development Indicators) 8 Ein Mem bezeichnet einen einzelnen Bewusstseinsinhalt (zum Beispiel einen Gedanken), der durch Kommunikation weitergegeben und damit vervielfältigt werden kann. (http://de.wikipedia.org/wiki/Mem ) 9 http://uk.lifestyle.yahoo.com/religious-parents-causing-suffering-sick-kids-says-report-115021612.html

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übereinstimmen, dass der Tod des Kindes in diesem Fall nicht durch die Krankheit bewirkt wurde, sondern durch die gesellschaftlichen Bedingungen, die es nicht erlaubten, eine Lösung anzuwenden. Als umfassenderes Beispiel: Es wurden einige Studien zum Thema „soziale Ungleichheit“ und deren Auswirkungen auf die Volksgesundheit durchgeführt. Wie in weiteren Kapiteln ausgeführt wird, gibt es ein breites Spektrum an physischen sowie mentalen Gesundheitsproblemen, die aus diesen Bedingungen resultieren, einschließlich Neigungen zu physischer Gewalt, Herzkrankheiten, Depressionen, Bildungsdefiziten und viele weitere Schäden - Schäden, die letztendlich drastische gesellschaftliche Folgen für uns alle haben.10 Diese Kausalitäten bestehen oft durch existierende Traditionen, die durch die Kultur etabliert worden sind, ungehindert und unnötigerweise fort. Das heißt unterm Strich: Wenn wir einen Schritt zurücktreten und unsere neu gewonnenen Erkenntnisse über diese Kausalitäten und die schädlichen Auswirkungen auf das menschliche Dasein bedenken, so landen wir unweigerlich im Kontext der „Bürgerrechte“ und gesellschaftlicher Nachhaltigkeit. Diese neue Bürgerrechtsbewegung macht es sich zum Ziel, unser Wissen und technische Fähigkeiten zu teilen, um nicht nur Probleme zu lösen, sondern auch ein wissenschaftlich hergeleitetes Gesellschaftssystem zu ermöglichen, das unser Potenzial und Wohlbefinden tatsächlich optimiert. Alles andere wird in Ungleichgewicht und gesellschaftlicher Destabilisierung resultieren, da das Abweisen solcher Missstände lediglich eine versteckte Form der Unterdrückung ist. Um den Gesamtkontext nicht außer Acht zu lassen: TZM arbeitet nicht nur daran, das Bewusstsein über solche Probleme und deren wahre Ursache zu wecken, sondern auch daran, unser Potenzial, noch weitreichender als solche direkten Problemlösungen, aufzuzeigen. Hierdurch werden dann zum einen die menschlichen Bedingungen deutlich verbessert werden und zum anderen Probleme gelöst werden, die noch nicht einmal wirklich erkannt worden sind.11 Dies wird durch die Anerkennung wissenschaftlicher Begründungen und der Anwendung der wissenschaftlichen Methode erreicht, wobei ein nahezu empirischer Gedankengang etabliert wird, der alles andere unter sich stellt. Ein Gedankengang, durch den die gesellschaftliche Organisation einen deutlicheren Zusammenhang für Nachhaltigkeit finden kann, den es so noch nie gegeben hat. Fokus TZMs Aktivitäten können folgendermaßen zusammengefasst werden: Diagnostizieren, Bilden und Erschaffen Diagnostizieren: Die Diagnose ist die Identifizierung einer Gegebenheit und der Grund für etwas. Um die Kausalität hinter den vielen gesellschaftlichen und ökologischen Problemen, die wir heute haben, zu entschlüsseln, reicht Beschweren oder Kritisieren der Aktionen von Menschen oder bestimmten Institutionen nicht aus. Eine tatsächliche Diagnose 10 11

Literaturempfehlung: The Spirit Level von Richard Wilkinson und Kate Pickett, Penguin, March 2009 Mehr zu dieser Thematik im Kapitel „Optimierte Lösungen“

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muss den kleinsten gemeinsamen Nenner identifizieren und von dieser Ebene aus die Lösung begründen. Das Problem heutzutage ist, dass oft ein „verzerrter Bezugsrahmen“ wahrgenommen wird, bei dem eine kurzsichtige Fehldiagnose eines bestimmten Problems anhält. Zum Beispiel ist die traditionell etablierte Lösung für die Reformation von menschlichem Verhalten für viele vermeintliche „kriminelle Aktivitäten“ eine bestrafende Inhaftierung. Doch dies sagt nichts über die tieferen Motivationen des „Kriminellen“ aus und was ihn zu solch einer Tat führte. Aus dieser Perspektive wird jedoch eine Lösung komplexer und abhängig von den symbiotischen Beziehungen und deren physischen und kulturellen Aspekten, die sich über einen längeren Zeitraum angehäuft haben.12 Das ist nichts anderes, als wenn eine Person an Krebs stirbt. Es ist nicht im direkten Sinne der Krebs, der ihn tötet, sondern die Faktoren, die zu dem Krebs geführt haben. Bilden: Wir als eine Bildungsbewegung agieren unter der Annahme, dass Wissen das mächtigste Werkzeug ist, um lang anhaltende, wichtige gesellschaftliche Veränderungen in der weltweiten Gemeinschaft zu erschaffen. Demnach gibt es für uns nichts Wichtigeres, als die Qualität der persönlichen Bildung und die Fähigkeit, diese Ideen effektiv und konstruktiv an andere zu kommunizieren. Bei TZM geht es nicht darum, starren festgelegten Ideen zu folgen. Solche begrenzten und geschlossenen Ansichten sind typisch für religiöse und politische Sekten, die nicht die Emergenz anerkennen, die TZMs „Anti-Establishment“13-Natur zugrunde liegt. TZM zwingt in diesem Sinne nichts auf. Es ist eher so, dass daran gearbeitet wird, den Menschen einen offenen Gedankengang klar zu machen, dessen Wichtigkeit dann möglichst selbst, auf einem eigenen Level und im eigenen Tempo, verstanden wird. Weiterhin ist Bildung nicht nur ein Leitbild für die, die mit dem Gedankengang und den Anwendungsmöglichkeiten14 von TZM noch nicht vertraut sind, sondern ebenso für die, die diese bereits kennen. Genauso wie es kein „Utopia“ gibt, gibt es kein Endstadium von Erkenntnissen. Erschaffen: Obwohl Bildung wichtig ist, um die Werte der Menschen anzupassen, so dass alle Menschen die Bedeutung solcher gesellschaftlicher Veränderungen erkennen, arbeitet TZM ebenso daran, wie ein Gesellschaftssystem aussehen könnte, welches

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Die Verbindung zwischen menschlichem Verhalten (in diesem Kontext das asoziale Verhalten, wie durch die Gesetze der Gesellschaft vorgeschrieben) und den Umwelteinflüssen durch die Erziehung/Erfahrungen einer Person steht nun außer Frage. Ein Begriff, der in diesem Kontext wichtig zu erwähnen wäre ist: Die „Bio-PsychoSoziale“-Natur des menschlichen Organismus. 13 Der Begriff „Anti-Establishment“ wird für gewöhnlich im Zusammenhang mit direkter Opposition gegen die aktuelle etablierte Gruppe benutzt. Hier ist der Kontext eher wörtlich, da TZM selbst daran arbeitet, sich selbst als Einheit nicht zu institutionalisieren, sondern eher als ein Ausdruck; ein Symbol einer neuen Art zu Denken oder Weltansicht zu verstehen, die einfach keine Grenzen hat. 14 Die Begriffe „Gedankengang“ und „Anwendungsmöglichkeiten“ werden in diesem Text häufiger vorkommen, da sie miteinander verbunden sind. Bitte schau dir das Glossar Anhang A für weitere Ausführungen an.

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konkret mit optimaler wirtschaftlicher Effizienz15 - auf der Basis unseres aktuellen Stands der technischen Möglichkeiten - aussehen und funktionieren würde. Nur ein Beispiel sind Programme wie das „Globale Institut für Neugestaltung“16. Dies ist ein digitales „Denk-Fabrik“-Projekt, das daran arbeitet, die gesellschaftliche Infrastruktur aufzuzeigen, die mit dem heutigen Stand der Technologie möglich wäre. Dabei sollen technische Möglichkeiten mit dem wissenschaftlichen Gedankengang kombiniert werden, um so die effizientesten technischen Infrastrukturen in einer bestimmten Region aufzuzeigen. Es ist wichtig, kurz zu erwähnen, dass TZMs „Regierungs“-Ansatz wenig mit den heutigen oder historischen Methoden von Regierung zu tun hat. Er entspringt eher einem interdisziplinären Zusammenspiel verschiedener bewiesener Optimierungsmethoden, vereint über einen ausgewogenen Systemansatz, der flexibel gegenüber Verbesserungen ist17. Welcher Bezugsrahmen ist zu jedem Zeitpunkt „am ehesten vollständig“? Derjenige, der das größte interagierende beobachtete System mit einbezieht. Dies wird später weiter erläutert. Das ist die Natur der Ursache- und Wirkungs-Synergie, die die technische Basis für eine wahrhaftig nachhaltige Wirtschaft darstellt. Naturgesetz/Ressourcenbasierte-Wirtschaft Heute gibt es mehrere Begriffe, um diese grundlegend logische Basis für ein stärker wissenschaftlich orientiertes Gesellschaftssystem in verschiedenen Gruppen zu beschreiben. Dies beinhaltet Titel wie: „Ressourcenbasierte Wirtschaft“ oder „Naturgesetz-Wirtschaft“. Obwohl diese Titel bestimmte vergangene Gegebenheiten zitieren und teilweise beliebig zu wählen sind, wird hier der Titel „Naturgesetz/Ressourcenbasierte Wirtschaft“ (NGRBW) benutzt, um dieses Konzept zu beschreiben, da er die genaueste semantische Grundlage bietet18. Eine Naturgesetz-/Ressourcenbasierte Wirtschaft wird wie folgt definiert: „Ein adaptives sozio-ökonomisches System, das aktiv - direkt aus den herrschenden wissenschaftlichen Gesetzen der Natur - abgeleitet wird.“ Allgemein gesagt ist die Beobachtung, dass wir - unter Zuhilfenahme von soziologisch gezielten Forschungen und getesteten Erkenntnissen in Wissenschaft und Technik - nun in der Lage sind, logisch bestimmte gesellschaftliche Methoden zu erreichen, die menschliche Bedürfnisse viel effektiver decken können. Wir sind nun in der Lage, die Volksgesundheit drastisch zu verbessern und unseren Lebensraum besser zu erhalten. Weiterhin können wir viele gesellschaftliche Probleme, an denen 15

Bitte schau dir das Glossar - Anhang A für weitere Ausführungen dieses Begriffes an. Weitere Erläuterungen in Teil III. 16 http://www.globalredesigninstitute.org 17 Weitere Erläuterungen zum Thema „Regierung“ in Teil III 18 Der Begriff „Ressourcenbasierte Wirtschaft“ kann wörtlich interpretiert werden als „eine Wirtschaft, die auf Ressourcen basiert“. Das hat in der Vergangenheit zu Verwirrung geführt, da man argumentieren könnte, alle „Ökonomien“, „basierten“ per Definition auf „Ressourcen“. Der Begriff hat ebenfalls starke Assoziationen zu der Organisation „The Venus Project“, die beansprucht den Begriff und die Idee erfunden zu haben und auch versucht hat diesen Begriff zu rechtlich zu schützen (http://tdr.uspto.gov/search.action?sn=77829193 ). Der Begriff „Naturgesetz/Ressourcenbasierte-Wirtschaft“ wird als vollständiger angesehen, nicht nur um assoziative Verwirrung zu vermeiden, sondern ebenfalls wegen der semantischen Genauigkeit des „NGRBW“ Begriffes selbst, da deutlicher auf die physischen Gesetze der Natur und deren Prozesse Bezug genommen wird, nicht nur auf planetare Ressourcen.

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wir heutzutage leiden und die aufgrund ihrer weiten Verbreitung leider als „unveränderbar“ angenommen werden, strategisch reduzieren oder sogar verhindern. Seit der Anerkennung der Wissenschaft ist diese grundlegende Schlussfolgerung im Prinzip nichts Neues und viele namhafte Individuen und Organisationen - sowohl in der Vergangenheit als auch heute - haben zu einer wissenschaftlichen Neuorientierung der Gesellschaft auf der einen oder anderen Ebene hingewiesen. Zum Beispiel: Technocracy Inc., R Buckminster Fuller, Thorstein Veblen, Jacque Fresco, Carl Sagan, H.G. Wells, The Singularity Institute und viele weitere. Gedankengang Gleichermaßen haben solche Persönlichkeiten oder Gruppen versucht, damals aktuelle technologische Anwendungen zu schaffen. Zudem wurde daran gearbeitet, aktuelle Möglichkeiten im Sinne dieses Gedankengangs anzuwenden, um neue Effizienz und Problemlösungen zu ermöglichen, wie beispielsweise Jacque Frescos „Stadtsysteme“19 oder R. Buckminster Fullers „Dymaxion Haus“20. Doch so wichtig diese angewandten Ingenieurswissenschaften auch sind, ist es wichtig sich in Erinnerung zu rufen, dass all diese spezifischen technologischen Anwendungen nur vergänglich sein können, wenn die Evolution von wissenschaftlichem Fortschritt und dessen technologischen Anwendungen in Betracht gezogen wird. Das macht alle aktuellen Anwendungen von Technologie mit der Zeit obsolet. Deshalb ist das, was übrig bleiben kann, nur ein Gedankengang, der diesen wissenschaftlichen Prinzipien zu Grunde liegt. TZM ist demnach diesem Gedankengang ergeben - keinen Persönlichkeiten, Institutionen oder temporären technologischen Fortschritten. Anstatt einer Person oder einem statischen Plan zu folgen, folgt TZM dieser selbst-generierenden Prämisse der Erkenntnisse. TZM handelt demnach in einer dezentralen holographisch spiegelnden Weise. Dieser Gedankengang ist dabei der Einfluss für Handlungen. Vom Aberglauben zur Wissenschaft Ein erwähnenswertes Muster ist, wie die Evolution menschlichen Wissens über uns selbst und unseren Lebensraum fortschreitet; weg von alten Ideen und Ansichten, die aufgrund von Schema-ändernden Informationen nicht länger wissenschaftlich gestützt werden können. Ein Stichwort, das man hier erwähnen sollte, ist der Aberglaube, welcher in vielen Fällen als ein Glaube gesehen werden kann und früher durch Erfahrung/Wahrnehmung unterstützt wurde, aber nun aufgrund von widersprüchlichen Daten nicht mehr tragbar ist.

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Jacque Fresco, The Best That Money Can't Buy, Global Cybervisions, 2002, Kapitel 15 http://en.wikipedia.org/wiki/Dymaxion_house

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Zum Beispiel erscheinen - aufgrund des rapiden Wachstums an Informationen und allgemeiner Bildung21 - dem Großteil der Menschen im Westen traditionelle religiöse Denkweisen als unplausibel. Jedoch können die Ursprünge von Religionen zu Zeiten zurückverfolgt werden, in denen die Menschen die Genauigkeit und Integrität solch eines Glaubens - durch ihr begrenztes Wissen über ihre Umgebung - rechtfertigen konnten. Dieses Muster zeichnet sich in allen Erkenntnisbereichen ab, inklusive unseres „akademischen Systems“. Sogar vermeintliche „wissenschaftliche“ Schlussfolgerungen können durch das Aufkommen von neuen Informationen und Tests oft nicht mehr als haltbar angesehen werden22. Dennoch werden sie für gewöhnlich - lediglich durch ihre Integration in die kulturelle Tradition - verteidigt. Solche „etablierten Institutionen“ neigen entweder aufgrund von Ego, Macht, Einkommen (Marktanteile) oder allgemeiner psychologischer Bequemlichkeit oft dazu, sich selbst zu erhalten. Dieses Problem ist in vielerlei Hinsicht der Hauptgrund für unsere gesellschaftliche Paralyse23. Demnach ist es sehr wichtig, dieses Muster des Übergangs zu erkennen und zu verstehen sowie offen gegenüber neuen Denkansätzen zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass man sich von dem Konzept der „etablierten Institutionen“ - die kulturell darauf programmiert worden sind sich selbst zu erhalten, anstatt sich weiter zu entwickeln und zu ändern - verabschieden sollte. Von Tradition zur Emergenz Dieser andauernde Zusammenstoß zwischen unseren kulturellen Traditionen und unseren stetig wachsenden Archiven von neu aufkommendem Wissen ist im Kern das, was den „Zeitgeist“ ausmacht. Ein Rückblick auf die Geschichte zeigt einen langsamen Trend, weg von abergläubischen kulturellen Traditionen und Annahmen über die Realität, hin zu der Beachtung von unserem neu erkannten Bezugspunkt der aufkommenden wissenschaftlichen Kausalität. Das ist, was die Zeitgeist-Bewegung im weitesten philosophischen Rahmen repräsentiert: Eine Bewegung des kulturellen Zeitgeists in Richtung neuer, nachprüfbarer und besser optimierter Erkenntnisse und Anwendungen.

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Die gegensätzliche Beziehung zwischen Bildung/Wissen und Aberglauben ist deutlich. Laut des UNO Berichts für menschliche Entwicklung in arabischen Ländern hatten weniger als 2% der Araber Zugang zum Internet. Araber repräsentieren 5% der Weltbevölkerung, produzieren jedoch nur 1% der Bücher in der Welt, von denen die meisten religiöse Texte sind. In den Worten von Sam Harris: „Spanien übersetzt jährlich mehr Bücher ins spanische als die gesamte arabische Welt seit dem 9. Jahrhundert ins Arabische übersetzt hat“. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das Wachstum des islamischen Glaubens in arabischen Ländern durch den relativen Mangel an Informationen von außen hervorgerufen wurde. 22 Der Nobelpreis für „Lobotomie“ wurde dem portugiesischen Neurologen Egas Moniz 1949 verliehen. Heute wird es als barbarisches, uneffektives Verfahren angesehen. (http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=4794007) 23 Mit der Zeit sorgen die finanziellen Mittel, die ein Unternehmen - auch vermeintliche non-Profit-Organisation zum Überleben benötigt, für einen Zwiespalt zwischen dem verkauften Produkt oder der Dienstleistung des Unternehmens und dessen tatsächlicher Nützlichkeit oder Durchführbarkeit. Angesichts des technologischen Fortschritts ist das Überflüssigwerden eines/r bestimmten Produkts/Dienstleistung - wodurch oft das produzierende Unternehmen überflüssig wird - unausweichlich. Die Konsequenz ist eine dauerhafte Unterdrückung von neuen Ideen/Erfindungen, die diese „etablierten Institutionen“ in Unruhe bringen oder verdrängen würden, wodurch Einkommen verloren gehen würde. Ein kurzer Blick auf die heutigen technologischen Möglichkeiten wirft die Frage auf, warum diese Verbesserungen nicht unverzüglich angewandt werden. Dies zeigt die paralysierende Natur von auf Einkommen angewiesenen Institutionen deutlich.

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Auch wenn wir sicherlich Zeuge von gewaltigen und sich beschleunigenden Veränderungen in verschiedenen menschlichen Gebieten und Methoden sind - wie beispielsweise unsere riesigen materiellen Technologien - scheint es, als wäre unser Gesellschaftssystem weit zurück geblieben. Politische Ideologien, Marktwirtschaft, Arbeit für Einkommen, andauernde Ungleichheit, Nationalstaaten, rechtliche Annahmen und viele weitere Beispiele unserer aktuellen Gesellschaftsordnung werden weiterhin als Normalität von der heutigen Kultur akzeptiert. Als Begründung für deren Wert oder empirische Standhaftigkeit kann nicht mehr angeführt werden als deren Dauer der Existenz. In diesem Kontext findet TZM das am weitesten umfassende Leitbild: Die Veränderung des Gesellschaftssystems. Um es noch einmal zu betonen: Es gibt heute viele problemlösende technische Möglichkeiten für persönlichen und gesellschaftlichen Fortschritt, welche unbemerkt bleiben oder falsch verstanden werden24. Das Beenden der Kriege, die Auflösung der Armut, die Erschaffung von noch nie zuvor gesehenem materiellem Überfluss, der menschliche Bedürfnisse deckt, die Eliminierung von Verbrechen im heutigen Ausmaß, die Förderung von wirklicher persönlicher Freiheit durch die Abschaffung von sinnloser, monotoner Arbeit und die Lösung für viele ökologische Gefahren inklusive Krankheiten, sind nur einige der uns zur Verfügung stehenden, berechneten Möglichkeiten, wenn wir unsere technische Realität in Betracht ziehen. Wie schon erwähnt, werden diese Möglichkeiten nicht nur kaum wahrgenommen, ihre Implementierung wird zusätzlich durch unsere Gesellschaftsordnung behindert. Das liegt daran, dass solch eine problemlösende Effizienz und der dadurch ermöglichte Wohlstand im direkten Gegensatz zu den grundliegenden Mechanismen unseres Gesellschaftssystems wirkt.25 Bis wir die gesellschaftlichen Traditionen und die daraus resultierenden Werte der Gesellschaft überdacht und auf heutige Erkenntnisse angepasst haben; bis der Großteil der Bevölkerung den wesentlichen, zugrunde liegenden Gedankengang versteht, der benötigt wird, um menschliche Nachhaltigkeit und gute öffentliche Gesundheit - abgeleitet von der sorgfältigen Anwendung objektiver wissenschaftlicher Untersuchung und Prüfung - zu gewährleisten; bis wir viele der Altlasten von vorherigen, falschen Annahmen, Aberglauben, trennenden Loyalitäten und anderen gesellschaftlich unnachhaltigen, konfliktfördernden, kulturellen Hürden überwinden - werden all diese lebensverbessernden und problemlösenden Möglichkeiten, die wir zur Hand haben, zum größten Teil ungenutzt bleiben. Die tatsächliche Revolution ist eine Revolution der Werte. Die Menschheit scheint bezüglich ihrer Funktion und demnach ihrer Werte, Jahrhunderte zurückliegen. Wenn wir Fortschritte machen, die sich auftürmenden Probleme in den Griff bekommen und den sich in vielerlei Hinsicht beschleunigenden Niedergang unserer Zivilisation umkehren wollen, müssen wir unsere Sichtweise von uns und unserer Welt ändern. Die zentrale Aufgabe der Zeitgeist-Bewegung ist daran zu arbeiten, einen Wertewandel ans Licht zu bringen, die Familie der Menschen durch die Tatsache vereinen, dass wir alle den selben, kleinen Planeten teilen und alle an exakt die 24

„ZeitNews“, eine Wissenschaft und Technologie Webseite mit Bezug zu TZM wird hier empfohlen. www.zeitnews.org 25 In Teil 2 mehr zu dem Thema.

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Überblick

selben - durch die wissenschaftliche Methode erkannten - natürlichen Gesetze gebunden sind. Diese Erkenntnis des gemeinsamen Nenners geht weiter als es in der Vergangenheit angenommen wurde. Die Symbiose der menschlichen Spezies und die synergetische Beziehung von unserem Platz in der physischen Welt bestätigt, dass wir nicht autonome, getrennte Einheiten in irgendeiner Weise sind. Wenn wir überleben und auf lange Sicht gedeihen wollen, muss ein neues gesellschaftliches Erwachen ein funktionierendes Gesellschaftsmodell aufzeigen, das durch diese innewohnende Logik erreicht wurde. Wir können uns anpassen oder wir können leiden. Es liegt an uns.

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Das wissenschaftliche Weltbild

Das wissenschaftliche Weltbild „Nahezu jeder systematische Fehler, der die Menschheit für tausende von Jahren getäuscht hat, beruhte auf praktischer Erfahrung. Horoskope, Beschwörungen, Orakel, Magie, Hexerei, die Heilkunde der Schamanen und Medizinmänner waren alle, aufgrund ihres - aus Sicht der Öffentlichkeit - vermeintlichen Erfolgs im Laufe der Jahrhunderte, vor dem Aufkommen der modernen Medizin, fest etabliert. Genau deshalb wurde die wissenschaftliche Methode entwickelt; um die Natur der Dinge mit mehr Sorgfalt, unter kontrollierten Bedingungen und mit strengeren Kriterien darzustellen, als es in der unkontrollierten Situation eines in der Praxis vorkommenden Problems der 26 Fall ist. „ - Michael Polanyi

In der Vergangenheit gewann man Erkenntnisse durch oberflächliche Beobachtungen, die lediglich durch unsere fünf Sinne verarbeitet wurden und „intuitiv“ durch die Rahmenbedingungen von Bildung und Werten in dieser Zeit gefiltert wurden. Seitdem fand eine Entwicklung statt, hin zu objektiven Messungen und selbst fortschreitenden Methoden der Analyse. Diese versuchen, mithilfe wiederholter experimenteller Beweise zu Schlussfolgerungen zu kommen (oder diese zu errechnen). Dabei wird Validität durch den Bezugspunkt der wissenschaftlichen Kausalität gesucht - eine Kausalität, die, wie es scheint, aus den physischen Eigenschaften besteht, die wir „Natur“ nennen. Die Naturgesetze unserer Welt existieren, ob wir sie anerkennen oder nicht. Diese dem Universum innewohnenden Regeln waren schon lange da bevor Menschen das Verständnis entwickeln konnten, sie zu erkennen. Obwohl man über die Genauigkeit unserer Interpretation dieser Gesetze zu jedem Zeitpunkt streiten kann, gibt es genug unterstützende Beweise dafür, dass wir tatsächlich durch feststehende Kräfte mit inhärenter, messbarer und vorhersehbarer Logik gebunden sind. Die enorme Entwicklung und Voraussagekraft, die in Mathematik, Physik und Biologie und in anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu sehen sind, zeigen, dass wir als Spezies langsam die Prozesse der Natur verstehen. Unsere wachsenden, erfinderischen Möglichkeiten die Prozesse der Natur zu emulieren, zu verstärken oder zu unterdrücken, beweist, dass wir Fortschritte im Verstehen derselben machen. Die heutige Welt mit einem Überfluss an materieller Technologie und lebensverändernden Erfindungen ist ein Zeichen für die Integrität des wissenschaftlichen Prozesses und wozu er fähig ist. Anders als in historisch zu verzeichnenden Traditionen, in denen bei den Menschen ein gewisser Stillstand der gehegten Ansichten bestand - wie es heute für gewöhnlich immer noch bei religiösen Dogmen der Fall ist - schließt die Anerkennung dieser „Naturgesetze“ Eigenschaften mit ein, die die angenommene „Beständigkeit“ dieser gehegten Ansichten nachhaltig hinterfragt. Wie später in diesem Kapitel im Abschnitt „Emergenz“ vertieft wird, ist Fakt, dass es einfach keine einzelne oder feststehende intellektuelle Schlussfolgerung bezüglich unserer Wahrnehmung und unseres Wissens geben kann. Mit Ausnahme - paradoxerweise - von diesem zugrunde liegenden Muster der Ungewissheit bezüglich solcher Änderungen und Anpassungen selbst. Das ist Teil von etwas, das man ein wissenschaftliches Weltbild nennen könnte. Es ist eine Sache, die Methoden der wissenschaftlichen Evaluierung für bestimmte 26

http://www.todayinsci.com/QuotationsCategories/SCat/ScientificMethod-Quotations.htm

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Das wissenschaftliche Weltbild

Interessen zu isolieren, um beispielsweise die strukturelle Integrität eines Hausdesigns zu bewerten und zu testen - und eine Andere, wenn die allgemeine Integrität solcher, in Naturgesetzen verankerten, kausalen Schlussfolgerungen und Validierungsmethoden für alle Aspekte unseres Lebens angewandt werden. Albert Einstein sagte einmal: „Je weiter die spirituelle Evolution der Menschheit fortschreitet, desto sicherer scheint mir, daß der Weg zu wahrer Religion nicht in der Angst vor dem Leben, nicht in der Angst vor dem Tod oder in blindem Vertrauen liegt, sondern in Streben nach rationalem Wissen. „27 Zyniker versuchen oft die Integrität der Wissenschaft zu reduzieren, indem sie diese lediglich als eine andere Form des „religiösen Glaubens“ deklarieren, ihre Genauigkeit als „kalt“ und „ohne Spiritualität“ herabwürdigen oder sogar die schlimmen Folgen angewandter Technologien hervorheben. Dafür wird oft das Beispiel der Erschaffung der Atombombe herangezogen, welche eigentlich eher ein Zeichen für eine Verwerfung menschlicher Werte ist, als eine der Ingenieurswissenschaften. Man kann die unglaublichen Möglichkeiten dieser Methode nicht ignorieren, welche der menschlichen Spezies das Verstehen und Nutzen der Realität ermöglicht hat. Keine andere „Ideologie“ kommt auch nur ansatzweise an die voraussagende Kraft und nützlichen Vorteile dieser Erkenntnismethode heran. Das heißt aber nicht, dass in der heutigen Kultur nicht immer noch aktive Ablehnung der Bedeutung dieser Methode weit verbreitet ist. Wenn es beispielsweise um theistischen Glauben geht, ist oft eine trennende Tendenz festzustellen, die versucht den Menschen über „bloße Mechaniken/Funktionsweisen“ der physischen Realität zu erheben. Die implizierte Annahme hierbei ist normalerweise, dass wir Menschen aus irgendwelchen Gründen „außergewöhnlich“ sind und das vielleicht Kräfte wie ein eingreifender Gott am Werk sind, der natürliche Gesetze nach Belieben aushebeln kann. Dadurch erscheinen diese weniger wichtig als beispielsweise der Gehorsam gegenüber Gottes Wünschen, usw. Leider gibt es immer noch ein enormes Maß an Arroganz bei Menschen, die ohne verifizierbare Beweise annehmen, dass Menschen getrennt von all den anderen Phänomen existieren. Zu behaupten, sie seien verbunden mit - oder sogar Produkt von - natürlichen, wissenschaftlichen Kräften, verstehen sie als Herabwürdigung menschliches Lebens. Mittlerweile gibt es auch eine Tendenz für etwas, dass man „übermagisches“28 Denken nennen könnte, welches als eine Art schizotype Persönlichkeitsstörung betrachtet werden könnte. Diese äußert sich in Fantasien und leichten Einbildungen, die falsche Annahmen über Kausalzusammenhänge der Welt verstärken, wobei nie wirklich die volle Genauigkeit der wissenschaftlichen Methode angewandt wird. 29 Wissenschaft erfordert Experimente und erneute Replizierbarkeit eines Ergebnisses, um als bestätigt zu gelten. Viele Überzeugungen augenscheinlich „gewöhnlicher“ 27

Zitiert und Übersetzt aus: All the Questions You Ever Wanted to Ask American Atheists, by Madalyn Murray O'Hair, Amer Atheist Press, 1986 28 Stanford University Behavioral Biology Professor, Dr. Robert Sapolsky ist der wohl Erwähnenswerteste mit seinem Begriff „Metamagical“. Seine Werke sind empfehlenswert http://benatlas.com/2009/12/robert-sapolsky-onmetamagical-schizotypal-thinking/ 29 Siehe Anhang B für eine Einführung zur wissenschaftlichen Methode

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Das wissenschaftliche Weltbild

Leute liegen heute weit außerhalb dieser Voraussetzung. Neben traditionellen Religionen wird das Konzept des „New Age“30 mit dieser Art des Aberglaubens in Verbindung gebracht. Auch wenn es extrem wichtig ist, dass wir uns als Gesellschaft im Allgemeinen der Ungewissheit bewusst sind und deshalb einen kreativen, offenen Kopf gegenüber allen Postulaten behalten sollten, kann die Bestätigung derselben nur durch messbare Konsistenz kommen und nicht durch Wunschdenken oder esoterische Faszination. Solche unbestätigten Ideen und Annahmen stehen oft in einem Bezugsrahmen, der durch „Glauben“31 abgesichert wird und nicht durch Rationalität. Weiterhin ist es schwer, den Wert von Glauben mit irgendjemandem zu diskutieren, da die Regeln von „Glauben“ Argumentationen naturgemäß ablehnen. Das ist Teil des Dilemmas in dem sich unsere Gesellschaft heute befindet: Glauben wir einfach das, was uns durch Traditionen unserer Kultur beigebracht wurde oder hinterfragen wir diese Glaubenssysteme, gleichen sie mit der Realität ab und prüfen ob sie sich bewahrheiten? Wissenschaft befasst sich eindeutig mit Letzterem und hält nichts für heilig; immer bereit vorherige falsche Annahmen zu korrigieren, wenn neue Informationen gewonnen werden. Um solch eine Sichtweise der Ungewissheit - die extrem nützlich und produktiv ist - in das alltägliche Weltbild zu integrieren, erfordert es einer gänzlich anderen Sensibilität; Eine die Vulnerabilität sowie Ungewissheit verkörpert und nicht Gewissheit. In den Worten von Prof. Frank L.H. Wolfs (Fakultät für Physik und Astronomie, Rochester Universität, NY) dessen Einführung in die wissenschaftliche („Introduction to The Scientific Method“) Methode für weitere Recherche in Anhang B von diesem Text angeführt wird: „Es wird oft gesagt, dass in der Wissenschaft eine Theorie nie bewiesen werden kann, lediglich widerlegt. Es gibt immer die Möglichkeit einer neuen Beobachtung oder eines neuen Experiments, das einer langanhaltenden Theorie widerspricht. “32 Emergenz Im Kern der wissenschaftlichen Methode liegen Skepsis und Vulnerabilität. Wissenschaft möchte die genaueste Annäherung an die „Wahrheit“ erlangen, die sie finden kann. Wenn es etwas gibt, dass die Wissenschaft fest anerkennt, dann die Tatsache, dass alles was wir wissen mit der Zeit durch das Aufkommen neuer Informationen überarbeitet wird. Gleichermaßen erweisen sich Ansichten, die auf den ersten Blick als weit hergeholt, unmöglich oder sogar abergläubisch erscheinen, in der Zukunft als nützliche, anwendbare Erkenntnisse - sobald sie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden sind. Diese Tatsache stellt eine „Emergenz von Wissen“ dar - eine Emergenz der „Wahrheit“, wenn man so will. Ein kurzer Rückblick in die Geschichte zeigt sich immer verändernde Verhaltensweisen und Praktiken, die auf immer aktuellerem

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Der Begriff „New Age“ wird oft wie folgt definiert: „neues Zeitalter als Inbegriff eines von verschiedenen Forschungsrichtungen und alternativen Bewegungen vertretenen neuen integralen Weltbildes“ http://www.duden.de/rechtschreibung/New_Age 31 Carl Sagan war berühmt dafür, diese Definition mit dem Ausspruch „Glaube mit Beweisen“ zu bestätigen. 32 http://teacher.nsrl.rochester.edu:8080/phylabs/AppendixE/AppendixE.html

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Wissen aufbauen. Diese demütigende Erkenntnis ist ein Kernelement menschlichen Fortschritts. Symbiose Ein weiterer Punkt, der im Bezug auf das wissenschaftliche Weltbild wichtig zu erwähnen ist, bezieht sich auf die symbiotische Natur der Dinge. Heute von vielen oft als „gesunder Menschenverstand“ abgetan, beinhaltet diese Erkenntnis wichtige Enthüllungen bezüglich unseres Denkens über uns selbst, unsere Glaubenssysteme und unser Handeln. Der Begriff „symbiotisch“ wird typischerweise im Zusammenhang mit voneinander abhängigen biologischen Spezies verwendet.33 Bei uns wird der Sinn dieses Wortes jedoch ein wenig weiter gefasst. Er bezieht sich auf die Abhängigkeit von Allem voneinander. Obwohl frühere intuitive Ansichten von natürlichen Phänomenen beispielsweise eines Baumes - als unabhängige Einheit durch die Illusion der Trennung angesehen wurden, ist es eine Tatsache, dass das Leben des Baumes vollständig von „externen Einflussgrößen“ für seine Entstehung und Existenz abhängig ist.34 Das Wasser, Sonnenlicht, Nährstoffe und andere interaktive „externe“ Eigenschaften, die benötigt werden, um die Entwicklung des Baums zu ermöglichen, sind ein Beispiel symbiotischer Beziehungen. Das Ausmaß dieser Symbiose wurde in letzter Zeit immer deutlicher. Je mehr wir über die Mechanismen unseres Universums lernen, umso unabdingbarer erscheint diese Symbiose. Das beste Konzept, um diese Sichtweise zu verdeutlichen, ist die eines „Systems“.35 Der Begriff „Baum“ ist in Wirklichkeit eine Bezugnahme auf ein wahrgenommenes System. Die „Wurzel“, „Stumpf“, „Äste“, „Blätter“ und weitere Aspekte dieses Baumes könnten „untergeordnete-Systeme" genannt werden. Der Baum selbst ist jedoch auch ein untergeordnetes System innerhalb eines „Waldes“, der wiederum ein System innerhalb eines größeren umfassenderen Phänomens wie das eines „Ökosystems“ ist. Solche Abgrenzungen scheinen für viele trivial zu sein. Tatsache ist jedoch, dass die menschliche Kultur einen großen Fehler macht, indem sie das Ausmaß des „Erd-Systems“ und die Wichtigkeit von jedem untergeordneten System nicht respektiert. Die Einteilung von Systemen in Kategorien (engl. categorical systems36) kann hier benutzt werden, um alle großen oder kleinen Systeme zu beschreiben. Letztendlich sind solche Sprachbezeichnungen aber willkürlich. Diese wahrgenommenen Systeme und die Worte werden lediglich zweckmäßig referenziert, um zu 33

http://www.enzyklo.de/Begriff/Symbiose Der Begriff „Extern“ wird in diesem Kontext als relativ zu einem wahrgenommenen Objekt benutzt. Der umfassendere Punkt ist hier, dass es so etwas wie „extern“ oder „intern“ im Kontext größerer Systeme nicht gibt. 35 Der Begriff „System“ wird wie folgt definiert: Der Begriff System bezeichnet allgemein eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen bzw. miteinander verbunden sind und in einer Weise wechselwirken, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können. (http://de.wikipedia.org/wiki/System ) Es ist zu betonen, dass die Wichtigkeit des Konzepts eines „Systems“ oder der „Systemtheorie“ in diesem Text öfter vorkommen wird, um zu ermitteln welcher Bezugsrahmen menschliche Nachhaltigkeit in unserem Lebensraum wirklich unterstützt. 36 Dieser Begriff ist eine Erweiterung des gebräuchlichen „kategorischen Denkens“, welches eine Denkform ist, bei der Menschen oder Dinge bestimmten Kategorien zugeordnet werden. Diese werden dann genutzt, als würden sie etwas in der realen Welt darstellen. 34

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kommunizieren. Tatsache ist, dass es nur ein mögliches System geben kann, welches durch die Naturgesetze organisiert ist. Das ist das Einzige auf das man sich beziehen kann, da alle Systeme, die wir wahrnehmen und kategorisieren nur UnterSysteme sein können. Wir können ganz einfach kein wirklich geschlossenes System finden. Selbst das „Erd-System“, welches intuitiv autonom erscheint, da die Erde im leeren Raum schwebt, ist in totaler Abhängigkeit von der Sonne, dem Mond und wahrscheinlich mehreren symbiotischen Faktoren, deren Eigenschaften wir noch nicht einmal vollständig verstehen. In anderen Worten: Wenn wir die Interaktionen betrachten, die diese wahrgenommenen „eingeordneten Systeme“ verbinden, finden wir eine Verbindung von Allem. Auf gesellschaftlicher Ebene ist das Verständnis dieser SystemInteraktion das Fundament für eine der nützlichsten Perspektiven für wahre menschliche Nachhaltigkeit.37 Der Mensch, genauso wie der Baum oder die Erde, erscheint intuitiv als separat und unabhängig. Jedoch könnten wir, beispielweise ohne Sauerstoff zum Atmen, nicht überleben. Das bedeutet, dass das menschliche System Interaktion mit einem Atmosphären-System voraussetzt also einem System für Sauerstoffproduktion. Da der Prozess der Photosynthese für einen Großteil des Sauerstoffs in der Luft verantwortlich ist, ist es für uns von Vorteil zu wissen, was dieses System beeinflusst und wie wir unsere gesellschaftlichen Praktiken in Einklang mit diesem System bringen können. Wenn wir beispielsweise Zeugen von der Verschmutzung der Ozeane oder der rasanten Abholzung der Erde werden, vergessen wir oft, wie wichtig solche Aspekte für die Integrität des menschlichen Systems sind. Aufgrund unseres völlig falschen Verständnisses dieser symbiotischen „Ursache und Wirkung“-Kausalkette - die alle „eingeordneten Systeme“ miteinander verbindet - gibt es so viele Beispiele für ökologische Ungleichgewichte, die durch unsere Spezies fortgeführt werden. Bände könnten zu diesem Thema geschrieben werden. Der Fehler, diese „Symbiose“ anzuerkennen, ist ein grundlegendes Problem. Sobald dieses Konzept der interagierenden Systeme38 völlig verstanden wurde, werden - rückblickend in der Zukunft - viele unserer heutzutage gewöhnlichen Praktiken als grob ignorant und gefährlich angesehen werden. Nachhaltige Glaubenssysteme Das bringt uns auf die Ebene von Gedanken und Erkenntnissen selbst. Wie zuvor erwähnt, werden in der Sprache Elemente unserer Welt isoliert und organisiert, um sie zu verstehen. Sprache selbst ist ein System, das auf „eingeordneten Abgrenzungen“ basiert, die wir mit der von uns wahrgenommenen Realität assoziieren. So wichtig solche Identifikationsmechanismen und Organisationsmittel für das menschliche Gehirn sind, implizieren sie auch eine nicht vorhandene Trennung. Auf dieser Grundlage ist es einfach zu verstehen, warum wir es so gewohnt sind, in trennenden Weisen zu denken und zu handeln und warum die Geschichte der menschlichen Gesellschaft eine Geschichte von Ungleichgewicht und Konflikt war.39 37

Mehr dazu in Teil 3 Siehe Anhang A, Glossar 39 Die neolithische Revolution ist ein erwähnenswerter Zeitpunkt dramatischen Wandels der Zivilisation in gesellschaftlicher Funktionsweise und menschlichen Beziehungen. Diese hat sich von natürlichen Prozessen denen man untergeordnet war - wie der Nahrungssuche und dem Jagen - hin zu umfassenden Möglichkeiten 38

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Das wissenschaftliche Weltbild

Auf dieser Ebene kommen physische Systeme - die wir besprochen haben - in Verbindung mit Glaubens-/Gedanken-Systemen.40 Obwohl die Idee der „Nachhaltigkeit“ heutzutage oft mit technischen Prozessen, ÖkoTheorie und Ingenieurswesen zu tun hat, vergessen wir oft, dass unsere Werte und Ideen all diesen Anwendungen vorausgehen. Demnach beginnt wahre Nachhaltigkeit mit unseren Werten und Glaubenssystemen. Wir benötigen eine kulturelle Ausrichtung, die nachhaltig ist, - wir benötigen nachhaltige Werte und Glaubenssysteme. Dieses Bewusstsein kann nur aus einer fundierten Anerkennung der Naturgesetze kommen, an die wir gebunden sind. Können wir die Integrität eines Glaubenssystems messen? Ja. Wir können es messen, indem wir schauen wie dessen Prinzipien sich mit der wissenschaftlichen Kausalität decken, die wir durch Feedback erlangen. Wenn wir erkennen, dass die Folgen verschiedener Glaubenssysteme, die ein gleiches Ziel verfolgen41, gemessen werden können, ist es möglich diese Systeme zu bewerten und miteinander zu vergleichen. Wie später noch detaillierter ausgeführt wird, findet in diesem Text der wichtigste Vergleich von Denksystemen zwischen einer „monetären-Marktwirtschaft“ und der zuvor erwähnten „Naturgesetz/Ressourcen-basierten Wirtschaft“ statt. Im Kern dieser Systeme steht im Wesentlichen ein Konflikt zwischen dem Denken über Kausalität und Möglichkeiten. Der Leser ist dazu angehalten hier objektive Urteile darüber zu fällen, wie gut die jeweilige Perspektive tatsächlich gemeinsame menschliche Ziele erreicht. Vor diesem Hintergrund und im Zusammenhang dieses Kapitels, speziell die Punkte über Emergenz und Symbiose, könnte man verallgemeinernd sagen, dass jedes Glaubenssystem, das a) keine integrierte Möglichkeit bietet das gesamte Denksystem aufgrund von neuen Informationen zu ändern oder sogar komplett zu überholen; und b) jedes Glaubenssystem, welches Isolation und Trennung unterstützt oder die Integrität eines Segments oder einer Gruppe über eine Andere stellt, ein unnachhaltiges Glaubenssystem ist. Eine wissenschaftliche Weltansicht zu haben, bedeutet als Individuum und Zivilisation willig und fähig zu sein, neue Erkenntnisse und Methoden anzuerkennen, die unsere Probleme besser lösen und unser Wohlergehen erweitern. Diese entwickelt, die Landwirtschaft für Nahrung zu nutzen und Werkzeuge/Maschinen zum Zwecke der Arbeitserleichterung zu erschaffen. Man kann sagen, dass die Menschheit nicht erwachsen genug war, diese Fähigkeiten zu kontrollieren und die Fortführung von Angst und Knappheit führte zum Horten, Privatisierung, National-„Gangs“ und andere trennende Tendenzen für eine Gruppen-Selbsterhaltung auf mehreren Ebenen. 40 Um philosophischer Klarheit gerecht zu werden, könnte man sagen, dass alle Resultate menschlicher Wahrnehmung Projektionen sind - sogar die Naturgesetze selbst. Das ändert jedoch nicht das Maß des Einflusses und Verständnisses, welches wir durch die Methodik der Wissenschaft erlangt haben. 41 Die Ansicht eines „gemeinsamen Ziels“ oder „gemeinsamen Nenners“ wird sich in diesem Text wiederholen und beschreibt ein wichtiges Bewusstsein der gemeinsamen Bedürfnisse, Absichten und Folgen für den Menschen. Eine zentrale Prämisse von TZMs angestrebten Zielen ist, dass der Mensch mehr gleich als verschieden ist, da wir dieselben quantifizierbaren Bedürfnisse und Reaktionen teilen. In vielerlei Hinsicht ist dies die vereinigende Eigenschaft, die das beschreibt was man „menschliche Natur“ nennt. Wie später in weiteren Kapiteln beschrieben wird, hat der Mensch tatsächlich vorhersehbare gemeinsame psychologische und körperliche Reaktionen auf positive und negative Einflüsse. Eine intelligente, menschliche Organisation einer Gesellschaft bezieht diese Aspekte ein, um öffentliche Gesundheit zu gewährleisten - etwas, dass unser heutiges monetäres-Markt-System nicht macht.

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Das wissenschaftliche Weltbild

Weltansicht spiegelt wahrscheinlich den größten Wandel in der Geschichte bezüglich menschlichen Verständnisses wieder. Jeder moderne - für uns selbstverständliche Nutzen, ist das Resultat dieser Methode, ob wir dies anerkennen oder nicht. Denn diese inhärente, selbst-generierende, mechanistische Logik stellt sich als allgegenwärtig und universell auf alle Phänomene anwendbar heraus. Obwohl viele Menschen immer noch Kausalität den Göttern, Dämonen, Geistern und anderen nicht messbaren, auf Glauben basierten Konzepten zuschreiben, scheint ein neues Zeitalter der Vernunft am Horizont zu erscheinen. Bei diesem neuen Zeitalter der aufkommenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über uns selbst und unseren Lebensraum stellen wir das traditionelle etablierte System in Frage, welches wir von unseren weniger informierten Vorfahren geerbt haben. Die „technische“42 Orientierung der Wissenschaft beschränkt sich nicht länger auf lediglich technische Spielereien und Werkzeuge. Die wahre Botschaft dieser Weltansicht ist die grundlegende Philosophie nach der wir unsere Leben, Werte und gesellschaftliche Institutionen ausrichten sollten. Wie später weiter argumentiert wird, sind das Gesellschaftssystem, seine ökonomische Prämisse, seine rechtliche und politische Struktur, in dem Maße, indem sie fortgeführt werden, eine Angelegenheit des „Glaubens“ geworden. Wir argumentieren beispielsweise, dass das Geldsystem auf veralteten, zunehmend ineffizienten Annahmen basiert. Das ist nichts anderes als bei unseren Vorfahren, die fälschlicherweise dachten, die Erde sei flach, Dämonen brächten Krankheiten oder dass die Sternenbilder am Himmel feste statische zwei-dimensionale, wandtapetenähnliche Gebilde wären. Es gibt enorme Parallelen zwischen traditionellem religiösem Glauben und den etablierten kulturellen Institutionen, die wir heutzutage als nützlich und „normal“ ansehen. Heute würden die meisten Menschen die Kirche im Mittelalter - mit ihrer absoluten Macht über Europa - und deren Konzepte und Rituale als absurd oder sogar wahnsinnig ansehen. Genauso werden die späteren Generationen wahrscheinlich auf unsere etablierten Praktiken zurückblicken und dasselbe denken. *Siehe Anhang B für weitere Erklärungen bzgl. der wissenschaftlichen Methode

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Der Begriff „technisch“ wird in diesem Text häufig verwendet und steht quasi als Synonym für „wissenschaftlich“ um die kausale Natur aller existierenden Phänomene besser zu beschreiben - sogar menschliches Verhalten und Psychologie/Soziologie selbst. Eine zentrale Prämisse von TZMs angestrebten Zielen ist, dass Problemlösungen und das Aufkommen von Potenzialen eine „technische“ Evaluierung sind und dieser Ansatz - angewandt auf alle gesellschaftlichen Bereiche - liegt im Kern des angestrebten neuen Gesellschaftsmodells.

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Optimierte Lösungen

Optimierte Lösungen „Wir werden eine grundlegend neue Art des Denkens benötigen, wenn die Menschheit überleben soll. „43 - Albert Einstein

Eine zentrale Überlegung in TZMs Ansicht über einen Gesellschaftswandel zum Besseren hin, besteht im Verständnis von „Fortschritt“ selbst. Es scheint zwei grundlegende Sichtweisen zu geben, wenn es um persönlichen oder gesellschaftlichen Fortschritt geht: Manifestierendes Potenzial und Problemlösung. Potenzial & Problemlösung Manifestierendes Potenzial ist einfach die Verbesserung eines Umstands, welcher vorher nicht als problematisch angesehen wurde. Ein Beispiel wäre die Fähigkeit der Verbesserung menschlicher athletischer Leistung in einem bestimmten Gebiet durch gezieltes Training, Ernährung und präzisere Techniken und andere Mittel, welche vorher einfach nicht bekannt waren. Die Problemlösung andererseits, ist die Bewältigung eines heute anerkannten Problems, das negative Folgen oder Einschränkungen einer bestimmten Situation hat. Ein Beispiel hierfür wäre die Entdeckung einer medizinischen Lösung für eine lähmende Krankheit, so dass diese Krankheit nicht länger Schadenspotenzial birgt. Wenn man jedoch eine umfassendere Perspektive einnimmt, gibt es eine deutliche Überschneidung zwischen diesen zwei Ansichten, wenn die Natur von Wissensentwicklung in Betracht gezogen wird. Zum Beispiel kann durch eine „Verbesserung“ in der Vergangenheit ein vermeintlich normaler Zustand geschaffen werden, der irgendwann Teil eines „Problems“ wird. Dieses Problem bedarf - im Falle neuer Erkenntnisse bezüglich seiner Ineffizienz oder neuen Entwicklungen, die es im Vergleich rückständig erscheinen lassen würden - dann auch einer Lösung. Zum Beispiel hat der menschliche Transport über Luft, welcher in der Gesellschaft relativ neu ist, bei seiner Anwendung die Effizienz des Transports drastisch erhöht. Allerdings kann modernes Lufttransportwesen aufgrund etwaiger innewohnender Ineffizienz auch ein Problem darstellen, sobald man diese mit einer anderen besseren Methode44 vergleichen würde. Also ist Effizienz in diesem Sinne relativ, da - bei Einbeziehung von weiterentwickeltem Wissen - aus einem ursprünglich „besten“ Ansatz ein Minderwertiger werden kann. Diese scheinbare Abstraktion ist eine wichtige zu kommunizierende Tatsache, da jede einzelne als normal angesehene Praktik eine eingebaute unabdingbare Ineffizienz aufweist, sobald neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie aufkommen. Das ist die Natur des Wandels und wenn die Wissenschaftsgeschichte irgendetwas zeigt, dann, dass Wissen und dessen Anwendungen fortschreiten und sich generell verbessern.

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Übersetzt aus „Atomic Education Urged by Einstein“, New York Times, May 25th 1946 Ein erwähnenswertes Beispiel dieser neuen Transportechnologie ist „Maglev“ (magnetic levitation zu dt. Magnetschweben), welche weniger Energie verbraucht und erheblich schneller als kommerzielle Flüge ist http://www.et3.com/ 44

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Optimierte Lösungen

Also zurück zu den scheinbar getrennten Themen des manifestierenden Potenzials und der Problemlösung. Es kann nun abgeleitet werden, dass alle Problemlösungen tatsächlich aufkommende Potenziale sind und umgekehrt. Das bedeutet auch, dass die angewandten Mittel, die eine Gesellschaft für einen bestimmten Zweck benutzt, immer vergänglich sind. Ob es das Transportwesen, medizinische Prozesse, Energieerzeugung, das Gesellschaftssystem usw. sind. 45 Diese Praktiken sind alle Manifeste und Lösungen menschlicher Notwendigkeiten und Effizienzen - basierend auf dem Stand der Erkenntnis, welchen wir an diesem Punkt der Entwicklung haben. Hauptzweck und Hauptursache Für eine möglichst genaue Beurteilung von Handlungen müssen wir für eine Erfindung oder Problemlösung so nah wie möglich an den Hauptzweck (Manifest) oder die Hauptursache (Problem) gehen. Genauso wie Werkzeuge und Techniken für Potenziale nur in dem Maße anwendbar sind wie das Verständnis für dessen fundamentalen Zweck, so können Aktionen im Sinne einer Problemlösung nur so gut sein wie das Verständnis über die Hauptursache. Das erscheint offensichtlich, aber dieses Konzept ist in vielen Bereichen der Überlegungen in der Welt heute nicht vorhanden, besonders wenn es um die gesellschaftliche Themen geht. Anstatt also diesen Fokus zu setzen, liegen die meisten Aktionen für Problemlösungen in traditionellen Gewohnheiten, welche eigene Grenzen aufweisen. Ein einfaches Beispiel dafür ist die heutzutage angewandte Methode der Inhaftierung von Menschen für so genanntes „kriminelles Verhalten“. Für viele ist die Lösung für „offensive“ Formen des menschlichen Verhaltens die „Bestrafung“ und Entfernung des Individuums von der Gesellschaft. Das basiert auf einer Reihe von Annahmen, die Jahrtausende zurückliegen.46 Die Wissenschaft hinter menschlichem Verhalten für das Verständnis der Kausalzusammenhänge hat sich jedoch mit der Zeit geändert. Es ist nun allgemein bekannt, dass die meisten „Verbrechen“ nicht stattgefunden hätten, wenn grundlegende unterstützende Umweltbedingungen für den Menschen gegeben wären.47 Menschen in Gefängnisse zu stecken löst nichts in der Kausalkette des Problems. Es ist lediglich ein „Flickwerk“, welches lediglich temporär einige Auswirkungen des größeren Problems unterdrückt.48 Ein ähnliches - gleichermaßen technisch relevantes - Beispiel ist die Art und Weise, wie die meisten über die Lösungen für häufige inländische Probleme wie Verkehrsunfälle denken. Was ist die Lösung für die Situation, wenn der Fahrer einen Fehler macht und unachtsam die Spur wechselt, dadurch mit einem Fahrzeug zusammenstößt und einen Unfall verursacht? Sollten die Spuren durch Mauern getrennt sein? Sollten die Fahrschulen besser ausbilden? Sollte der Person der 45

Zur Wiederholung: Diese Tatsache wird durch den Begriff „Anwendungsmöglichkeiten“ beschrieben. Literaturempfehlung: Violence: Our Deadly Epidemic and Its Causes, Dr. James Gilligan, 1996 47 Die „Merva-Fowles“-Studie, die an der Universität von Utah in den 1990er Jahren durchgeführt wurde, fand starke Verbindungen zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Sie basierten die Forschungen auf 30 größeren Großstadtgebieten mit einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen. Sie fanden heraus, dass ein 1%iger Anstieg in Arbeitslosigkeit in einem 6.7%igen Anstieg in Morddelikten, einen 3.4%igen Anstieg in Gewaltverbrechen und einen 2.4%igen Anstieg in Eigentumsdelikten, resultierte. In der Zeit von 1990-1992 bedeutete dies: 1459 zusätzliche Morde; 62607 zusätzliche Gewaltverbrechen und 223500 zusätzliche Eigentumsdelikte. [Merva & Fowles, Effects of Diminished Economic Opportunities on Social Stress, Economic Policy Institute, 1992] 48 Siehe Anhang G, Ben McLeish Vorlesung: „Out of the Box: Prisons“ 46

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Führerschein entzogen werden, sodass sie nicht mehr fahren kann? Hier geht das Thema der „Hauptursache“ oft in einem engen Bezugsrahmen verloren, welcher für gewöhnlich von der Kultur als Lösung gesehen werden. Die Hauptursache des Unfalls kann nur teilweise die Frage der Fahrtüchtigkeit des Fahrers sein und eher eine Frage der fehlenden Integrität der benutzten Technologie/Infrastruktur. Warum? Weil menschliches Versagen historisch gesehen anerkannt und unabwendbar ist.49 Frühere Fahrzeuge hatten keine Fahrer- und Beifahrer-Airbags, welche heute selbstverständlich sind und einen Großteil der Verletzungen verhindern, die in der Vergangenheit passiert wären.50 Dieselbe Logik kann auch auf das System der Fahrzeug-Interaktionen angewandt werden. Neue technische Möglichkeiten sollten eine erhöhte Sicherheit gewährleisten, weil menschliches Versagen unvermeidlich ist. Genauso wie durch die Entwicklung des Wissens der Airbag Jahre zuvor entwickelt wurde, gibt es heutzutage Technologie, die automatisierte fahrerlose Fahrzeuge möglich macht. Diese erkennen nicht nur jedes nötige Element auf den Straßen, um die Funktionsweise zu gewährleisten, die Fahrzeuge können auch einander erkennen, wodurch Kollisionen nahezu unmöglich werden.51 Das ist der aktuelle Stand der Lösungen, wenn wir die Hauptursache und den Hauptzweck in seiner Gesamtheit betrachten. So fortschrittlich diese Lösung klingt - besonders im Anbetracht der 1.2 Millionen Menschen die unnötigerweise in Automobilunfällen pro Jahr sterben 52 - ist dieses Gedankenspiel noch immer nicht vollständig, wenn wir den Kontext der „Ziele“ weiterführen. Vielleicht gibt es weitere Ineffizienz in der Transportinfrastruktur, die in Betracht gezogen und überarbeitet werden müssen. Vielleicht hat zum Beispiel die Nutzung individueller Automobile - unabhängig von den Sicherheitsrisiken - andere innewohnende Probleme, die nur logisch gelöst werden können, wenn die Nutzung des Automobils selbst aufgegeben wird. Vielleicht sind bei einer immer mobileren Bevölkerung einer Stadt solche Transportfahrzeuge unnötigerweise hinderlich, langsam und allgemein ineffizient.53 Die praktischere Lösung ist in diesem Fall ein aufeinander abgestimmtes, integriertes Massen-Transit-System, welches Geschwindigkeit erhöht, Energiekosten reduziert, Ressourcen schont, Umweltverschmutzung vermeidet und weitere Probleme beseitigt. Diese Entwicklung gipfelt darin, dass das Automobil selbst zum Teil des aufkommenden „Problems“ wird. Wenn das Ziel einer Gesellschaft ist, das „Korrekte“ und demnach „Nachhaltige“ zu tun, Gefahren für Menschen und Lebensraum zu verringern, Effizienz zu erhöhen - dann entsteht eine dynamische, selbstgenerierende Logik bezüglich unserer technischen Möglichkeiten und Gestaltungsansätze. 49

http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/pmc1117770/ Eine von der NHTSA 1996 durchgeführte Studie zeigte, dass die Anzahl der Toten durch den Einsatz von Airbags um 11% reduziert werden konnte. http://www.nhtsa.gov/cars/rules/regrev/evaluate/808470.html 51 http://www.autoguide.com/auto-news/2011/04/google-engineer-claims-its-driverless-cars-could-save-a-millionlives-every-year.html 52 http://www.car-accidents.com/pages/stats.html 53 Ein langsamer genereller Wandel - sogar in der modernen kommerziellen Gesellschaft - von „Eigentum“ zu „Zugang“ findet heutzutage Zuspruch. http://gigaom.com/2011/11/10/airbnb-roadmap-2011/ 50

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Optimierte Lösungen

Unsere technische Realität Natürlich ist die Anwendung von diesen Problemlösungen nicht nur auf solch physikalische Beispiele beschränkt. Ist „Politik“ die Antwort für unsere gesellschaftlichen Sorgen? Werden durch die Natur von Politik Hauptursachen adressiert? Sind Geld und Marktwirtschaft die optimierten Methoden für nachhaltigen Fortschritt, Problemlösung und die Manifestierung von wirtschaftlichem Potenzial? Was hat der moderne Stand der Wissenschaft und Technik zu dem Verständnis von Ursache und Zweck auf gesellschaftlicher Ebene beizutragen? Wie in weiteren Kapiteln ausgeführt wird, erschaffen diese Erkenntnisse einen natürlichen, klaren Gedankengang im Sinne einer möglichen besseren Welt. Wir müssen einfach nur der Logik der wissenschaftlichen Methode folgen, um unser gemeinsames Ziel der menschlichen Nachhaltigkeit zu erfüllen. Die 1 Milliarde hungernden Menschen, die auf diesem Planeten, hungern nicht wegen einer unveränderbaren natürlichen Folge unserer Realität. Es gibt genug Nahrung für alle.54 Es ist die veraltete verdrehte Logik unseres Gesellschaftssystems, welches diese gesellschaftlichen Gräueltaten fortführt - sowie unzählige Weitere. Es ist wichtig aufzuzeigen das TZM als ultimatives Ziel nicht beabsichtigt, ein „Flickwerk“ zu fördern - was jedoch traurigerweise die meisten Aktivisten-Institutionen heutzutage machen.55 Wir möchten die weitgefasstesten, höchst effizienten, an natürliche Prozesse angepassten, zu diesem Zeitpunkt möglichen Lösungsansätze fördern, um unser aller Leben zu verbessern und gleichzeitig die Integrität unseres Lebensraums sicher zu stellen. Wir wollen, dass jeder diesen „Gedankengang“ klar versteht und eine Werte-Identifikation mit diesem entwickelt. Es gibt keine einzelne Lösung - nur das nahezu empirische Verständnis der Naturgesetze, welches an Lösungen und Zielen ankommt.

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Große internationale Organisationen haben statistisch gezeigt, dass es genug Nahrung für Jeden gibt und das Hungersnot nicht durch den Mangel an Ressourcen entsteht. [http://www.wfp.org/hunger/causes] Zusätzlich wären heutzutage mit Effizienzerhöhungen - die später in Teil 3 ausgeführt werden - die Möglichkeiten für totalen, weltweiten Nahrungsüberfluss mit höchstem Nährstoffgehalt gegeben. 55 Dieser Kommentar soll nicht die guten Absichten der sozialen Institutionen herabwürdigen, die durch das sozioökonomischen Modell gebunden sind. Jedoch - wie auch in Teil 2 weiter geschrieben wird - beschränkt das aktuelle Gesellschaftsmodell inhärent eine große Menge an möglichem Wohlstand/problemlösenden Möglichkeiten durch seine Mechanismen. Demnach verrichten Aktivisten und Wohltätigkeitsorganisationen, die an dieser Tatsache vorbeisehen, lediglich ein „Flickwerk“. Sie lösen diese Probleme nicht, da sie durch das Gesellschaftssystem selbst erzeugt werden. Ein gutes Beispiel sind Wohltätigkeitsorganisationen, die Nahrung für Arme bereitstellen wollen. Diese Organisationen adressieren oft nicht die Gründe, warum diese Menschen arm sind und demnach arbeiten sie nicht daran, die Hauptursache(n) zu beseitigen.

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Logik vs. Psychologie

Logik vs. Psychologie „Wir handeln nicht richtig, weil wir tugendhaft oder gütig sind, sondern wir sind es, weil wir richtig gehandelt haben.“56 - Aristoteles

Eine mächtige und dennoch häufig übersehene Konsequenz unserer Anfälligkeit gegenüber Umwelteinflüssen und uns an die existierende Kultur anzupassen, ist, dass gerade unsere Identität und Persönlichkeit häufig mit den Institutionen, Praktiken, Trends und entsprechend auch den Werten, in die wir hineingeboren werden und in denen wir leben, verbunden sind. Diese psychologische Anpassung und unabdingbare Vertrautheit schafft eine Komfortzone. Es kann schmerzhaft sein, diese nach einer langen Zeit zu sprengen - unabhängig davon wie fundiert die Daten sind, die das Gegenteil von dem was wir glauben belegen. In der Tat erscheint die überwiegende Mehrheit der Beschwerdepunkte gegen die Zeitgeist-Bewegung, insbesondere die Lösungen und Veränderungen betreffenden Punkte, durch schmale Bezugsrahmen und emotionale Vorurteile mehr als durch intellektuelle Beurteilung motiviert. Gewöhnliche Reaktionen dieser Art sind oft Kritiken einzelner Aussagen, um willkürliche Assoziationen hervorzurufen, welche dann abgelehnt werden, anstatt kritisch die tatsächliche Prämisse eines Arguments zu adressieren. Die häufigsten Argumente dieser Kategorie sind „Projektionen“57 und es wird sehr schnell klar, dass die Diskussionsgegner ihre psychologische Identität verteidigen, anstatt eine neue Perspektive objektiv zu betrachten.58 Gehirnblockade In einem klassischen Werk der Autoren Cohen und Nagel mit dem Titel „Einführung in Logik und die wissenschaftlichen Methode“ ist dies mit dem Verweis auf den Prozess logischer Einschätzung und deren Unabhängigkeit von der menschlichen Psychologie sehr gut dargelegt: „Die Beweislage ist kein temporäres Ereignis, sondern ein Verhältnis von Auswirkungen zwischen verschiedenen Klassen und Typen von Thesen. Natürlich ist Denken von Nöten, um diese Auswirkungen zu verstehen. Das macht die Physik jedoch nicht zu einer Unterkategorie der Psychologie. Die Erkenntnis, dass Logik nicht auf psychologische Phänomene beschränkt ist, wird uns helfen, zwischen Wissenschaft und Rhetorik zu unterscheiden. Wobei die Letztere als Kunst der Überzeugung oder der Argumentation angesehen werden kann, um so das Gefühl von Gewissheit hervorzurufen. Unsere emotionalen Standpunkte machen es sehr schwer für uns, neue bestimmte Thesen zu akzeptieren, unabhängig davon, wie 56

Will Durant, The Story of Philosophy: The Lives and Opinions of the World's Greatest Philosophers, 1926 Sigmund Freud war der Erste, der die Idee der psychologischen Projektion wie folgt definiert hat: „Ein psychologischer Verteidigungsmechanismus bei dem eine Person unterbewusst seine eigenen Eigenschaften, Gedanken und Gefühle ablehnt und sie dann auf die Umwelt, meistens Menschen, überträgt“. Der Kontext hier ist jedoch allgemeiner, wodurch die Sichtweise aufgezeigt werden soll, bei der man vermutet eine Idee zu verstehen, aufgrund von falschen oder oberflächlichen Verständnissen - häufig als Verteidigungsmaßnahme, um die Integrität einer Idee zu diskreditieren. 58 Der Begriff „Kognitive Krankheit“ ist eine passende Beschreibung für dieses Phänomen. Eine häufige Charakteristik davon ist der „Zirkelschluss“, bei dem ein Glaube lediglich durch den Bezug auf sich selbst gerechtfertigt wird. Wenn ein Gläubiger gefragt wird, warum er an Gott glaubt, ist eine häufige Antwort „mein Glaube“. Sie zu fragen warum man „Gläubig“ ist resultiert oft in einer Antwort wie: „ da Gott Gläubige belohnt“. Die Kausalität ist verworren und selbst-beziehend. 57

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Logik vs. Psychologie

stark die Beweise dies Befürworten. Da jeder Beweis auf dem Akzeptieren von bestimmten Annahmen als wahr basiert, kann für jemanden der ausreichend verbissen ist sie nicht zu glauben, keine Annahme als wahr bewiesen werden.“59 Der Begriff „Gehirnblockade“ (engl. mind lock) wurde von einigen Philosophen60 geprägt, um dieses Phänomen auszudrücken, welches wie folgt definiert wird: „Der Zustand bei dem die eigenen Ansichten in einem geschlossenen Argumentationskreis sich immer wieder auf sich selbst beziehen“. Scheinbar empirische Annahmen sichern und rahmen die eigene Weltansicht so ein, dass alles Widersprüchliche, oft sogar unterbewusst, von außen „blockiert“ werden kann. Diese Reaktion kann mit einem gewöhnlichen körperlichem Reflex verglichen werden, bei dem man versucht, sich vor einem auf einen zufliegenden Gegenstand zu schützen, nur das in diesem Fall der „Reflex“ benutzt wird, um seinen Glauben und nicht den Körper zu verteidigen. Sprüche wie „über den Tellerrand schauen“ sind oft gewöhnliche Aussagen in den Aktivistengemeinschaften, obwohl diese selten in unserer Denkweise angewandt werden. Dabei wird die Integrität unserer am meisten etablierten Institutionen nur selten hinterfragt. Sie werden öfter denn je als „gegeben“ und unveränderbar angesehen. Zum Beispiel ist in den meisten Demokratien der Welt ein „Präsident“ oder jemand Vergleichbares ein gewöhnlicher Fokus, wenn es um die Qualität der Regierung eines Landes geht. Ein Großteil der Aufmerksamkeit wird für solche Persönlichkeiten sowie deren Ansichten und Aktionen verwendet. Jedoch tritt selten jemand einen Schritt zurück und fragt sich: „Warum haben wir überhaupt einen Präsidenten?“ „Wie wird die Macht einer repräsentativen Persönlichkeit gerechtfertigt, in Anbetracht optimierter gesellschaftlicher Regierung?“ „Ist es kein Widerspruch, zu behaupten eine Gesellschaft sei demokratisch, wenn die Öffentlichkeit keinen wirklichen Einfluss auf die Handlungen der Präsidenten hat, sobald sie gewählt worden sind?“ Solche Fragen werden von vielen oft nicht in Betracht gezogen, da sie - wie schon erwähnt - sich ohne Hinterfragung an ihre Kultur anpassen und annehmen es ist „einfach so wie es ist“. Solche festen Ansichten sind nahezu immer ein Resultat kultureller Traditionen und - wie Cohen und Nagel aufzeigen - es ist sehr schwer neue, in Frage stellende Ideen zu kommunizieren „für jemanden der genügend verbissen ist, sie nicht zu glauben.“ Solche traditionellen Prämissen, die als empirisch angesehen werden, sind wahrscheinlich die Hauptursache für persönlichen und gesellschaftlichen Rückstand. Dieses Phänomen, zusammen mit einem Bildungssystem, welches dauerhaft solche etablierten Ansichten durch so genannte „akademische“ Institutionen verstärkt, besiegelt zusätzlich diese kulturelle Hemmung und verstärkt die Behinderung von relevanter Veränderung.61 59

Logic and The Scientific Method, Cohen and Nagel, Harcourt, 1934, p19 Literaturempfehlung: The Cancer Stage of Capitalism, John McMurtry, Pluto Press, 1999, Chapter 1 61 Diese Kritik bezieht sich nicht auf die Standard-Definition der „Akademik“, also „Eine Gemeinschaft von Schülern und Lehrern, die an höherer Bildung und Forschung interessiert sind“. Der Kontext hier ist die hemmende Funktion von „Disziplinen“, die sich nur zu oft zu einem Ego entwickeln, wobei Gegenläufige Daten ignoriert oder voreilig abgelehnt werden. Ein weiteres Risiko besteht in der Art des Denkens wobei eine „Theorie“ und „Tradition“ wichtiger werden als „Erfahrung“ und „Experimente“, wobei falsche Schlussfolgerungen fortgeführt werden. 60

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Logik vs. Psychologie

Auch wenn das Ausmaß dieser Tendenz viele Züge annimmt, gibt es zwei häufige argumentative Trugschlüsse, die es wert sind erwähnt zu werden, da sie dauerhaft angebracht werden, wenn es um die Anwendungsmöglichkeiten und den Gedankengang geht, den TZM voranträgt. Metaphorisch gesprochen stellen diese Strategien den so genannten „Wertekrieg“62 dar, der bewusst oder unbewusst von denen geführt wird, die ein emotionales/materielles Interesse daran haben das alles so bleibt wie es ist. Der „Prima facie“ - Trugschluss Der erste ist die „Prima facie“ Assoziation. Das bedeutet ganz einfach: „auf den ersten Blick“; „ohne Recherche“.63 Das ist bei Weitem die gängigste Form der Kritik. Ein Paradebeispiel ist die häufig angebrachte Annahme, dass die von TZM präsentierten Beobachtungen und Lösungen lediglich neu aufbereiteter „marxistischer Kommunismus“ seien. Lasst uns auf dieses Beispiel kurz eingehen. Wenn wir uns das „kommunistische Manifest“64 betrachten zeigen Marx und Engels bestimmte Beobachtungen hinsichtlich der Entwicklung der Gesellschaft, speziell den „Klassenkrieg“, dem Kapital innewohnende strukturelle Beziehungen, sowie die Logik einer gesellschaftlichen Ordnung, die sich durch eine „Revolution“ zu einem staatslosen, klassenlosen System wandeln würde. Zudem nennen sie eine Reihe von gesellschaftlichen Veränderungen, wie z.B. die „Zentralisierung der Kommunikationsund Transportmittel in der Hand des Staates“, „Gleiche Verpflichtung aller zur Arbeit“ und andere Einzelheiten. Marx erschafft in diesem Schema die Spieler „Bourgeoisie und das Proletariat“ welche in einem andauernden Kampf sind, wobei er Verachtung gegenüber der innewohnenden Ausnutzung zeigt, die, wie er behauptet, durch die Idee des „Privateigentums“ entstünde. Am Ende sei das letzte Ziel eine „staatslose und klassenlose Gesellschaft“. Oberflächlich betrachtet scheinen die Reformationen, die von TZMs Lösungen angestrebt werden die Attribute des „Marxismus“ widerzuspiegeln, wenn man die zugrunde liegenden Begründungen komplett ignoriert. Die Idee einer „klassenlosen“ Gesellschaft, „ohne ‚zeitlich unbegrenztes‘ Eigentum“ und die komplette Neudefinierung was den „Staat“ ausmacht, scheint oberflächlich eine Gemeinsamkeit zu zeigen. Insbesondere weil die westliche akademische Welt für gewöhnlich eine Dualität zwischen „Kommunismus“ und „Kapitalismus“ mit den vorher genannten Punkten als Hauptunterscheidungsmerkmale propagiert. Der Gedankengang jedoch, der diese scheinbar ähnliche Schlussfolgerung unterstützt, ist völlig anders.

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Literaturempfehlung: Value Wars: The Global Market Versus the Life Economy: Moral Philosophy and Humanity, John McMurtry, Pluto Press, 2002 63 http://de.wikipedia.org/wiki/Prima_facie 64 Von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 geschrieben wird dieser Text als das der ultimative ideologische Ausdruck von marxistischem Kommunismus beschrieben. Es wird gesagt, dass „Kommunismus“ die Verwirklichung von „Marxismus“ ist. Dieser ist online hier verfügbar: http://www.marxists.org/archive/marx/works/1848/communist-manifesto/index.htm

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Logik vs. Psychologie

TZMs befürworteter Bezugspunkt für die Entscheidungsfindung ist keine moralische Philosophie65. Wenn man die marxistische Philosophie bis an die Wurzel untersucht, basiert diese jedoch genau darauf. TZM ist nicht interessiert an einer poetischen, subjektiven und willkürlichen Idee einer „fairen Gesellschaft“, „garantierter Freiheit“ oder „dem Schaffen einer besseren Welt“ einfach weil es sich „richtig“, „menschlich“ oder „gut“ anhört. Ohne technische Rahmenbedingungen, die einen direkten physischen Bezug haben, birgt solch ein Moral-Relativismus auf lange Sicht keinerlei Zweck. TZM ist eher an wissenschaftlicher Anwendung interessiert, die für gesellschaftliche Nachhaltigkeit - sowohl physisch als auch kulturell - angewandt werden.66 Wie im späteren Verlauf genauer ausgeführt wird, ist die Anwendung der Methode der Wissenschaft nicht auf die „physische Welt“67 beschränkt und demnach liegen das Gesellschaftssystem, Infrastruktur, relevante Bildung und sogar das Verständnis menschlichen Erhaltens selbst innerhalb der wissenschaftlichen Kausalität. Gleichermaßen gibt es ein in die physische Welt eingebautes natürliches Feedback System, welches sich selbst ausdrückt und mit der Zeit zeigt, was „funktioniert" und was nicht,68 wodurch unsere bewusste Anpassung geleitet wird. Marxismus basiert in keinster Weise auf dieser „berechneten“ Weltansicht, auch wenn darin einige wissenschaftlich basierte Eigenschaften innewohnen. Beispielsweise war die marxistische Ansicht einer „klassenlosen Gesellschaft“ dazu gedacht, die aus dem Kapitalismus resultierende „Unmenschlichkeit“ für die arbeitende Klasse (oder das „Proletariat“) zu überwinden. TZMs unterstützter Gedankengang andererseits zitiert Fortschritte von in den Humanwissenschaften. Es sieht beispielsweise, als Ergebnis unserer natürlichen evolutionären Psychologie69, dass soziale Stratifikation des kapitalistischen/MarktModell tatsächlich eine indirekte Form der Gewalt ist. Es erzeugt eine unnötige Form menschlichen Leidens auf vielen Ebenen, die destabilisierend und durch die daraus resultierenden Folgen technisch unnachhaltig sind.

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Wie folgt definiert: „Philosophische Disziplin oder einzelne Lehre, die das sittliche Verhalten des Menschen zum Gegenstand hat; Sittenlehre, Moralphilosophie“ http://www.duden.de/rechtschreibung/Ethik 66 Das Argument, dass die Wissenschaft keine Philosophie ist, ist sicherlich offen für Interpretation und Semantik aber der Punkt hier ist die Idee von „richtig oder falsch“ und anderen „ethischen“ Begrifflichkeiten, die häufig in der Philosophie vorkommen. Im wissenschaftlichen Kontext haben diese jedoch eine gänzlich andere Bedeutung, da sie eher auf den Nutzen und ein Gleichgewicht achten, anstatt lediglich „Moralität“, wie sie klassisch definiert ist. In der Wissenschaft wird menschliches Verhalten am besten als inhärente Kausalität in der natürlichen Welt verstanden, um „angemessenes“ menschliches Verhalten mit einem bestimmten Zweck durch testen, erarbeiten von Rückschlüssen und logische Assoziationen zu rechtfertigen. Natürlich ist das, wie schon gesagt, auf der ein oder anderen Ebene mehrdeutig und wahrscheinlich der genauste Kontext der Philosophie im Bezug auf Wissenschaft als Vorgänger für Bestätigung durch Recherche und Experimente. 67 Der Begriff „physische Welt“ wird oft benutzt, um eine Grenze zwischen den „geistigen“ Prozessen des menschlichen Gehirns oder soziologischen Phänomenen und der physischen Umgebung, die außerhalb unserer Gedankenprozesse existiert, zu ziehen. In der Realität gibt es aber nichts außerhalb der „physischen Welt“, wie wir sie kennen, da es kein konkretes Beispiel gibt bei dem Kausalzusammenhänge einfach negiert werden. 68 Feedback von der Umwelt kann als „Korrekturmechanismus“ der Natur bezüglich unserer Entscheidungen verstanden werden. Ein einfaches Beispiel ist die industrielle Produktion von Chemikalien, die negative Auswirkungen haben, wenn sie in die Umwelt abgegeben werden, wodurch sich Inkompatibilitäten mit den lebensunterstützenden Mechanismen aufkommen - wie es mit FCKW der Fall war, weil dadurch die Ozonschicht beschädigt wurde. 69 Literaturempfehlung: The Spirit Level, Kate Pickett & Richard Wilkinson, Bloomsbury Press, 2011

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Logik vs. Psychologie

Ein weiteres Beispiel ist, dass TZMs Interesse darin besteht dem „zeitlich unbegrenzten“ Eigentum70 zu entwachsen und ein System des „geteilten Zugangs“ einzuführen. Das wird oft mit der marxistischen Idee der „Abschaffung von Privateigentum“ gleichgesetzt. Jedoch kann man allgemein sagen, dass die marxistische Logik sich auf das Bestehen des Privateigentums zur Fortführung der „Bourgeoisie“ und deren andauernde Ausbeutung des „Proletariats“ bezieht. In seinem Manifest heißt es: „Das entscheidende Merkmal des Kommunismus ist nicht die Abschaffung von Eigentum allgemein, sondern die Abschaffung des Eigentums der Bourgeoisie“. TZMs angeführte Logik jedoch bezieht sich auf die Tatsache, dass zeitlich unbegrenztes individuelles Eigentum von Gütern als gängige Methode ineffizient hinsichtlich der Umwelt, verschwenderisch und letztendlich unnachhaltig ist. Das wiederum unterstützt ein systematisch einschränkendes Verhalten und ein unnötiges Maß an Armut. Deshalb ist in Gesellschaften mit einer unausgewogenen Verteilung von Ressourcen Kriminalität häufiger vorzufinden. Solche „Prima facie“ Assoziationen kommen sehr häufig vor und man könnte hier Weitere anführen. Aber es würde zu weit führen in diesem Kapitel alle vermeintlichen Verbindungen zwischen Marxismus und TZMs vertretenen Gedankengang zu diskutieren.71

Der „Strohmann“-Trugschluss Der zweite argumentative Trugschluss bezieht sich auf die gewollte oder proji*zierte Fehlinterpretation einer Position, die für gewöhnlich als „Strohmann“72 bezeichnet wird. Wenn es um die Fehlinterpretation von TZM geht, wird diese ohne handfeste Beweise mittels herangetragenen Interpretationen getan, die keine Verbindung zu dem zentralen Streitpunkt haben. Beispielsweise ist es üblich, dass Menschen, wenn man die Organisation eines neuen Gesellschaftssystem diskutiert, ihre aktuellen Werte und Bedenken in das neue Modell proji*zieren ohne die enormen Veränderungen des Kontexts in Betracht zu ziehen, die solche Bedenken meist sofort aufheben würden. Eine häufige Strohmann-Projektion in diesem Zusammenhang ist, dass die Menschen angeblich keinen Anreiz mehr haben würden, irgendetwas zu tun, wenn die materielle Produktion direkt auf technologischen Anwendungen basieren würde und nicht auf dem System des Austausches, welches die Bezahlung von Arbeit erfordert. Demnach würde das Modell scheitern, da nichts geschaffen werden würde.

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[engl. universal property] Dieses Konzept wird in Teil 3 weiter ausgeführt aber es ist wichtig zu betonen, dass der „Zugang“ der durch das vorgeschlagene Gesellschaftssystem (NLRBE) nicht die rechtlichen Beziehungen, um die Nutzung von Gütern sicher zu stellen, ausschließt. Die Idee hinter der Reduzierung des aktuellen Eigentumssystems hin zu einem „geschütztem Zugang“, bei dem jemand z.B. eine Kamera von einem Verteilungszentrum erhält und von dann an den rechtlichen Status von Eigentum annimmt, ist nicht mit der kapitalistischen Ansicht von Eigentum verwechseln, da er dort als universeller Zweck angesehen wird und eine große Quelle von industrieller Ineffizienz und Ungleichgewicht ist. 71 Siehe Anhang D, häufige Gegenargumente 72 Die wahrscheinlich beste Beschreibung dafür ist sich einen Kampf vorzustellen bei dem der Gegner eine Vogelscheuche(Strohmann) hinstellt, diesen angreift und schlägt, und dann den Sieg beansprucht, während der echte Gegner noch unberührt steht.

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Logik vs. Psychologie

Diese Art von Argument hat keine bestätigte Aussagekraft im Rahmen der Sozialwissenschaften und ist eher eine intuitive Annahme, die aus dem aktuellen kulturellen Klima entsteht, bei dem das Wirtschaftssystem jeden Menschen in Arbeitsrollen zwingt, damit sie überleben können(Einkommen/Profit). Dabei bleiben oft persönliche Interessen oder gesellschaftlicher Nutzen unbeachtet und es entsteht eine psychologische Verzerrung der Motivation. In den Worten von Margaret Mead: „Wenn du genau hinsiehst, wirst du sehen, dass fast alles, was uns wirklich wichtig ist, alles was unser tiefstes Engagement für die Art und Weise wie das menschliche Leben gelebt und gepflegt werden sollte, von einer Form der Freiwilligkeit abhängt.“73 In einer 1992 durchgeführten Gallup-Umfrage wurde ermittelt, dass mehr als 50% der amerikanischen Erwachsenen (94 Millionen Amerikaner) ihre Zeit im Durchschnitt für 4,2 Stunden pro Woche für soziale Zwecke aufwendeten mit einer Gesamtsumme von 20.5 Milliarden Stunden pro Jahr.74 Es gab ebenso eine Studie dazu, dass monotone, stumpfsinnige Arbeit dazu führt, dass man eher traditionelle Belohnungen wie Geld anstrebt, wobei Geld keine Motivation ist, wenn es um Innovationen und Kreativität geht.75 In späteren Kapiteln wird die Idee der Anwendung von Mechanisierung für stumpfsinnige Arbeiten diskutiert, um Menschen zu befreien. Hierbei wird gezeigt, dass das Arbeit-fürEinkommen-System veraltet und hindernd ist, nicht nur für das Potenzial und die Effizienz der Industrie, sondern auch für menschliches Potenzial allgemein. Ein weiteres häufig gebrachtes Lehrbuch-Beispiel für einen „Strohmann“ ist die Behauptung, dass bei dem Übergang in ein neues Gesellschaftssystem, das Eigentum von Anderen gezwungenermaßen von einer „herrschenden Macht“ konfisziert werden müsste, wodurch Gewalt entstehen würde. Das ist eine Werteprojektion/Angst, die auf TZMs angeführte Logik ohne Gültigkeit angewandt wird. TZM sieht die Verwirklichung eines neuen sozioökonomischen Modells durch die Zustimmung der Bevölkerung. Die Grundlage für Einfluss auf die Bevölkerung sind die Erkenntnisse selbst und die „bio-sozialen Zwänge“, die durch das Scheitern des aktuellen Gesellschaftssystems entstehen. Das Konzept unterstützt keinen „diktatorischen“ Ansatz, da dieser nicht nur unmenschlich ist, sondern auch nicht funktionieren würde. Damit ein System wie die NGRBW funktionieren kann braucht es die Akzeptanz der Bevölkerung ohne den Zwang durch den Staat. Demnach ist es ein Problem von Recherche, Bildung und persönlicher Akzeptanz innerhalb der Gemeinschaft. Es ist sogar so, dass die Einzelheiten der gesellschaftlichen Interaktion und der Lifestyle innerhalb des neuen Systems eine Akzeptanz der Funktionsweise und Werte des Systems verlangen. Gleichermaßen und als letztes Beispiel eines „Strohmannes“ ist die Verwirrung darüber, wie der Übergang in ein neues System überhaupt geschehen kann. Tatsächlich ist es sogar so, dass Einige TZM allein auf dieser Grundlage ablehnen, da sie nicht verstehen wie so etwas überhaupt durchgeführt werden kann. Dieses 73

“Have you noticed...“, Vital Speeches of the Day, Robert Krikorian, 1985, p 301 Giving and Volunteering in the United States: Findings from a National Survey, Hodgkinson & Weitzman, 1992, p2 75 Literaturempfehlung: Drive: The Surprising Truth About What Motivates Us, Daniel Pink, Riverhead, 2011 74

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Logik vs. Psychologie

Argument ist im Kern dasselbe, als wenn ein kranker Mensch versucht eine Behandlung zu bekommen, aber nicht weiß wo er diese Behandlung bekommen kann, wann sie verfügbar wäre, oder welche Behandlung er/sie überhaupt benötigt. Lässt das fehlende Verständnis diesen Menschen aufhören zu suchen? Nein - nicht wenn er/sie gesund werden möchte. In Anbetracht der Lage auf unserem Planeten, muss die Menschheit weiter suchen und der Pfad wird letztendlich klar werden.76 „Prima Facie“ und „Strohmann“ Argumente sind das Fundament der meisten Einwände, die gegen TZM angebracht werden und in Anhang D - „häufige Gegenargumente“ können weitere Beispiele gefunden werden. Zu guter Letzt ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass der Kampf zwischen Logik und Psychologie der zentrale Konflikt ist, wenn es um gesellschaftliche Veränderung geht. Es gibt keinen Kontext der persönlicher und sensibler ist als die Organisation unserer Leben in einer Gesellschaft. Ein wichtiges Ziel von TZM ist es, Methoden zu finden, die die Öffentlichkeit über den Nutzen von diesem mechanistischen logischen Gedankengang aufklärt. Dadurch wird die Last der überholten psychologischen Komfortzonen überwunden, die keiner fortschrittlichen, lebensfähigen Wertrolle in der modernen Welt dienen.

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Mehr zum Thema Übergang in Teil IV

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Das Plädoyer für menschliche Einheit

Das Plädoyer für menschliche Einheit „Meine Heimat ist die Welt, und Gutes tun meine Religion.“ - Thomas Paine

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Eine wichtige Schlussfolgerung aus den TZM Vorschlägen ist, dass die Menschheit ihre Wirtschaft vereinen und daran arbeiten muss, sich der natürlichen Dynamik der physischen Welt anzupassen, als eine Spezies, die einen einzigen Lebensraum bewohnt - wenn wir Probleme beheben, Sicherheit sowie Effizienz erhöhen und unseren Wohlstand mehren wollen. Die wirtschaftliche Trennung, die wir heute beobachten, ist nicht nur eine Quelle für Konflikte, Destabilisierung und Ausbeutung, sondern diese Verhaltensweise selbst ist - rein wirtschaftlich gesehen - extrem ineffizient, wodurch unser gesellschaftliches Potenzial behindert wird.78 Die wettbewerbsbasierten Nationalstaaten können schlicht als natürlicher Auswuchs unserer kulturellen Evolution gedeutet werden, da, historisch gesehen, Ressourcenmangel und Krieg im Allgemeinen vorherrschten. Ebenso könnte die Menschheit es als sinnvoll ansehen, diese Vorgehensweisen aufzugeben, sobald wir verstehen, dass es letztendlich für uns alle als Gruppe von Vorteil ist. Wie hier ausgeführt wird, sind die Nachteile und Ineffizienz dieses aktuellen Modells wenn sie mit den möglichen Vorteilen und Lösungen verglichen werden - einfach inakzeptabel. Die Effizienz und Möglichkeiten des Überflusses, die durch das von TZM angestrebte sozioökonomische System ermöglicht werden, basieren zum Teil auf der koordinierten Zusammenarbeit von Menschen und auf der Idee Ressourcen intelligent miteinander zu teilen. Diese Möglichkeiten basieren nicht auf Einschränkungen und Kämpfen um die Ressourcen, wie wir es heute systembedingt tun. Die aus der technologisch fortgeschrittenen Kriegsführung, Umweltverschmutzung, Umweltdestabilisierung und weiteren Problemen resultierenden gesellschaftlichen Zwänge zeigen nicht nur einen logischen Weg zu wahrhaftig globaler Organisation, sie zeigen auch eine, aus der Vernunft begründete, Notwendigkeit. Die fremdenfeindliche, mafiaähnliche Mentalität, die dem Nationalstaat innewohnt - oft in Form von „Patriotismus“ - ist eine Quelle starker Destabilisierung und genereller Unmenschlichkeit und, um es noch einmal zu erwähnen, ganz zu schweigen von dem grundsätzlichen Verlust technischer Effizienz. Falsche Trennungen Wie in vorherigen Kapiteln erwähnt, liegt die Basis für unser Überleben auf dem Planeten und unsere Lebensqualität als Individuen in dem Verständnis der Naturgesetze und wie diese sich auf unsere Verwaltung der Wirtschaft beziehen. Diese Prämisse ist eine einfache Erkenntnis, bei der die physischen Naturgesetze für

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Rights of Man, Thomas Paine, 1791, p162 Ein Beispiel hierfür wäre eine patriotische wirtschaftliche Voreingenommenheit, die oft die Handlungen regionaler Industrien beeinflusst. In der physischen Realität gibt es technisch gesehen nur eine einzige Wirtschaft, wenn man mit den Ressourcen des Planeten Erde und den Naturgesetzen arbeitet. Beispielsweise erzeugt die Idee „Made in Amerika“, erzeugt sofort eine technische Ineffizienz, da ordentliche Güterherstellung auf mehreren Ebenen eine weltweite Angelegenheit ist, inklusive dem Nutzungsrecht des Wissens der Welt. Bewusst Arbeit und Nutzung/Förderung von Materialien auf die Grenzen eines Landes zu beschränken ist ökonomisch kontraproduktiv im wahrhaftigen Sinne des Wortes „Ökonomie“. 78

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Das Plädoyer für menschliche Einheit

wirtschaftliche Effizienz auf menschlicher Ebene, sowie auf der Ebene unseres Lebensraums betrachtet werden. Für eine Spezies ist es nur logisch, sich möglichst optimal den Bedingungen in ihrem heimischen Lebensraum anzupassen, auf den sie für das Überleben angewiesen ist. Jede andere Ausrichtung ist per Definition irrational und kann nur zu Problemen führen. Das Verständnis, dass die Erde ein symbiotisch/synergetisches „System“ ist, deren Ressourcenvorkommen sich nicht an nationale Grenzen hält, dient in Verbindung mit den nachweisbaren kausalen Naturgesetzen als logischer „Wegweiser“ für die Anpassung der Menschheit, um höhere gesellschaftliche Effektivität zu erreichen. So sehen wir, dass unser größerer Kontext als globale Gesellschaft nahezu alle traditionellen und kulturellen Trennungen überwindet, inklusive der Treue zu einer Nationalität, einem Unternehmen oder einer „politischen“ Tradition. Bei einer Wirtschaft, in der es darum geht, die Bedürfnisse der menschlichen Bevölkerung effizient zu decken und gleichzeitig die Nachhaltigkeit und den Wohlstand zu erhöhen, müssen sich unsere wirtschaftlichen Handlungen danach richten, sich dem größten natürlichen System anzupassen. Aus dieser Perspektive sind Nationalstaaten sicherlich falsche, willkürliche Trennungen, die durch kulturelle Traditionen fortgeführt werden und nicht auf Grund logischer, technische Effizienz. Werte Heute funktioniert die Gesellschaft auf vielen Ebenen durch menschlichen Wettbewerb: Nationalstaaten konkurrieren um Ressourcen; Unternehmer konkurrieren auf dem Markt um Marktanteile und Profit; und der einfache Arbeiter konkurriert um Arbeitsplätze, die einen Lohn erbringen und demnach um sein persönliches Überleben selbst. Unter der Oberfläche dieser konkurrenzbetonten gesellschaftlichen Ethik besteht eine Vernachlässigung des psychologischen Wohlergehens anderer und des gemeinsamen Lebensraums. Die Natur des Wettbewerbs besteht darin, einen persönlichen Vorteil vor anderen zu haben und demnach ist es natürlich, dass Trennung und Ausbeutung (von Menschen und Natur) grundlegende Eigenschaften unserer aktuellen gesellschaftlichen Ordnung sind. Nahezu alle so genannten „Korruptionen“, die wir heutzutage als „kriminell“ ansehen, basieren auf der gleichen wettbewerbsbasierten Mentalität, die angeblich zum „Fortschritt“ führen soll. Es ist also kein Wunder, dass bei diesen Rahmenbedingungen und der andauernden Kurzsichtigkeit einige weitere zerstörerische, oberflächliche, gesellschaftliche Trennungen immer noch vorherrschen - wie Rasse, Religion, Überzeugung, Klasse oder Voreingenommenheit gegenüber Fremden. Diese trennende Last aus früheren, angst-orientierten Zuständen unserer kulturellen Evolution hat heutzutage einfach keine sinnvolle Basis in der Realität mehr und hindert uns heute nur an Fortschritt, Sicherheit und Nachhaltigkeit. Wie später weiter ausgeführt wird, gibt es heutzutage Effizienz und Überfluss produzierende Methoden, welche die meisten menschlichen Armutsverhältnisse beheben, den allgemeinen Lebensstandard erhöhen und unsere Volksgesundheit und ökologische Nachhaltigkeit nahezu perfektionieren können. Diese Effizienz und diese Methoden werden aufgrund von etablierten gesellschaftlichen Traditionen, 36

Das Plädoyer für menschliche Einheit

inklusive der Idee der Nationalstaaten, nicht anerkannt. Tatsache ist, dass es technisch gesehen nur eine Rasse gibt - die menschliche Rasse79; es gibt nur einen grundlegenden Lebensraum - die Erde; und es gibt nur eine funktionierende Methode für sinnvolles Handeln - wissenschaftlich. Ursache und Einfluss Betrachten wir kurz die Ursache dieses konkurrenzbetonten und trennenden Modells betrachten. Ohne weit ins Detail zu gehen, ist es offensichtlich, dass die Evolution der menschlichen Gesellschaft eine Geschichte von Konflikt, Knappheit und Unausgeglichenheit ist. Auch wenn es Uneinigkeiten über die Gesellschaften gibt, die es vor der neolithischen Revolution80 gab, ist die Erde seitdem ein Kriegsschauplatz gewesen, bei dem Unzählige ihr Leben lassen mussten, und zwar aufgrund von Wettbewerb, ob materiell oder ideologisch.81 Dieses anerkannte Muster ist so allgegenwärtig, dass viele heutzutage die Tendenz für Konflikt und Dominanz als einen festen Bestandteil der menschlichen Natur ansehen. Dadurch kommt man zu der Schlussfolgerung, dass es dem Menschen einfach nicht möglich ist, in einem Gesellschaftssystem zu leben, das nicht auf diesen konkurrenzbetonten Rahmenbedingungen basiert. Demnach würde jeder Versuch in diese Richtung eine Schwachstelle erzeugen, die von einer Machtgruppe ausgenutzt würde und dadurch soll diese vermeintlich in dem Menschen innewohnende Wettbewerbs- oder Dominanz-Eigenschaft bewiesen werden.82 Auch wenn das Thema der menschlichen Natur kein direkter Fokus dieses Kapitels ist83, ist es aufgrund des Kontexts wichtig zu erwähnen, dass die Annahme der „empirisch belegten Ausnutzung von Macht“ einen Großteil der Verteidigung des konkurrenzbetonten/trennenden Modells ausmacht. Dabei wird eine verallgemeinernde, grobe Sichtweise der Geschichte als gültige Basis genommen. Die speziellen Bedingungen in diesen Zeiten und die Formbarkeit des Menschen werden in diesen Einschätzungen oft nicht mit berücksichtigt.84 Die historischen zu verzeichnenden Muster von Konflikten können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Eine detailgenaue Betrachtung der Bedingungen 79

„Die ‚mitochondriale Eva‘ ist ein Begriff aus der Archäogenetik und bezeichnet eine Frau, aus deren mitochondrialer DNA (mtDNA) die mitochondriale DNA aller heute lebenden Menschen durch eine direkte Abstammungslinie hervorgegangen ist. „ (http://de.wikipedia.org/wiki/Mitochondriale_Eva ). Wir sind eine Familie. Ebenso wurde herausgefunden, dass alle Rassenunterschiede (Gesichtszüge/Hautfarbe) sich aufgrund von verschiedenen Umweltbedingungen entwickelten, wodurch verschiedene Untergruppen von Menschen entstanden. Daher ist es eine falsche Unterscheidung als Mittel für oberflächliche Diskriminierung. 80 Manchmal auch landwirtschaftliche Revolution genannt, war sie weltweit die erste historisch nachweisbare Revolution in der Landwirtschaft. Es war der breit angelegte Übergang von vielen menschlichen Kulturen, aus einem Lebensstil des Jagen und Sammelns, zu einem der Landwirtschaft und Siedlung, die eine immer größer werdende Bevölkerung unterstützte und die Grundlage für die modernen gesellschaftlichen Muster heute darstellt. 81 Im 20 Jahrhundert allein haben Statistiker die Anzahl der menschlichen Todesopfer von Kriegen Tode durch Kriege zwischen 180 und 220 Millionen Menschen eingeschätzt, wobei einige diese Zahlen aufgrund von Beweisen in verschiedenen regionalen Fällen auf das Dreifache einschätzen. [http://www.sciencedaily.com/releases/2008/06/080619194142.htm] 82 Ein klassischer Text, der diese grundlegende Angst beschreibt, war Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ (engl. The Road to Serfdom). Diese „menschliche Natur“ hatte klare Auswirkungen, die dadurch gerechtfertigt wurde, historische Trends des Totalitarismus mit kollaborativen/geplanten Wirtschaften zu assoziieren. 83 Siehe Kapitel: Das letzte Argument: Die Menschliche Natur 84 Die Natur / Umwelteinfluss-Debatte wurde als eine falsche Dualität in den Fachrichtungen Verhaltensbiologie / Evolutionspsychologie etabliert. Die Realität ist, dass es eine Interaktion mit verschiedener Gewichtung je nach Situation gibt. Wie dem auch sei, wichtig ist hier die Erforschung des „Bereiches menschlichen Verhaltens“ und wie anpassungsfähig und flexibel wir sind. Empholene Literatur: Why Zebras Don't Get Ulcers, Robert Sapolsky, W. H. Freeman, 1998

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Das Plädoyer für menschliche Einheit

und Umstände ist vonnöten. Die Dominanz/Konflikt-Tendenz ist sicherlich eine mögliche Reaktion von nahezu allen Menschen aus dem Drang zur Selbsterhaltung und des Überlebenskampfes heraus.85 Tatsächlich ist es höchstwahrscheinlich sogar so, dass diese Tendenz eher durch die gesellschaftlichen Einflüsse hervorgerufen wird, als eine direkte Quelle solch einer Reaktion zu sein. Wenn wir uns nicht vorstellen können, wie die gewaltige Nazi-Armee bereit war ihre Handlungen moralisch zu rechtfertigen, vergessen wir oft die enorme Propaganda, die von dem vorherrschenden Regime benutzt wurde, diese biologisch bedingte Formbarkeit des Menschen auszunutzen.86 Echtes „Eigeninteresse“ Das „Eigeninteresse“ ist zweifellos in dem menschlichen Bedürfnis zu überleben verwurzelt. Es ist offensichtlich und einfach zu verstehen, wie in der Vergangenheit das nackte Bedürfnis nach persönlichem Überleben - oft mit der Erweiterung zur Familie und dann zum „Stamm“ (lokale Gemeinschaft) - den Grundstein für das komplexere, trennende Zeitalter legte, in dem wir heute leben. Es sollte also aus Sicht der Geschichte erwartet werden, dass viele ökonomische Theorien Wettbewerb und Ungleichheit als Basis haben, wie z.B. die Werke von Adam Smith. Als Vater der freien Marktwirtschaft stellte er die berühmte Annahme auf, dass wenn jeder nur an sich selbst denkt, die Welt als Gemeinschaft voranschreiten würde. 87 Die aus dem engstirnigem, persönlichen Eigeninteresse entstandene Ansicht der „unsichtbaren Hand“ war vielleicht früher eine funktionierende Philosophie für den menschlichen Fortschritt, als die Gesellschaft sehr einfach und jeder ein Produzent war.88 Die Gesellschaft hat sich jedoch durch wachsende Bevölkerung, durch gänzlich verschiedene Rollen und durch exponentiell fortschreitende Technologie drastisch verändert. Die Risiken, die mit diesem Denkmuster einhergehen, sind in einer einfachen Gesellschaft gering, stellen sich aber heute eher als gefährlich statt 85

Häufig als „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ (oder akute Stress-Reaktion) bezeichnet; wurde als erstes vom amerikanischen Physiologen Walter Bradford Cannon beschrieben. 86 „Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt? Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Rußland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. (...) Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land. „ - Hermann Göring [Führendes Mitglied der NSDAP; Aus einem Interview mit Gilbert in Görings Gefängniszelle während der Nürnberger Prozesse (18 April 1946)] 87 „Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen“ - Adam Smith, Untersuchungen über das Wesen und die Ursachen des Nationalreichthums, Band 1 http://books.google.de/books?id=iidFAAAAYAAJ&pg=PA26 88 Der Soziologe Thorstein Veblen beobachtete 1917, wie sich die Gesellschaft veränderte und wie sich das auf die ursprüngliche Prämisse der Marktwirtschaft auswirkte. „Die etablierten Theorien der Wirtschaftswissenschaften haben Eigentumsrechte und -Verträge als axiomatische und ultimative Prämissen angesehen; und deren Theorien werden für gewöhnlich so ausgelegt, dass sie den Umständen des Handwerks und dem kleinen Handel passen [...] Diese Theorien [...] scheinen, im Ganzen gesehen, tragbar, wenn man sie auf die wirtschaftliche Situation von damals überträgt [...] Wenn diese etablierten Theorien jedoch auf spätere Zeiten übertragen werden, die den Umständen des Handwerks entwachsen sind, erscheinen sie als wertlos und trügerisch. „ [An Inquiry Into The Nature Of Peace And The Terms Of Its Perpetuation] Er hat ebenso den Aufstieg der „Investment Klasse“ vorausgesehen; heute sind diese nicht-produzierenden, finanziellen Institutionen, wie Banken und Aktienmärkte, monetär lohnender als die eigentliche Herstellung von Gütern.

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nützlich heraus und die Definition von „Eigeninteresse“ nimmt nun einen weiteren Kontext als je zuvor ein. Ist es nicht in unserem eigenen Interesse, den uns erhaltenden Lebensraum zu schützen und zu pflegen? Ist es nicht in deinem eigenen Interesse, sich um die Gesellschaft als Ganzes zu kümmern, sich um ihre Mitglieder zu kümmern, so dass die Folgen der Armut, wie z.B. „Kriminalität“, so weit wie möglich reduziert werden, um deine Sicherheit zu garantieren? Ist es nicht in deinem eigenen Interesse, die Folgen von imperialistischen Kriegen abzuschätzen, die zu heftigem, chauvinistischem Hass auf der einen Hälfte der Erde führen kann, um dann als verzweifelter Akt des „Gegenschlags“ lediglich aus Vergeltungsgründen beispielsweise eine Kofferbombe hinter dir im Restaurant hochgehen zu lassen? Ist es nicht in deinem eigenen Interesse, dass alle Kinder der Gesellschaft die beste Erziehung und Bildung bekommen, sodass deine Zukunft und die deiner Kinder verantwortungsbewusst, gebildet und in einer immer produktiveren Welt existieren kann? Ist es nicht in deinem eigenen Interesse sicherzustellen, dass die Industrie so organisiert, optimiert und wissenschaftlich präzise wie möglich ist, sodass wir keine schäbigen, billigen Technologien produzieren, die bei einem Fehlverhalten ein gesellschaftliches Problem erzeugen können? Unterm Strich zählt, dass sich die Welt verändert hat und unser „Eigeninteresse“ nur so gut ist, wie unser „gesellschaftliches Interesse“. Wettbewerbsorientiert zu handeln, nur auf sich selbst zu schauen und andere zu „besiegen“ hat auf lange Sicht gesehen nur negative Folgen, denn es ignoriert die Auswirkungen auf die Gesamtheit des Systems, an welches wir gebunden sind. Ein minderwertig hergestelltes Atomkraftwerk in Japan scheint den Amerikanern nicht viel zu bedeuten. Wenn aber dieses Kraftwerk einen großen technischen Fehler aufweist, werden die radioaktiven Strahlen und die Verschmutzung vielleicht sogar bis hin zu amerikanischen Wohnhäusern gelangen, wodurch bewiesen wird, dass man auf lange Sicht gesehen nicht wirklich sicher ist, wenn man kein weltweites Bewusstsein an den Tag legt. Am Ende des Tages kann in der modernen Welt nur ein globales MenschheitsBewusstsein das echte „Eigeninteresse“ sicherstellen und bei Berücksichtigung dieser Tatsache wird unsere gesellschaftliche „evolutionäre Fitness“89 in vielerlei Hinsicht gewährleistet. Die bloße Idee „dein eigenes Land“ zu unterstützen und das Ignorieren der anderen - oder sogar die Freude über die Fehler der Anderen - ist eine destabilisierende Verhaltensweise. Kriegsführung Die Tage sinnvoller Kriegführung sind schon lange gezählt. Neu aufkommende Technologien können ein Waffenarsenal hervorbringen, das die Atombombe wie ein römisches Katapult aussehen lässt.90 Jahrhunderte zuvor konnten die Auswirkungen von Kriegen auf die kriegführenden Parteien beschränkt werden. Heute jedoch ist die gesamte Welt bedroht. Es gibt 23.000 nukleare Waffen, welche die Menschheit mehrere Male auslöschen können.91 89

Evolutionäre Fitness ist ein Begriff aus der Biologie, der allgemein wie folgt definiert wird: „Die Wahrscheinlichkeit mit der die Abstammungslinie eines Individuums mit bestimmten Eigenschaften überlebt.“ In diesem Zusammenhang verbinden wir menschliche Aktionen innerhalb der Gesellschaft mit dem Konzept des Überlebens der Spezies. 90 Siehe: http://crnano.typepad.com/crnblog/2005/05/applications_fo.html 91 Siehe: http://www.wagingpeace.org/articles/db_article.php?article_id=253

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In vielerlei Hinsicht wird heute die gesellschaftliche Reife von uns auf den Prüfstand gestellt. Stöcke und Steine als Waffen konnten ein großes Maß an menschlichen Verzerrungen und schädlichen Absichten tolerieren. Aber in einer Welt von Nanotechnologie-Waffen mit enormen destruktiven Kräften muss unser „Eigeninteresse“ innehalten und die Institution des Krieges muss systematisch zu Fall gebracht werden. Um dies zu erlangen, müssen sich die Nationen wissenschaftlich vereinen und ihre Ressourcen sowie Ideen teilen; sie nicht für konkurrenzbetonte „Selbstverbesserung“ horten, was heutzutage die Norm ist. Institutionen wie die Vereinten Nationen sind in dieser Hinsicht ein kompletter Fehlschlag geworden, da sie natürlicherweise Werkzeuge werden, um ein Imperium aufzubauen. Dies resultiert durch die grundlegende Natur der Trennung von Nationen und die sozioökonomische Dominanz durch das Eigentum-/Geld/Wettbewerbsbasierte System. Es ist nicht genug, alle Führer weltweit an einem Tisch zu versammeln, um ihre Probleme zu diskutieren. Die Struktur selbst muss sich ändern, um eine andere Art der Interaktion zwischen diesen regionalen „Gruppen“ zu ermöglichen, wobei die ständig herrschende „Bedrohung“ der Nationalstaaten untereinander beendet werden muss. Letztendlich gibt es kein empirisches Eigentum von Ressourcen oder Ideen. Genauso wie alle Ideen der Reihe nach, und über Kulturen hinweg, durch unseren „Gruppenverstand“ (engl. Group Mind) entwickelt wurden, sind die Ressourcen des Planeten ebenso vergänglich in ihrer Funktion und ihr möglicher Zweck ist wissenschaftlich definiert. Die Erde ist ein einheitliches System, in dem regulierende Naturgesetze vorherrschen. Entweder die menschliche Gesellschaft erkennt dies und beginnt sich dieser innewohnenden Logik anzupassen oder wir werden in Zukunft noch mehr leiden.

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Das letzte Argument: Die Menschliche Natur „Der Mensch erwirbt mit der Geburt durch Vererbung eine biologische Grundlage, die wir als fest und unabänderlich betrachten müssen. Dies schließt die natürlichen Triebe ein, die für die menschliche Spezies charakteristisch sind. Darüber hinaus erwirbt er während seines Lebens eine kulturelle Grundlage, die er von der Gesellschaft durch Kommunikation und durch viele andere Einflüsse übernimmt. Diese kulturelle Grundlage ist im Laufe der Zeit Änderungen unterworfen, und sie bestimmt zu einem großen Teil die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft.“92 - A. Einstein

Das verbliebene Argument Der Gedankengang und die Anwendungsmöglichkeiten93, die in dem TZM Material präsentiert werden, sind technischer Natur und drücken die Absicht aus, Methoden und Vorzüge der wissenschaftlichen Kausalität auf das Gesellschaftssystem als Ganzes anzuwenden. Es sollten nicht nur die Vorteile dieser Herangehensweise selbst in Betracht gezogen werden, sondern sie sollten ebenfalls im Kontrast zu den heute etablierten, traditionellen Methoden und den daraus resultierenden Konsequenzen betrachtet werden. Es wird sich dann wahrscheinlich herausstellen, dass unsere momentanen gesellschaftlichen Methoden nicht nur absolut veraltet und im Vergleich ineffizient sind -, sondern sie werden sogar immer gefährlicher und unmenschlicher. Dadurch wird sich eine immer wichtiger werdende Notwendigkeit für eine großangelegte gesellschaftliche Veränderung herausstellen. Es geht hier nicht um ein „Utopia“ - es geht um praktische Verbesserungen. Die allgemeine Grundlage des monetären Marktkonzeptes (kapitalistisch/freie Marktwirtschaft) hat im Grunde mit Annahmen zu tun, die sich auf menschliches Verhalten, traditionelle Werte und eine oberflächliche Betrachtung der Geschichte beziehen. Es hat nicht mit aufkommenden Erkenntnissen, tatsächlichen Maßnahmen für bessere Volksgesundheit, technischen Möglichkeiten oder ökologischer Verantwortung zu tun. Es ist ein nicht-technischer, philosophischer Ansatz mit der Annahme, dass auf der inneren Logik und dem Anreizsystemen des Marktsystems basierende Entscheidungen der Menschen verantwortungsbewusste, nachhaltige und menschenwürdige Ergebnisse produzieren werden. Dies wird verstärkt durch die trügerische Vorstellung der „Wahlfreiheit“, die hinsichtlich gesellschaftlicher Funktionalität gleichbedeutend mit der Organisationsform der Anarchie93b erscheint.94 92

„Warum Sozialismus?“„ http://www.jusos-wmk.de/2012/08/02/warum-sozialismus-von-albert-einstein/ Diese Begriffe werden in dem Glossar - Anhang A genauer beschrieben. Der „Gedankengang“ beschreibt die zugrunde liegende Logik mit dessen Hilfe man zu den Vorschlägen von TZM gelangt. Die Anwendungen sind schlicht der aktuelle Stand der Technologie. Der Unterschied ist, dass ersterer nahezu empirisch ist, während letzterer vergänglich ist, da alle technologischen Werkzeuge sich mit der Zeit verändern. 93b Es ist anzumerken, dass wir uns hier auf die in der Kultur geläufige Auffassung der „Anarchie“ beziehen. Uns ist sehr wohl bewusst, dass Anarchie in seiner tatsächlichen Definition anders definiert ist. „Landläufig wird Anarchie auch mit einem durch die Abwesenheit von Staat und institutioneller Gewalt bedingten Zustand gesellschaftlicher Unordnung, Gewaltherrschaft und Gesetzlosigkeit beschrieben und vor allem in den Medien häufig im Schlagwort „Chaos und Anarchie“ verwendet. Die tatsächliche Bezeichnung für einen solchen Zustand ist jedoch Anomie.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Anarchie 94 Zu dem Thema der wirtschaftlichen Organisation und den Mechanismen für industrielle Produktion könnte einiges gesagt werden, mehr wird aber in Teil 3 beschrieben. Jedoch sei an dieser Stelle gesagt, dass der Preismechanismus“ - welcher der zentrale Antrieb für wirtschaftlichen Verlauf ist - von Grund auf anarchistisch ist, da es keine effizienten Systembeziehungen innerhalb des makro-industriellen Verhaltens gibt. Produktion, Vertrieb und Ressourcenverteilung ist selbst mit viel Fantasie nicht „strategisch“ im technischen, physikalischen Sinne. Die einzig angewandte Strategie, die der zentrale Anhaltspunkt für „Effizienz“ in der Marktwirtschaft ist, hat mit dem Profit und den Verlusten/Arbeitskosten/Ausgaben zu tun; typischen Parametern, die keinerlei Beziehung zu physikalischer Effizienz haben. 93

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Aus diesem Grund wird das monetäre Marktmodel der Ökonomie in TZM Materialien oft als religiös bezeichnet, da der kausale Antrieb in Wirklichkeit auf geradezu abergläubischen Annahmen des Menschseins basiert. Es hat wenig Verbindung zu aufkommenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über uns selbst und der festen symbiotischen/synergetischen Beziehung unseres Lebensraumes und seinen vorherrschenden Naturgesetzen. Wenn man TZMs lösungsorientierten Gedankengang vorstellt, ist es oft nur eine Frage der Zeit, bis zumindest die grundlegende wissenschaftliche Prämisse in Abstraktion verstanden und akzeptiert wird. Zum Beispiel findet die wissenschaftliche Tatsache nur selten Gehör, dass wir sowohl die Ressourcen als auch die industriellen Methoden besitzen, um jeden auf dem Planeten zu ernähren.95 Wenn man den durchschnittlichen Bürger heute fragen würde, ob er das Ende des chronischen Hungers für Milliarden Menschen sehen wollte,96 würde er wahrscheinlich vom Standpunkt der „Moral“ aus zustimmen. Erst wenn jedoch die Logik nachverfolgt wird und die weitläufigen gesellschaftlich und wirtschaftlich benötigten Reformen aufgezeigt werden, um ernsthafte systematische Unterstützung für diese Milliarden von Menschen zu schaffen, kommt die Kritik und Ablehnung zum Vorschein. Obwohl diese Veränderungen auf lange Sicht gesehen bessere Ergebnisse hervorbringen würden, verhindern sture temporäre Werte-Assoziationen - durch die Gewöhnung der Menschen an ihr derzeitiges Leben - jegliche Veränderungen. Daneben gibt es ein sehr häufiges Argument, das weitere Diskussionen unmöglich macht: Das ist das Argument der „menschlichen Natur“; der einzig mögliche verbliebene Einwand, wenn man einmal darüber nachdenkt. Denn die Menschen haben aufgrund von Identitätsassoziationen und angewöhnten Bequemlichkeiten Angst davor, ihren fast willkürlichen kulturellen Lebensstil zu ändern. Sind die Menschen kompatibel mit einem wahrhaftig nachhaltigen, wissenschaftlichen sozio-ökonomischen System oder sind wir aufgrund unserer Genetik dem Untergang geweiht? Alles ist technisch Das Plädoyer für ein neues Gesellschaftssystem, das auf einer wissenschaftlichen Sichtweise für Erkenntnisse, maximierte Nachhaltigkeit und Wohlstand basiert, kann eigentlich nicht durch irgendeinen anderen Ansatz widerlegt werden. Diese Aussage erscheint sehr gewagt. Warum ist das so? Weil es einfach keinen anderen Ansatz gibt, wenn man akzeptiert, dass die allumfassende Logik der Naturgesetze innerhalb der wissenschaftlichen Methode als Mechanismus an der Wurzel physischer Kausalität und Wechselbeziehungen liegt. Beispielsweise könnte es viele äußerliche Designvarianten eines Flugzeugs geben, jedoch ist die technische Umsetzung, die den Flug ermöglicht, an physische Gesetze

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Das wurde von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen und Welternährungsprogramm bestätigt. Für Quellen wird diese Seite empfohlen: http://overpopulationisamyth.com/food-theres-lots-it#header-1 96 http://www.news-medical.net/news/20090623/102-billion-starving-people-worldwide-UN-says.aspx

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gebunden. Demnach muss sich das physische Design des Flugzeugs an diese Gesetze und an diese Funktion anpassen. Die Herstellung solcher Maschinen, die dem Zweck der optimalen Leistung, Sicherheit und Effizienz dienen, ist keine Ansichtssache. Ebenso ist es auch egal, wie viel Dekoration wir um unsere Häuser herum platzieren, denn die physische Struktur des Gebäudes muss den strengen Regeln der Physik und den natürlichen Dynamiken unseres Lebensraums hinsichtlich Sicherheit und Standhaftigkeit entsprechen. Daher kann die Struktur des Gebäudes nur relativ kleinen, technischen Variationen unterliegen. Die Organisation der menschlichen Gesellschaft ist in keiner Weise anders, wenn das Ziel die Integrität und Optimierung ist. An die funktionalen Aspekte einer Gesellschaft zu denken, bedeutet sozusagen über ein mechanistisches Prinzip nachzudenken. Wir sollten uns mit Gesellschaftssystemen genauso beschäftigen, wie wir ein technisch optimiertes Flugzeug entwerfen, denn ihre Funktionsweise ist ebenso technisch. Leider wurde in der Geschichte dieser generellen Betrachtung nie wirklich eine Chance gegeben und unsere Welt wird immer noch in einer unpassenden Art und Weise gesteuert. In dieser besteht der hauptsächliche Anreiz eher darin, gleichgültigen, schnellen und kurzsichtigen persönlichen Gewinn einzustreichen und einen Wettbewerbsvorteil zu erreichen, anstatt sich an angemessenen, strategischen industriellen Methoden, ökologischer Ausrichtung, gesellschaftlicher Stabilität, Betrachtung der Volksgesundheit und Generationennachhaltigkeit zu orientieren. Das alles wird erwähnt, weil das Argument der menschlichen Natur gegen diesen Ansatz das einzige scheinbar technische Argument ist, was das heute vorherrschende veraltete System möglicherweise verteidigen kann; es ist das einzige verbliebene Argument, wenn die Menschen mit nichts Anderem mehr argumentieren können, da jeder Einwand gegen ein Naturgesetz-basiertes Gesellschaftssystem irrational ist. Gefesselt an Irrationalität? Unterm Strich kann diese Problematik als Frage dargestellt werden: „Ist die menschliche Spezies fähig sich anzupassen und in einem technisch organisiertem, geplantem System zu florieren, in dem unsere Werte und Handlungen mit den bekannten Naturgesetzen in der Praxis übereinstimmen? Oder sind wir eingeschränkt durch unsere Gene, unsere Biologie und evolutionäre Psychologie, und können nur auf die uns bereits bekannte Art und Weise funktionieren?“ Obwohl heutzutage viele über die Einzelheiten der Debatte über Natur vs. Erziehung streiten - von einem „Blank Slate“ Behaviorismus97 zu einer genetischen Vorherbestimmtheit98 - ist mindestens eine Sache klar geworden: Unsere Biologie, 97

Die Ansicht einer „Blank Slate“ („unbeschriebenes Blatt“) wurde durch Thomas Hobbes berühmt gemacht aber kann sogar zurück zu den Schriften Aristoteles zurückverfolgt werden. Die Idee ist - kurz gesagt - dass Individuen ohne eingebaute geistige Orientierung geboren werden und alles erlernt wird. Heute als umfassende Ansicht als falsch entlarvt aufgrund von bewiesenem „programmiertem Lernen“ und dem Menschen innewohnender „evolutionären Psychologie“, hat diese Idee jedoch generell Bestand. 98 Die Ansicht, dass menschliches Verhalten in hohem Maße eher durch Gene und Biologie beeinflusst werden als durch Umwelteinflüsse ist immer noch in reger Diskussion - ganz zu schweigen von den häufigen intuitiven Reaktionen von vielen bezüglich bestimmter menschlicher Verhaltensweisen. Sprüche wie „Es ist einfach

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unsere Psychologie und unsere soziologische Verfassung sind eng mit unserer Umwelt verbunden. Beides werde betrachtet von dem Standpunkt der evolutionären Anpassung über Generationen (biologische Evolution), bis hin zu kurzfristigen Neigungen und Werten, die wir von unserer Umwelt annehmen (kulturelle Evolution). Bevor wir nun also diese Angelegenheit im Detail betrachten, sei angemerkt, dass unsere Eigenschaften als Menschen auf einem - sowohl kurzfristigem als auch langfristigem - Prozess der Anpassung an existierende Bedingungen basiert - unsere Gene mit eingeschlossen.99 Dies soll nicht die fall-abhängige genetische Relevanz abwerten, sondern den Prozess hervorheben, dessen Teil wir sind. Die Gen-UmweltBeziehung kann nur als fortlaufende Interaktion betrachtet werden, deren Ergebnisse kurz- und langfristig ein Resultat der Umweltbedingungen sind. Wäre das nicht der Fall, hätte die menschliche Spezies aufgrund mangelhafter Anpassungen schon vor langer Zeit das Zeitliche gesegnet. Obwohl es klar zu sein scheint, dass wir Menschen „veranlagte“ vorhersehbare Reaktionen für das nackte und persönliche Überleben in uns tragen100, haben wir auch unsere Fähigkeit unter Beweis gestellt, unser Verhalten durch unser Denken, unser Bewusstsein und Bildung zu entwickeln.101 Tatsächlich erlaubt uns das, diese impulsiven, primitiven Reaktionen zu kontrollieren/überwinden, falls die Bedingungen hierfür unterstützt und bestärkt werden. Dies ist eine extrem wichtige Unterscheidung und es ist genau das, was die Menschen von ihrer weniger entwickelten Primatenfamilie auf vielerlei Weise unterscheidet.102 Ein kurzer historischer Blick auf die Vielfältigkeit des menschlichen Verhaltens, verglichen mit den in Tausenden von Jahren relativ langsamen, strukturellen

menschliche Natur“ werden von Laien viel zu häufig herumgeworfen. Autoren wie Steven Pinker sind erwähnenswert, wenn es um die Dominanz der evolutionären Psychologie über die Umwelteinflüsse geht. 99 Eine „Anpassung“ in der Biologie ist ein Merkmal mit einer aktuell funktionellen Rolle in der Lebensgeschichte des Organismus, die weiter Bestand hat und sich durch „natürliche Selektion“ herausgebildet hat. Zusammengefasst geschieht das durch auf den Organismus einwirkende Einflüsse aus der Umgebung. Gleichermaßen ist „Epigenetik“ eine relativ neue Erkenntnis und untersucht vererbbare Veränderungen in dem Genausdruck oder im Phänotyp, welche durch andere Mechanismen als die Veränderung der zugrunde liegenden DNS Sequenz hervorgerufen wurde. Kurz gesagt, ist dies eine Abkürzung für die Anpassung ebenfalls durch die Umgebung beeinflusst. Bezüglich der Kultur ist dies einfach zu verstehen. Zum Beispiel ist die Sprache, die man spricht, eine Anpassung an die existierende kulturelle Gruppe - genauso wie eine Religion, die man gelehrt wurde - und demnach ebenso viele weitere Werte, die man aufgrund der direkten Konditionierung durch die Kultur, in der man sich befindet, erhält. 100 Die Sichtweise einer „instinktiven Reaktion“ könnte hier passend sein. Jedoch wurde in den Untersuchungen zu menschlichem Verhalten die Unterscheidung, was instinktiv ist und was nicht, immer unklarer. Es ist aber klar, dass die menschliche Spezies bestimmte sehr spezifische Verhaltensweisen gemeinsam hat, besonders wenn es ums Überleben oder Stress-Reize geht. Angesichts akuter Gefahr treten sehr gewöhnliche biologische/indoktrinierte Reaktionen nahezu universell auf und haben oft Verhaltensweisen zur Folge, die für die gesamte Spezies vorhersagbar sind. 101 Der Begriff „Verhaltensplastizität“ (engl. „Behavioral Plasticity“) könnte hier als Erweiterung des Begriffes „neuronale Plastizität“ verstanden werden, welcher sich auf die aktiven Veränderungen der neuronalen Wege und Synapsen bezieht. Genauso wie das Gehirn einmal als statisches Organ betrachtet wurde, verändert sich menschliches Verhalten - der Ausdruck von Gehirnaktivität - natürlich auch. So komplex das Thema der „Willensfreiheit“ und der Entscheidungsprozesse innerhalb der Psychologie auch sein mag, zeigt die Natur des menschlichen Gehirns eine klare Anpassungsfähigkeit und Verletzlichkeit gegenüber äußeren Einflüssen. Anders als bei unseren Primatenvorfahren, scheint bei uns der fortgeschrittene Neocortex* das Zentrum für bewusste Gedanken zu sein. In den Worten von Dr. Robert Sapolsky, Neurowissenschaftler an der Standford Universität: „Es liegt nicht in der Natur unserer Natur, uns von unserer Natur besonders einschränken zu lassen.“ [aus dem Film Zeitgeist: Moving Forward (2011)] 102 *Weiteres zum Neocortex, einem fortgeschrittenen Bereich des menschlichen Gehirns, der für Bewusstsein verantwortlich sein soll: http://www.nature.com/nrn/journal/v10/n10/abs/nrn2719.html

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Entwicklungen in Gehirn und DNA103, zeigt, dass unsere Anpassungsfähigkeit (durch Denken/Bildung) auf kultureller Ebene enorm ist. Es zeigt sich, dass wir zu vielen verschiedenen Verhaltensweisen fähig sind, und dass die Theorie einer starren „menschliche Natur“ - also einer unveränderbaren, universellen Menge von Verhaltensweisen/Reaktionen, die ausnahmslos alle Menschen teilen - nicht stichhaltig ist. Stattdessen scheint es eher ein Spektrum möglicher Verhaltensweisen und vorhersehbaren Reaktionen zu geben, das mehr oder weniger auf der Art der Entwicklung, Bildung, Reizen und den erlebten Umständen basiert. Das gesellschaftliche Leitbild diesbezüglich kann nicht genug betont werden, da Umwelteinflüsse gewaltige Faktoren sind, die nicht nur unsere Vorlieben bei kurzund langfristigen Entscheidungen formen, sondern zusätzlich hat die Interaktion der Umgebung mit unserer Biologie starke Auswirkungen auf persönliches Wohlbefinden und demnach auf die Volksgesundheit in vielerlei Hinsicht. Es wurde herausgefunden, dass Umweltbedingungen - darunter Faktoren wie Nährstoffhaushalt,104 emotionale Sicherheit,105 gesellschaftliche Zugehörigkeit106 und alle Formen von Stress - den Menschen generell weitaus mehr beeinflussen können, als vorher angenommen. Dieser Prozess beginnt im Mutterleib und zieht sich über die sensiblen nachgeburtlichen Anpassungszeiträume des Kindesalters107 und über alle physiologischen und psychologischen Ebenen des Lebens. Beispielsweise gibt es Beweise dafür, dass es eine genetische Veranlagung für Depression als psychologische Krankheit gibt, jedoch ist es die Umgebung, die diese auslöst oder nicht.108 Noch einmal: Es geht nicht darum den Einfluss der Biologie auf unsere Persönlichkeiten abzutun, sondern um die entscheidende Wichtigkeit des

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DNA Mutationsraten variieren von Spezies zu Spezies und waren in der Vergangenheit schwer einzuschätzen. Heutzutage ist es möglich mithilfe direkter Sequenzierung einzelne Veränderungen zu isolieren. In einer 2009 durchgeführten Studie wurden die Genome zweier entfernter männliche Verwandter - durch 13 Generationen getrennt - (ihr gemeinsamer Vorfahre hatte 200 Jahre zuvor gelebt), sequenziert und es wurde herausgefunden, dass es nur 12 Unterschiede in allen DNA Buchstaben (DNA Sequenzen) gab. „Die beiden Y Chromosomen waren immer noch an 10 149 073 der 10 149 085 untersuchten Buchstaben gleich“ [http://www.sciencedaily.com/releases/2009/08/090827123210.htm ] Innerhalb des menschlichen Genoms wurde geschätzt, dass das Genom evtl. nur 100 Änderungen über Zehntausende von Jahren erfährt. 104 Ein Paradebeispiel ist der niederländische Hungerwinter. In einer Studie wurden Menschen beobachtet, die unter extremen Nährstoffmangel als Fetus während des zweiten Weltkriegs litten. Es wurde herausgefunden, dass sie als Erwachsene unter verschiedenen metabolischen Syndromen litten und Metabolismusprobleme aufwiesen, aufgrund der „Programmierung“, die innerhalb der Zeit im Uterus geschah. Referenz: Famine and Human development: The Dutch hunger winter of 1944-1945. New York, NY, US: Oxford University Press. 105 Dr Gabor Maté präsentiert in seinem Werk „In the Realm of Hungry Ghosts“ (dt. „Im Reich hungriger Geister“) eine große Zahl an Forschungsergebnissen im Bereich des „emotionalen Verlusts“ im Kindesalter, der Auswirkungen auf das Verhalten später im Leben hat - speziell den Hang zu Suchtabhängigkeiten. 106 Die Wichtigkeit der Natur der gesellschaftlichen Interaktion ist stärker als je gedacht. Die Verbindung zwischen verschiedenen Makro-gesellschaftlichen Faktoren und Volksgesundheitsproblemen wie z.B. Lebenserwartung, Geisteskrankheiten, Übergewicht, Herzkrankheiten, Gewalt und vielen weiteren soziologischen Problemen werden in folgendem Buch gut zusammengefasst: „The Spirit Level“ von Richard Wilkinson und Kate Pickett, Penguin, März 2009 107 Eine interessante Studie über Frühgeburten in Inkubatoren fand heraus, dass durch einfache Reize (oder das Zeigen von „Zuneigung“ durch Berührung) deren physiologische Gesundheit in der Zukunft stark verbessern konnte, verglichen mit denen, die nicht berührt worden waren. Referenz: Tactile/kinesthetic stimulation effects on preterm neonates, Pediatrics, 1986. 108 Referenz: The Structure of Genetic and Environmental Risk Factors for Common Psychiatric and Substance Use Disorders in Men and Women, Arch Gen Psychiatry. 2003;60

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Verständnisses dieser Tatsachen und um die Anpassung des Gesellschaftssystems und der Makroeinflüsse, damit das positivste Ergebnis erlangt werden kann. Verändern der Umstände Die Idee, die Einflüsse der Gesellschaft so zu verändern, dass wir das Beste aus dem Menschen hervorbringen - anstatt das Schlechteste - ist der Kern des gesellschaftlichen Leitbildes von TZM. Diese Idee ist heute leider in den gesellschaftlichen Überlegungen der Kultur verloren gegangen. Es gibt eine enorme Menge an Beweisen, die zeigen, dass der Einfluss der Umgebung unsere Werte und Neigungen formt. Auch wenn es genetische/physiologische Einflüsse gibt, welche Prädispositionen und Betonungen für bestimmte Verhaltensweisen setzen, liegt der größte Einfluss für unsere Variabilität in der Lebenserfahrung und in der Umgebung des Menschen. Es geht also um die Art der Interaktion zwischen dem „Internen“ (Physiologischen) und dem „Externen“ (der Umgebung). Letztendlich ist jedoch Stress der wichtigste Faktor. Unsere Gene, Biologie und evolutionäre Psychologie haben vielleicht einige Macken, aber das ist nichts gegen das umweltbedingte Chaos, das wir in unserer Kultur geschaffen haben. Das enorme Maß an unnötigem Stress in der heutigen Welt - Schulden, Unsicherheit des Arbeitsplatzes, steigende Gesundheitsrisiken - sowohl physiologisch als auch psychologisch - und viele weitere Probleme, haben ein Klima der Besorgnis geschaffen, das die Menschen immer mehr krank und wütend macht. Der Fokus dieser Ansicht liegt jedoch nicht in temporären negativen Einflüssen, die dieses oder jenes - in dieser eingeschränkten Sichtweise - auslösen. Es geht dabei vielmehr um weitreichende religiös-philosophische, politische, aufklärerische und gesellschaftliche Werte und Ideen, die dadurch genährt werden. Wenn wir vor die Frage gestellt werden, ob wir unsere Gesellschaft so anpassen sollten, dass wir bewiesenermaßen in besserer Volksgesundheit leben könnten, würden wir das nicht einfach machen? Es ist extrem unwahrscheinlich zu glauben, die menschliche Gesellschaft wäre nicht mit Methoden kompatibel, die ihren Lebensstandard und ihre Gesundheit erhöhen würden. Zusammenfassend für dieses Kapitel kann man sagen, dass - im Detail betrachtet das Thema der „menschlichen Natur“ eines der Komplexesten ist. Jedoch gibt es nicht wirklich viel zu diskutieren, wenn es um die weite und gültige Erkenntnis grundlegender Verbesserungen der Volksgesundheit geht durch die Reduzierung von Stress, ein höheres Maß an gesunden Lebensmitteln und die Stabilisierung der Gesellschaft durch das Erarbeiten von Überfluss und Behaglichkeit anstatt Konflikt und Komplexität. Wir haben nun deutliche Wahrheiten und Beweise über das menschliche Befinden, dass wir nicht nur schlechte Reaktionen und Gewohnheiten aufgrund der aktuellen sozioökonomischen Ordnung haben, sondern auch unserem Lebensraum gegenüber verantwortungslos sind. Dadurch vernachlässigen wir nicht nur die Nachhaltigkeit im ökologischen Sinne, sondern auch - wie vorher erwähnt - im kulturellen Sinne. Wenn wir denken, Menschen seien mit solchen Lösungen einfach nicht kompatibel - auch wenn das heißt unsere Welt drastisch zu ändern - leugnen wir die lange Geschichte unserer Fähigkeit der Anpassung.

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Definition der Volksgesundheit

Teil 2 - Gesellschaftskrankheit & Die Anti-Ökonomie

Definition der Volksgesundheit 109

„Wir sind alle für alle verantwortlich.“ - Dostojewski

Übersicht Was ist der wahre Messwert für den Erfolg einer Gesellschaft? Was macht uns glücklich, gesund, krisensicher und bringt uns in ein Gleichgewicht mit der Welt um uns herum? Ist nicht eigentlich unser Erfolg die Fähigkeit, die Realität zu verstehen und sich dieser anzupassen, um unter allen möglichen Umständen das jeweils Bestmögliche zu erreichen? Was ist, wenn wir herausfinden, dass unser heutiges Gesellschaftssystem auf lange Sicht tatsächlich unsere Lebensqualität reduziert? Wie dieses Kapitel zeigen wird, haben sich unsere modernen gesellschaftlichen Strukturen, Werte und Handlungen weit von einer wahrhaft gesunden Gesellschaft entfernt bzw. ignorieren, was eine gesunde Gesellschaft eigentlich bedeutet. Das, was unsere gesellschaftlichen Institutionen heute wertschätzen oder ignorieren - einschließlich der Ziele und Anreize des persönlichen Erfolges - ist eindeutig losgelöst von wirklichen Lebensgrundlagen und Fortschritt.110 Das ist ein Thema, über welches heute viel zu wenig nachgedacht wird. Tatsächlich werden heute der „Wohlstand“ und die „Integrität“ des menschlichen Daseins willkürlich mit wirtschaftlichen Kennwerten gleichgestellt wie z.B. Bruttoinlandsprodukt, Erzeugerpreisindex oder Arbeitslosenzahlen. Traurigerweise sagen uns diese Kennwerte nahezu gar nichts über das tatsächliche Wohlbefinden und den Wohlstand der Bevölkerung.111 Der Begriff „Volksgesundheit“ ist eine medizinische Klassifizierung, die grundlegend wie folgt definiert wird: „Der Ansatz der Medizin, der sich mit der Gesundheit einer Gemeinschaft als Ganzes befasst.“112 Während dies oft nur im engen Kontext von übertragbaren Krankheiten und damit zusammenhängenden, weitreichenden, gesellschaftlichen Zuständen gesehen wird, ist der Kontext hier weiter gefasst, um nicht nur die physiologische Gesundheit, sondern ebenfalls die psychische Gesundheit einzuschließen. Wenn der Wert eines Gesellschaftssystems an der Gesundheit der Bevölkerung über einen gewissen Zeitraum gemessen wird, dann sollten die Beurteilungen und das Vergleichen der Bedingungen und Konsequenzen durch einfache Trend-Analysen und Faktoren-Berechnungen einen Einblick darin geben, was auf sozialer Ebene verändert oder verbessert werden kann. Hier ist die wesentliche Frage, wie die sozialen Verhältnisse selbst - das sozioökonomische System - die Gesundheit der Menschen im Ganzen beeinflussen. 109

Paraphrasiert und übersetzt aus Karamazov Brothers, Fyodor Dostoyevsky, 1880, p316 Das bezieht sich auf die Umstände, wie die moderne Gesellschaft einige Verhaltensweisen eher als Andere belohnt und verstärkt. Beispielsweise werden in der westlichen Welt die Finanzinstitutionen, die nichts produzieren, finanziell mehr belohnt, als die tatsächliche Güterproduktion und Bereitstellung von Dienstleistungen. Dies hat ein Anreizproblem erzeugt, welches auch die Missachtung der Umwelt und das Ignorieren der Volksgesundheit generell zur Folge hat. Wie später in diesem Text dargestellt wird, ist die Psychologie der Marktwirtschaft entgegengesetzt zur Lebenserhaltung. 111 In den letzten Jahren wurden weitere Versuche gemacht „Glücklichkeit“ und Wohlbefinden zu bemessen, wie der Index des „Bruttonationalglücks“ (BNG), der dies über Studien in regelmäßigem Abstand misst. http://www.grossnationalhappiness.com/ 112 Definition der Volksgesundheit: http://de.wikipedia.org/wiki/Volksgesundheit 110

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Mit den Worten des Physikers Rudolph Virchow: „Medizin ist eine Gesellschaftswissenschaft und Politik ist nichts anderes als Medizin im großen Maßstab.“113 Virchow erkannte, dass jedes Problem der Volksgesundheit stets mit der gesamten Gesellschaft verbunden ist. Ihre Strukturen, Eigenschaften und Werteverstärkungen haben einen tiefgreifenden Einfluss auf Gesundheit und Verhalten einer Gesellschaft. Auseinandersetzungen über den Wert neuer gesellschaftlicher Ideen gehen unausweichlich auf eine rationale Beurteilung der Qualität durch Vergleiche zurück. Da jede einzelne Komponente der Volksgesundheit ihre eigenen Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten hat, können wir auch dahingehend arbeiten, alternative Herangehensweisen zu einer gegebenen Problemlösung oder Verbesserung in Betracht zu ziehen, welche zur Zeit nicht angewandt werden, aber eindeutig angewandt werden sollten. Eine Analyse der derzeitigen Komponenten der Volksgesundheit ist nötig, um zu verstehen, was im Laufe der Zeit und unter verschiedenen Umständen passiert. Als Basis des hier geäußerten Gedankengangs ist es nötig, zusätzlich eine individuelle Auswertung jedes Problems - unter Berücksichtigung einer möglichen „Reparatur oder Verbesserung“ auf größtmöglicher Ebene - durchzuführen. Die Zeitgeist-Bewegung ist davon überzeugt, dass das existierende Gesellschaftsmodell der Grund für eine Gesellschaftskrankheit ist, welche eine endlose Fortsetzung von Ungleichgewicht zur Folge hat. Dieses Ungleichgewicht ruft unnötigerweise physiologische und psychologische Störungen quer durch die Bevölkerung hervor, ganz zu schweigen von der systematischen Einschränkung menschlichen Potenzials und Problemlösungen in vielfältiger Weise. Natürlich erstreckt sich dieser Zusammenhang auch auf die Gesundheit der Umwelt, also den Zustand des Planeten; da ökologische Probleme, Einflüsse und Linderungen langfristig immer auch unsere Volksgesundheit beeinflussen. Allerdings wird das nicht der Schwerpunkt dieses Kapitels sein. Diese Analyse wird das Thema der Volksgesundheit in zwei allgemeine Kategorien aufteilen: Physiologisch und Psychologisch.114 Jede Kategorie wird in Themen aufgeteilt, die jeweils dominante Probleme in einem bedeutsamen Anteil der Bevölkerung aufzeigen. Es ist wichtig klarzustellen, dass physiologische und psychologische Probleme selten, wenn überhaupt, einzelne Ursachen haben. Es gibt eine „Bio-PsychoSoziale“115 Beziehung zwischen nahezu allen menschlichen Phänomenen, wodurch erneut die symbiotischen Eigenschaften des Menschen auf vielen Ebenen deutlich 113

The Evolution of Social Medicine, Rudolph Virchow: Rosen G., from the Handbook of Medical Sociology, Prentice-Hall, 1972 114 Soziologische Phänomene werden hier der Einfachheit halber in der Kategorie der psychologischen Krankheiten aufgeführt, da die Folgen einer soziologischen Krankheit die zusammen genommenen psychologischen Zustände von Individuen sind. 115 Bio-Psycho-Sozial bedeutet die Interaktion von biologischen, psychologischen und soziologischen Einflüssen auf einen bestimmten Sachverhalt. Beispielsweise wird oberflächlich gesehen Fettleibigkeit oft mit Essen in Verbindung gebracht. Wenn eine Person zu viel isst, nimmt sie an Gewicht zu. Jedoch gibt es eine Menge an Beweisen dafür (wie später in diesem Kapitel ausgeführt wird), dass die individuelle Psychologie einer Person dazu führen kann, Wohlbefinden durch den Konsum zu empfinden; beispielsweise durch eine ungünstige emotionale Vergangenheit oder schlechte Anpassung des Körpers aufgrund von Umständen in denen schlechte Gewohnheiten geformt und erwartet werden. Diese letzteren Ansichten, die Auswirkungen auf die Psychologie haben, sind ein Resultat der soziologischen Gegebenheiten.

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werden. Mit anderen Worten, obwohl das vorliegende Problem generell als physiologisch betrachtet wird, könnte die zugrunde liegende Ursache dieses Problems sehr wohl zum Teil „psychologisch“ oder zum Teil „soziologisch“ sein und umgekehrt. Der Ökonomische Faktor Wie bereits erwähnt, ist es das Hauptanliegen dieses Textes, die schwerwiegenden Auswirkungen unseres globalen sozioökonomischen Systems auf die öffentliche Gesundheit aufzuzeigen, mit einem speziellen Fokus auf den Auswirkungen von Armut, Stress und Ungleichheit. Wenn man einen kurzen Blick auf die Hauptgründe für weltweite Todesfälle nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wirft,116 lassen sich klare Unterschiede, je nach der wirtschaftlichen Situation einer Region, feststellen. Beispielsweise treten Krebserkrankungen häufiger in reicheren Gesellschaften auf, während Durchfallerkrankungen in ärmeren Gesellschaften häufiger auftreten. Dies verdeutlicht, wie der breite Zusammenhang des sozioökonomischen Status die Volksgesundheit beeinflussen kann. Mahatma Gandhi sagte einst: „Armut ist die schlimmste Form der Gewalt.“117 Gemeint sind in diesem Zusammenhang die durch Armut verursachten, unnötigen Tode, welche durch die Grenzen, die massive finanzielle Beschränkungen der Gesundheit setzen, zustande kommen. Diese Anschauung wurde später im Begriff der „strukturellen Gewalt“118 aufgegriffen, den Dr. James Gilligan wie folgt definiert: „...das vermehrte Auftreten von Tod und Behinderung in den unteren Gesellschaftsschichten“. Er unterscheidet die strukturelle Gewalt von der verhaltensbedingten Gewalt, wobei Erstere „eher kontinuierlich auftritt, anstatt sporadisch.“119 Zu beachten ist, dass sich der Begriff „Gewalt“ in diesem Zusammenhang nicht auf die übliche Klassifikation von Körperverletzung beschränkt, wie dem Kampf von Angesicht zu Angesicht oder Misshandlung. Er umfasst ebenso soziale Unterdrückung, welche, über die Kausalketten unseres Wirtschaftssystems, zu unnötigem menschlichen Leiden, sowohl physisch als auch psychisch, führt. Das reicht von offensichtlichen bis hin zu komplexen Beispielen in der Kette von Ursache und Wirkung. Ein einfaches Beispiel wäre die Verbreitung von Durchfallerkrankungen in, von Armut geplagten, Gesellschaften. An dieser Erkrankung sterben allein rund 1,5 Millionen Kinder jedes Jahr.120 Durchfallerkrankungen sind vollständig vermeidbar und behandelbar. Die Infektion wird durch verunreinigtes Essen oder Trinkwasser oder durch mangelhafte Hygiene von Person zu Person verbreitet. Das geringe Vorkommen und die Seltenheit dieser Infektion, im Vergleich zu den „Erste-WeltLändern“, zeigen deutlich, dass die Ursache die ärmlichen Bedingungen sind, die es der Krankheit ermöglichen, ungehindert zu florieren. Dennoch hört der Kausalzusammenhang hier nicht auf. Wir müssen uns folglich die Frage stellen: „Was führt die Armut herbei?“ 116

Quelle: http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs310/en/index.html Zitiert und übersetzt aus A Just Peace through Transformation: Cultural, Economic, and Political Foundations for Change, International Peace Association, 1988 118 Empfohlene Referenz: An Empirical Table of Structural Violence, Gernot Kohler and Norman Alco*ck, 1976 http://jpr.sagepub.com/content/13/4/343.extract 119 Violence, James Gilligan, Grosset/Putnam, New York, 1992, p192 120 Quelle: http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs330/en/index.html 117

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Ein etwas abstrakteres Beispiel stellen die menschlichen Entwicklungsprobleme dar, wenn nachteiliger Druck innerhalb familiärer oder gesellschaftlicher Strukturen entsteht: Stellen wir uns eine alleinerziehende Mutter vor, die, aufgrund finanzieller Nöte, für ihr Einkommen sehr viel arbeiten muss, um ihr Kind zu versorgen. Das schränkt die persönliche Verfügbarkeit für das Kind ein. Der Druck vermindert nicht nur die benötigte Unterstützung und Förderung für den Nachwuchs, vielmehr entwickelt die Mutter mit der Zeit bestimmte Verhaltensweisen, wie den Hang zur Depression und Unruhe, aufgrund des immerwährenden Schuldenstresses, Rechnungen und dergleichen, sodass frustrationsgetriebene Misshandlungen in der Familie auftreten. Dies verursacht dann einen schweren emotionalen Verlust121 für das Kind und hat zur Folge, dass sich neurotische, sowie ungesunde Geisteszustände, entwickeln, wie beispielsweise eine Neigung zur Drogenabhängigkeit.122 Jahre später leidet das jetzt erwachsene Kind noch immer an dem Schmerz, den es in diesen frühen Lebensabschnitten empfunden hat und stirbt an einer Überdosis Heroin. Frage: Was verursachte die Überdosis? Das Heroin? Der Einfluss der Mutter? Oder die wirtschaftlichen Umstände, welche ihr nicht erlaubten, sich ausgeglichen und fürsorglich um ihr Kind zu kümmern?123 Natürlich gibt es kein Utopia für das menschliche Dasein und zu glauben, wir könnten das sozioökonomische System so gestalten, dass alle diese „strukturell“ bedingten Probleme jederzeit zu verhindern sind, ist absurd.124 Jedoch sind enorme Verbesserungen von Problemen in der Volksgesundheit möglich, indem man die Struktur der sozioökonomischen Bedingungen strategisch anpasst. Während wir weiter einzelne Fälle von bedeutsamen psychischen und physischen Krankheiten analysieren, wird sich herausstellen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für Verbesserungen der Volksgesundheit nahezu komplett innerhalb der Zusammenhänge der sozioökonomischen Bedingungen liegen.125 Gernot Kohler und Norman Alco*ck haben 1976 in ihrem Werk Eine empirische Aufzeichnung struktureller Gewalt dramatische 18 Millionen Tode aufgezeichnet, die jedes Jahr auf Grund struktureller Gewalt126 geschahen - diese Studie ist 30 Jahre her. Seitdem hat sich die Schere zwischen Arm und Reich mehr als verdoppelt, wodurch man annehmen kann, dass diese Zahl heute sogar noch höher ist. Tatsächlich ist strukturelle Gewalt der tödlichste Killer auf diesem Planeten. Die folgende Grafik zeigt die Todesraten der jeweiligen Bevölkerungsanteile, wodurch 121

Der Begriff emotionaler Verlust bezieht sich auf extreme emotionale Traumata - häufig im Kindesalter - die in ihren Auswirkungen bestehen. In den Worten von Dr. Gabor Maté „Der größte Schaden durch Vernachlässigung, Traumata oder emotionale Verluste sind nicht die direkten Schmerzen, sondern in der Art, wie ein sich entwickelndes Kind weiterhin die Welt und seine eigene Rolle in dieser interpretieren wird. „In the Realm of Hungry Ghosts, North Atlantic Books, 2012, p512 122 Wie zuvor erwähnt ist das Werk von Gabor Maté zu dem Thema der Suchterkrankungen durch emotionale Verluste und Gefühle der Unsicherheit in der Kindheit sehr zu empfehlen. “In the Realm of Hungry Ghosts“, North Atlantic Books, 2012 123 Das Werk „Geisteskrankheiten und die Ökonomie“ (engl. Mental Illness and the Economy) von M.H. Brenner wird empfohlen. Abstrakt: „Durch in Beziehung setzen von vielen ökonomischen und institutionellen Daten vom Staat New York in der Zeit von 1841 bis 1967 schlussfolgert Harvey Brenner, dass die Schwankungen in der Volkswirtschaft die einflussreichste Quelle für Schwankungen in Psychiatrie-Aufnahmen oder Aufnahmeraten ist. 124 Siehe „Menschheitsfaktor“ im Glossar, Anhang A 125 Eine Studie für Referenzen im gleichen Kontext ist: The Effect of Known Risk Factors on the Excess Mortality of Black Adults in the United States, Journal of the American Medical Association, 263(6):845-850, 1990. Diese epidemiologische Studie fand heraus, dass zwei Drittel der Tode von Afroamerikanern allein dem niedrigen sozioökonomischen Status selbst und seinen direkten Folgen zugerechnet werden konnte. 126 An Empirical Table of Structural Violence, Gernot Kohler and Norman Alco*ck, 1976

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der deutliche Zusammenhang von geringen Einkommen und hoher Sterblichkeit gezeigt wird.

G. D. Smith, J. D. Neaton, D. Wentworth, R. Stamler and J. Stamler, ‘Socioeconomic differentials in mortality risk among men screened for the Multiple Risk Factor Intervention Trial: I. White men’, American Journal of Public Health (1996) 86 (4): 486-96.

Physiologische Gesundheit Die wesentlichen physiologischen Probleme der Menschheit heute beinhalten größere tödliche Epidemien, wie z.B. Krebs, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, etc. Als weniger dramatische Probleme, die oft nicht nur die Lebensqualität reduzieren, sondern oft auch den gravierenden Krankheiten vorrausgehen, werden hoher Blutdruck, Fettleibigkeit und andere Probleme angesehen. Auch wenn diese im Vergleich oft weniger wichtig erscheinen, sind sie dennoch oft Teil eines längeren Prozesses, der zu gravierenden Krankheiten und dem Tod führen kann.127 Es ist noch einmal wichtig zu betonen, dass die Ursachen dieser „physischen“ Krankheiten nicht streng „physisch“ im engen Sinne des Wortes sind, da neue Studien tiefe psychosoziale128 Stress-Zusammenhänge zu diesen scheinbar unabhängigen physiologischen Problemen gefunden haben. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind die häufigsten Ursachen für Tode, sowohl in einkommensarmen, als auch einkommensreichen Ländern, Herzkrankheiten, Infektion der unteren Atemwege, Schlaganfälle und Krebs.129 Obwohl jede einzelne dieser Krankheiten (und viele mehr) eine Verbindung zu den folgenden Punkten haben kann, beschränken wir uns hier zur Vereinfachung auf Herzkrankheiten.

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Referenz: http://thetimes-tribune.com/lifestyles-people/as-obesity-rates-rise-chief-heart-surgeon-sees-morehigh-risk-patients-in-operating-room-1.1379223 128 Psychosozial definiert: Betrifft sowohl Aspekte des sozialen und des psychologischen Verhaltens http://de.wiktionary.org/wiki/psychosozial 129 The top ten causes of death, WHO http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs310/en/index.html

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Fallstudie: Herzkrankheiten Während die Behandlung von Herzkrankheiten in letzter Zeit generell zu einem geringen Rückgang der Herzattacken und Tode führte,130 hat die Diagnose der Herzkrankheiten nicht abgenommen und steigt laut einigen regionalen Studien an, 131 teilweise sogar dramatisch.132 Koronare Herzkrankheiten werden von der WHO immer noch als weltweite Hauptursache für Tode gesehen.133 Ebenso wurde herausgefunden, auch wenn es genetische Faktoren gibt; dass bei 90% der Todesopfer „Risikofaktoren, die durch die Lebensweise hervorgerufen werden“134, vorliegen. Generell wird die Krankheit weitläufig als vermeidbar angesehen, wenn Anpassungen des Lebensstils durchgeführt werden. Kurz gesagt erlauben uns die nachgewiesenen Beziehungen zu fetthaltiger Ernährung, Rauchen, Alkohol, Fettleibigkeit, hohem Cholesterinspiegel und anderen Risikofaktoren eine Erweiterung der Kausalität der Herzkrankheiten. Wenn wir diesen Ursachen folgen zeigt sich, dass sie nicht nur mit absolutem Einkommen zu tun haben, sondern mit relativem sozioökonomischem Status. Die WHO macht es generell deutlich, dass ein weltweit geringerer sozioökonomischer Status höhere Raten an Herzkrankheiten und natürlich auch mehr Risikofaktoren, die zu diesen führen, mit sich bringt.135 Das zeigt, dass es eine direkte wirtschaftliche Beziehung zu dem Auftreten von Erkrankungen gibt. Es gibt keine Beweise dafür, dass für diese Unterschiede genetische Variationen zwischen regionalen Gruppen verantwortlich sind. Es ist offensichtlich zu sehen, dass der Mangel an Kaufkraft Menschen in Lebensweisen führt, welche viele dieser Risikofaktoren mit sich bringen. Eine 2009 durchgeführte Studie des American Journal of Epidemiology („Life-Course Socioeconomic Position and Incidence of Coronary Heart Disease“ zu dt. „Lebenslange sozioökonomische Position und Fälle von koronarer Herzerkankung“) fand heraus, dass eine Person umso wahrscheinlicher eine Herzkrankheit entwickelt, je länger sie in Armut lebt.136 Menschen, die in ihrem Leben wirtschaftlich benachteiligt waren, neigen eher zum Rauchen, zur Fettleibigkeit, zu schlechter Ernährung und Ähnlichem. In einer früheren Studie des Wissenschaftlers Dr. Ralph. R. Frerichs, die sich speziell auf die sozioökonomische Spaltung in einer Stadt wie Los Angeles in Kalifornien konzentriert hat, zeigte, dass die Todesraten von Herzkrankheiten für ärmere Menschen 40% höher waren, als für Wohlhabendere.137 Wenn wir zu unserer ursprünglichen These zurückkehren - der Verbindung zwischen dem Gesellschaftssystem selbst und dem Vorkommen von Krankheiten und deren Risikofaktoren - müssen wir die direkte Beziehung von Stress und Kaufkraft in Betracht ziehen. 130

U.S. Trends in Heart Disease, Cancer, and Stroke, PRB Heart disease to rise 25% by 2020 http://www.belfasttelegraph.co.uk/news/local-national/northernireland/heart-disease-to-rise-25-by-2020-16177410.html 132 New European Statistics Released On Heart Disease and Stroke [http://www.sciencedaily.com/releases/2012/09/120929140236.htm ] 133 The Atlas of Heart Disease and Stroke, WHO & CDC, Part 3, Global Burden of Coronary Heart Disease 134 ebd. 135 ebd., Kapitel 11, Socioeconomic Status 136 Life-Course Socioeconomic Position and Incidence of Coronary Heart Disease, American Journal of Epidemiology, April 1, 2009. http://aje.oxfordjournals.org/content/early/2009/01/29/aje.kwn403 137 Heart Disease Tied to Poverty, New York Times, 1985 http://www.nytimes.com/1985/02/24/us/heart-diseasetied-to-poverty.html 131

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Fangen wir mit dem Letzeren, Einfacheren an. Eindeutig treten ungesunde Gewohnheiten in den unteren Einkommensklassen, aufgrund des Mangels an Mitteln für bessere Ernährung,138 medizinische Behandlung139 und Bildung140 auf. Viele der fetthaltigen, natriumhaltigen, risikoreichen Lebensmitteln, die beispielsweise zu Herzkrankheiten führen, sind auch die günstigsten in den Läden. Es ist wichtig zu betonen, dass unser sozioökonomisches Modell Lebensmittel basierend auf der Kaufkraft der Zielbevölkerung produziert. Die Entscheidung, minderwertige Qualität von Lebensmitteln zu produzieren, basiert auf dem Profitmotiv. Da der Hauptteil der Bevölkerung auf der Welt arm ist, ist es kein Wunder, dass die Qualität der Lebensmittel gemindert werden muss, damit konkurrenzfähiges Kaufen möglich wird. Anders ausgedrückt: Es gibt einen Markt für jede soziale Schicht und umso niedriger die Schicht, desto geringer ist natürlich die Qualität. Diese Tatsache stellt ein Beispiel für eine direkte Verbindung des Gesellschaftssystems zu der Ursache für solche Krankheiten dar. Selbst wenn eine arme Person das Wissen über die mindere Qualität von Lebensmitteln hat und sich für eine bessere Ernährung entscheidet, machen die finanziellen Einschränkungen die Umsetzung dieser Entscheidung schwer, wenn nicht sogar unmöglich; da solche Lebensmittel im Durchschnitt teurer sind. In einer Zeit in der die Lebensmittelproduktion und menschliche Ernährung relativ gut wissenschaftlich erforscht ist (bezüglich was funktioniert und was nicht/was gesund ist und was nicht), sollten wir uns fragen, warum diese Menge an beabsichtigt ungesunden Lebensmitteln und schädlichen Industriemethoden überhaupt existieren. Die Schlussfolgerung ist, dass menschliche Gesundheit nicht das Ziel industrieller Lebensmittelproduktion ist und es, aufgrund des alleinigen Interesses Einkommen zu generieren, nie war. Mehr zu diesem, der monetären Marktwirtschaft innewohnenden, gestörten Anreiz folgt in späteren Kapiteln. Der Stress-Faktor Betrachten wir nun die Rolle von Stress. Stress hat einen größeren Effekt auf Herzkrankheiten, als bisher angenommen. Dies geht nicht nur auf den statistischen Fakt zurück, dass Menschen mit geringerem Einkommen die Tendenz haben, Stress durch Rauchen und Trinken zu kompensieren, wodurch sich ein erhöhter Blutdruck manifestiert und sie somit ihre Körper und ihr Wohlbefinden dem ständigen Kampf um den Lebensunterhalt und das Überleben opfern. Auch wenn diese Faktoren offensichtlich existieren und in Verbindung zu der unausweichlichen Schichtung innerhalb der monetären Marktwirtschaft141 stehen, liegt die schädlichste Form des Stresses, der 138

Zitat aus der Studie „Can Low-Income Americans Afford a Healthy Diet?“ :„Viele Ernährungsspezialisten glauben, dass alle Amerikaner - unabhängig vom Einkommen - Zugang zu vollwertiger Ernährung mit Vollkorn, magerem Fleisch und frischen Gemüse und Obst haben. In der Realität sind Nahrungsmittelpreise für viele Verbraucher eine bedeutungsvolles Hindernis, die versuchen ein gutes Gleichgewicht zwischen guten Nährstoffen und Erschwinglichkeit zu finden. „ http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2847733/ 139 Referenz: Medical costs push millions of people into poverty across the globe, WHO http://www.who.int/mediacentre/news/releases/2005/pr65/en/index.html 140 Referenz: „Education Gap Grows Between Rich and Poor, Studies Say“, NY Times 2012 [ http://www.nytimes.com/2012/02/10/education/education-gap-grows-between-rich-and-poor-studiesshow.html?pagewanted=all ] 141 Die Klassenstratifikation ist ein unveränderbarer Teil des aktuellen sozioökonomischen Modells auf Grund des Anreizsystems, welches Einkommen unverhältnismäßig verteilt und strategisch die oberen Klassen der Hierarchie bevorteilt. Beispielsweise haben 2007 die 365 größten US-Unternehmen mehr als 500-mal so viel Lohn bekommen wie der durchschnittliche Angestellte. Das kann verbunden werden mit der makroökonomischen

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psychosoziale Stress, in der psychologischen Interaktion mit der gesellschaftlichen Umgebung begründet. Professor Michael Marmot von der Abteilung für Epistemologie und Volksgesundheit am Universitäts-College von London hat zwei wichtige Studien bezüglich der Verbindung zwischen sozialem Status und Gesundheit, geleitet.142 Das britische Beamtensystem wurde hier als Untersuchungsgruppe herangezogen. Sie fanden heraus, dass das Gefälle der Gesundheitsqualität in industrialisierten Gesellschaften nicht einfach nur schlechte Gesundheit für die Armen und gute Gesundheit für alle anderen bedeutet. Tatsächlich ist es so, dass es eine gesellschaftliche Verteilung der Krankheiten von der Spitze der sozioökonomischen Schichten bis nach unten gibt. Dabei veränderten sich die vorkommenden Arten von Krankheiten von oben nach unten proportional. Beispielsweise wies die niedrigste Stufe der Hierarchie, im Vergleich mit den höchsten Stufen, eine Vierfach erhöhte Rate herzkrankheitsbedingter Sterbefälle auf. Selbst in einem Land mit gesetzlicher Krankenversicherung gilt: Je schlechter der finanzielle Status und die Position in der Hierarchie, desto schlechter wird die Gesundheit im Durchschnitt sein. Der Grund hierfür ist im Wesentlichen psychologisch, da generell die Volksgesundheit - speziell für die niedrigeren Schichten143 - schlechter wird, je mehr eine bestimmte Gesellschaft in Schichten eingeteilt ist. Dieses Muster hat sich über viele Jahre in vielen Studien immer wieder bestätigt, unter anderem in einer ausführlichen Forschungsarbeit von Richard Wilkinson und Kate Pickett. In ihrem Werk The Spirit Level - Why Equality is Better for Everyone (zu dt.: „Die Ebene des Geistes - Warum Egalitarismus für jeden besser ist“) führen sie Hunderte von wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema auf, die darauf hinweisen, dass ungleiche Gesellschaften ein breites Spektrum an körperlichen und geistigen Volksgesundheitsproblemen mit sich bringen. Abgesehen von Herzkrankheiten wurde auch ein Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen, chronischen Atemwegskrankheiten, Magen-Darmkrankheiten, Rückenbeschwerden, Übergewicht, hohem Blutdruck, geringerer Lebenserwartung und vieler weiterer Probleme zu dem sozioökonomischen Status gefunden.144 Es gibt ein „gesellschaftliches Gefälle“ in der Gesundheit über die gesamte Gesellschaft und wo wir - in Vergleich zu anderen - stehen hat einen starken psychosozialen Effekt. Die höheren Schichten haben im Durchschnitt eine bessere Gesundheit und die unteren Schichten im Durchschnitt eine Schlechtere.145

Finanzpolitik, die strukturell durch das Zinssystem die Wohlhabenden belohnt und die Armen bestraft. (Die Wohlhabenden erhalten Zinseinkommen von Investitionen, während die Armen, denen es an Investitionskapital mangelt, Kredite für den Großteil ihrer großen Anschaffungen benötigen, wodurch sie Zinsen zahlen. Abstrakt ausgedrückt werden durch diesen Mechanismus die Armen dazu gezwungen den Reichen ihr Geld zu geben.) 142 Whitehall Study I & II, http://www.ucl.ac.uk/whitehallII/. Siehe ebenso: Epidemiology of socioeconomic status and health, M. Marmot http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10681885 143 ebd. 144 Wichtig zu erwähnen ist hier, dass dieses Phänomen sich generell eher auf die relativ wohlhabenden Gesellschaften bezieht als auf die direkt von Armut geplagten Gesellschaften. 145 Referenz: Social Determinants of Health: The Solid Facts, R.G. Wilkinson & M. Marmot, World Health Organization, 2006

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Ein statistischer Vergleich der Volksgesundheit von Ländern mit hohen Einkommensunterschieden (wie z.B. die USA) und jenen mit geringeren Unterschieden (wie z.B. Japan) zeigt diese Tatsache deutlich.146 Jedoch sind solche, generell als „physisch“ bezeichneten Krankheiten, nur Teil der Volksgesundheits-Krise, die durch die Ungleichheit erzeugt wird, die - um es noch einmal zu betonen - direkt aus der unserem Gesellschaftssystem innewohnenden unvermeidbaren Schichtung resultiert. Psychologische Gesundheit Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Ungleichheit auf unsere mentale oder psychologische Gesundheit sind vielleicht sogar noch gravierender für die Volksgesundheit. Dies umfasst auch Verhaltensweisen und Tendenzen zu Gewalt oder Missbrauch, ebenso wie emotionale Probleme wie Depressionen, Angst und Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen. Eine generelle Beachtung der Trends von Depressionen und Ängsten in wirtschaftlich starken Ländern - Ländern bei denen man intuitiv denken würde, dort würden, aufgrund des materiellen Wohlstands, mehr Freude und Leichtigkeit herrschen - zeigt eine gänzlich andere Realität.147 148 Eine britische Studie untersuchte Depression unter jungen Erwachsenen in ihren 20ern und fand heraus, dass sie 1970 zweimal so häufig vorkamen wie 1958.149 Eine amerikanische Studie mit etwa 63 700 Hochschulstudenten hat herausgefunden, dass fünfmal so viele junge Erwachsene mit stärkeren Ängsten zu kämpfen haben als 1930.150 Eine 2011 von der APA vorgestellte Studie hat gezeigt, dass psychische Krankheiten häufiger unter Hochschulstudenten vorkamen als ein Jahrzehnt zuvor.151 Der Psychologe Jean Twenge von der Universität von San Diego sichtete 269 Studien, die die Ängste in den USA zwischen 1952 und 1993 untersuchten. Die zusammengefasste Beurteilung zeigt einen sehr deutlichen Trend zu steigenden Ängsten über diesen Zeitraum. Daraus ergab sich beispielsweise die Schlussfolgerung, dass in den späten 1980er Jahren das durchschnittliche amerikanische Kind ängstlicher war, als in die Psychiatrie eingewiesene Kinder in den 1950er Jahren.152

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Eine PDF-Datei mit einer Zusammenfassung der Ausgleichsgeraden wurde aus dem Werk von R. Wilkinson und K. Picket entnommen und ist hier zu finden: http://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&ved=0CCcQFjAB&url=http%3A%2F%2Fw ww.tantor.com%2FExtras%2FB0505SpiritLevel%2FB0505SpiritLevelPDF1.pdf&ei=GiqPUJyWEYL3igK6wICgBQ &usg=AFQjCNH-A12L8z6iT6VGr1PnI7CSHUIEuw&cad=rja (***wird nachgetragen***) 147 Referenz: The Dramatic Rise of Anxiety and Depression in Children and Adolescents, Peter Gray, 2012 http://www.psychologytoday.com/blog/freedom-learn/201001/the-dramatic-rise-anxiety-and-depression-inchildren-and-adolescents-is-it 148 Anxiety Disorders Are Sharply on the Rise, Timi Gustafson R.D [http://timigustafson.com/2011/anxietydisorders-are-sharply-on-the-rise/] 149 Time Trends in child and adolescent mental health, Maughan, Collishaw, Goodman & Pickles, Journal of Child Psychology and Psychiatry, 2004 150 Sourcing the Anxiety Disorders Association of America, dieser Artikel ist eine empfehlenswerte Zusammenfassung: http://www.msnbc.msn.com/id/39335628/ns/health-mental_health/t/why-are-anxietydisorders-among-women-rise/#.UI9PRoUpzZg 151 Depression On The Rise In College Students, NPR, 2011 [http://www.npr.org/2011/01/17/132934543/depression-on-the-rise-in-college-students] 152 The age of anxiety? Birth cohort change in anxiety and neuroticism, J.M. Twenge, Journal of Personality and Social Psychology, 2007

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Ein 2011 vom National Center for Health Statistics (dt. Nationales Zentrum für Gesundheitsstatistik) veröffentlichter Bericht zeigt, dass sich der Konsum von Antidepressiva von Jugendlichen (Menschen im Alter von 12 Jahren oder älter) und Erwachsenen zwischen 1988-1994 und 2005-2008 um 400% erhöht hat. Antidepressiva waren das dritthäufigste verschriebene Medikament, welches von Amerikanern innerhalb von 2005-2008 genommen wurde.153 Auch wenn eine genetische Komponente für Depressionen eine Rolle spielt, zeigt der Trend eine deutliche umweltbedingte Kausalität als treibende Kraft. In den Worten von Richard Wilkinson: „Auch wenn Menschen mit psychischen Krankheiten manchmal Veränderungen des Stoffwechsels im Gehirn aufweisen, hat bisher niemand gezeigt, dass diese die Depression verursachten und nicht durch die Depression selbst verursacht worden sind. [...] Auch wenn eine genetische Disposition bei einigen psychischen Krankheiten zu Grunde liegt, kann das nicht den enormen Anstieg der Krankheiten in den letzten Jahrzehnten erklären - unsere Gene ändern sich nicht so schnell“154 Es zeigt sich, dass unser relativer sozialer Status einen starken Einfluss auf unser mentales Wohlbefinden hat. Diese Tendenz kann auch in der so genannten evolutionären Psychologie ähnlicher Primaten gefunden werden. Eine 2002 durchgeführte Studie mit Makakenaffen fand heraus, dass die in einer gegebenen sozialen Hierarchie Untergeordneten weniger Dopamin-Aktivität aufwiesen als die Dominanten. Diese Beziehung änderte sich, wenn die Gruppen neu geordnet wurden. Anders ausgedrückt: Es hatte nichts mit der individuellen Biologie zu tun lediglich die gesellschaftliche Anordnung reduzierte oder erhöhte den Dopaminhaushalt. Ebenso zeigte sich, dass die in der Hierarchie Untergeordneten mehr Kokain konsumierten, um diesen Umstand zu kompensieren. Das ist sehr aufschlussreich, da der Dopaminhaushalt bei Primaten (inklusive Menschen) in direktem Zusammenhang zu Depressionen steht.155 Dieses Muster wurde sehr deutlich, und obwohl direkter Stress durch Jobunsicherheit, Schulden und viele weitere, eher wirtschaftliche, Faktoren in unserem Gesellschaftssystem eine große Rolle spielen,156 überwiegt immer noch die Bedeutung des sozioökonomischen Status'. Die folgende Grafik stellt einen Vergleich der allgemeinen mentalen Gesundheit und des Drogenkonsums in verschiedenen Ländern dar.157 Sie enthält Informationen von 9 Ländern aus WHO Umfragen und beinhaltet unter anderem Angststörungen, Stimmungsstörungen, Impulskontrollstörungen, Suchterkrankungen und weitere. Man sieht deutlich, dass die USA mit dem höchsten Maß an Ungleichheit ein enormes Maß an mentalen Gesundheitsproblemen und Drogenkrankheiten aufweisen, wenn man sie mit weniger geschichteten Ländern vergleicht. Italien weist die geringste Anzahl an mentalen Gesundheitsproblemen in dieser Gruppe auf.

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Antidepressant Use in Persons Aged 12 and Over: United States, 2005–2008, Laura A. Pratt, NCHS, Oct 2011 [http://www.cdc.gov/nchs/data/databriefs/db76.htm] 154 The Spirit Level by Richard Wilkinson and Kate Pickett, Penguin, March 2009, p65 155 Social dominance in monkeys: dopamine D2 receptors and cocaine self-administration, Morgan & Grant, Nature Neuroscience, 2002 5(2): 169-74 156 Suicide rates rocket in wake of economic downturn recession, Nina Lakhani, The Independent, Aug 15 2012 157 Grafiken von The Spirit Level by Richard Wilkinson and Kate Pickett, Penguin, March 2009, p67

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Sogar der gefühlte soziale Status - wie das Kastensystem in Ländern wie Indien kann starke Auswirkungen auf Selbstbewusstsein und Verhalten haben. Eine in 2004 durchgeführte Studie verglich die Problemlösefähigkeiten von 321 indischen Jungen aus einer hohen Kaste mit 321 indischen Jungen aus einer niedrigen Kaste. Die Ergebnisse zeigten, dass beide Gruppen von Jungen ähnliche Resultate erzielten, wenn die Kastenzugehörigkeit jeder Gruppe zuvor nicht öffentlich genannt wurde. In einem zweiten Durchgang wurde die Kastenzugehörigkeit jeder Gruppe vorher öffentlich genannt. In diesem Durchgang wurden deutlich andere Resultate erzielt als im ersten Durchgang: Die Jungen aus der niedrigeren Kaste waren viel schlechter, die Jungen aus der höheren Kaste viel besser.158 Die Menschen werden sehr durch ihren wahrgenommenen Status in der Gesellschaft beeinflusst. Oft ist es so, dass wir schlechtere Leistungen erbringen, wenn wir als minderwertig angesehen werden.

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Belief Systems and Durable Inequalities, Policy Research Working Paper, Waskington DC: World Bank, 2004 | Grafik aus The Spirit Level von Richard Wilkinson and Kate Pickett, Penguin, March 2009, p113-114

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Zusammenfassend zu diesem Thema - dem psychosozialen, auf Ungleichheit basierendem Phänomen, das einen klaren Zusammenhang zu psychologischem Wohlbefinden aufweist, ist es wichtig, das breite Spektrum an damit verbundenen Problemen zu verdeutlichen. Weiteres Bildungsmaterial zu diesen Themen kann in der Literaturempfehlungsliste (Anhang C) gefunden werden, mit Werken von Sapolsky, Gilligan, Mae und Wilkinson, die sehr zu empfehlen sind. Jedoch sei gesagt, dass Länder mit geringerer Einkommensungleichheit im Hinblick auf Bildung, sozialem Kapital (Vertrauen), Übergewicht, Lebenserwartung, Schwangerschaften von Jugendlichen, Inhaftierung und Bestrafung, soziale Mobilität zwischen den Schichten, Chancen und sogar Innovationen, besser abschneiden als Länder mit mehr Ungleichheit. Anders ausgedrückt: Sie sind „gesündere“ Gesellschaften. Fallstudie: Verhaltensbedingte Gewalt Im Zusammenhang mit den oben genannten Problemen innerhalb einer ungleichen Gesellschaft gibt es ein Thema, welches besondere Beachtung verdient: Verhaltensbedingte Gewalt. Der Kriminalpsychologe Dr. James Gilligan, ehemaliger Verantwortlicher der Abteilung für Gewaltforschung in der medizinischen Fakultät von Harvard, schrieb in seiner Abhandlung über das Thema: „Gewalt: Unsere tödliche Epidemie und seine Ursache“. Dr. Gilligan zeigt sehr deutlich, dass extreme Formen der Gewalt nicht zufällig auftreten oder genetisch eingeprägt sind, sondern stattdessen eher Reaktionen darstellen, die kurz- und langfristig aus belastenden Erfahrungen resultieren. Beispielsweise steht Kindesmissbrauch - sowohl körperlich als auch emotional zusätzlich zu dem steigenden persönlichen Stress, in direktem Zusammenhang zu geplanten und impulsiven Gewalttaten. Obwohl Männer statistisch gesehen eher zur Gewalt neigen, auf Grund von endokrinologischen Eigenschaften, die gewalttätige Reaktionen zwar nicht verursachen, sie allerdings bei Stressreaktionen verstärken, ist das gemeinsame Thema der Einfluss von Umwelt und Kultur.159 Damit soll nicht der Einfluss von Hormonen oder möglicherweise genetischen Veranlagungen160 abgewertet werden. Vielmehr soll gezeigt werden, dass der Einfluss auf dieses Verhalten offensichtlich nicht unsere Biologie ist, sondern unsere Lebensumstände und Erfahrungen. Andere häufige Annahmen der Kausalität, wie z.B. „Instinkt“, sind viel zu abstrakt und ungenau um irgendeine praktische Gültigkeit zu besitzen.161 „Wenn wir lernen wollen, die Ursachen der Gewalt zu erklären, um sie zu vermeiden; müssen wir diese als Teil des Gesundheitswesens und der Vorsorgemedizin betrachten. Zudem sollte man Gewalt als Symptom einer lebensbedrohlichen

159

Das Hormon Testosteron wurde für gewöhnlich für männliche Aggressionen „verantwortlich gemacht“. Jedoch wurde bei Tests mit der allgemeinen Bevölkerung festgestellt, dass individuelle Unterschiede im Testosteronspiegel nicht zu proportionalen Unterschieden in aggressivem Verhalten führen. Man fand heraus, dass nicht Testosteron das Ausmaß an Aggression erhöht, sondern dass es sich genau andersherum verhält. Siehe: The Trouble with Testosterone, Robert M. Sapolsky, Simon & Schuster, 1997, p147-159 160 Siehe: Violence—A noxious co*cktail of genes and the environment, Mariya Moosajee, J R Soc Med. 2003 May; 96(5): 211–214 | Es wird auf eine Studie in Neuseeland hingewiesen, die eine scheinbare Verbindung zu Gewaltverhalten aufzeigt, jedoch nur wenn ein hohes Maß an Missbrauch im Kindesalter stattgefunden hat, sodass dieser Ausdruck der genetischen Veranlagung ausgelöst wurde. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC539471/ 161 Violence, James Gilligan, Grosset/Putnam, New York, 1992, p210-213

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Krankheit sehen, und genau wie alle anderen Formen von Krankheiten, haben sie eine Ätiologie bzw. einen Verursacher, einen Erreger.“162 - Dr. James Gilligan In Dr. James Gilligans Diagnose wird deutlich, dass die Hauptursache für gewalttätiges Verhalten gesellschaftliche Ungleichheit ist. Die Konsequenzen von Scham und Demütigung als emotionale Eigenschaften von Gewalttätern werden aufgezeigt.163 Thomas Scheff, ein emeritierter Professor für Soziologie in Kalifornien, sagte: „Scham ist die gesellschaftliche Emotion“.164 Scham und Demütigung können mit Gefühlen von Dummheit, Unzulänglichkeit, Verlegenheit, törichtem Benehmen, sich bloßgestellt fühlen, Unsicherheit und Ähnlichem gleichgestellt werden. Im Kern haben diese Gefühle alle viel mit menschlicher Interaktion oder Vergleichen zu tun. Selbstverständlich ist es in einer globalen Gesellschaft mit nicht nur wachsenden Einkommensunterschieden, sondern auch Unterschieden im „Selbstwertgefühl“ - da Status in direkter Beziehung zu unserem Erfolg am Arbeitsplatz, der Größe des Bankkontos und weiterem steht - kein Wunder, dass Gefühle der Minderwertigkeit, Scham und Demütigung ein fester Bestandteil unserer Kultur sind. Die Folgen dieser Gefühle, sowie die Epidemie der verhaltensbedingten Gewalt, die wir heute in verschiedenen komplexen Formen beobachten können, haben ernstzunehmende Auswirkungen auf die Volksgesundheit. Terrorismus, Amokläufe, sowie viele weitere extreme Formen der Gewalt, welche vorher in dieser Form einfach nicht existierten, enthüllen eine einzigartige Entwicklung der Gewalt. Dr. Gilligan schlussfolgert: „Wenn wir Gewalt verhindern wollen, dann müssen politische und wirtschaftliche Reformen unser Ziel sein.“165 Die folgende Grafik zeigt die Mordraten in verschiedenen wohlhabenden Staaten mit verschiedenen Raten der sozialen Ungleichheit. Die „anti-sozialistischen“ USA mit ihren kaum vorhanden strukturellen Sicherheiten (so fehlt z.B. eine öffentliche Gesundheitsversorgung) und ihrer psychologischen Ethik, nach welcher „Unabhängigkeit“ und „Wettbewerb“ die höchsten Werte seien, weisen ein hohes Maß an Gewalt auf. Auch wenn Diskussionen über Waffengesetze und Ähnliches immer noch in der politischen Landschaft von Amerika geführt werden, so hat dies jedoch nichts mit den Kausalzusammenhängen zu tun.

162

ebd., p92 ebd., Kapitel 5 164 Shame and conformity: the defense-emotion system, T.J. Scheff, American Sociological Review, 1988, 53:395-406 165 Violence, James Gilligan, Grosset/Putnam, New York, 1992, p236 163

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Zusammenfassung Dieses Kapitel hat versucht einen knappen Überblick über die wichtigsten Kausalzusammenhänge menschlicher Gesundheit auf der physiologischen sowie auf der psychologischen Ebene zu geben. Es geht darum, wie die sozioökonomischen Bedingungen die Volksgesundheit verbessern oder verschlechtern. Das geht bis zu idealen Bedingungen, die menschliches Glück verbessern, häufig auftretende Krankheiten reduzieren und häufig auftretendes negatives Verhalten, wie z.B. Gewalt, verringern. Es zeigt sich sehr deutlich, wie direkte wirtschaftliche Zusammenhänge die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen verringern, indem sie zu absolutem Mangel führen, wie z.B. dem mangelnden Zugang zu qualitativ hochwertigen Lebensmitteln, mangelnder emotionaler Unterstützung und Förderung für Kinder aufgrund von Zeitproblemen und geringerer Qualität der Bildung, wegen regionalen Finanzierungsproblemen. Hinzu kommen allgemeine Probleme, wie die Tatsache, dass die meisten Ehen aufgrund von finanziellen Problemen scheitern.166 Jedoch lag in diesem Kapitel der Hauptfokus auf relativer Armut, da diese oft auch der Grund für absoluten Mangel ist. Im strukturellen, sozioökonomischen Kontext stellen diese Tatsachen die Idee von Wettbewerb, Klassen und anderen „kapitalistischen“ Vorstellungen von Anreiz und Antrieb, gesellschaftlichen Fortschritts, sowie Gesundheit in Frage. Umso mehr wir über dieses Phänomen lernen, umso stärker werden die Argumente dafür, dass die Art unseres sozioökonomischen Systems rückschrittlich in seinem Fokus und Zweck ist. Menschlicher Fortschritt und Erfolg ist sicher nicht definiert durch die dauerhafte Einführung neuer Marktgüter, Gadgets (technische Spielereien) und dem Erwerb materieller Güter. Die Volksgesundheit und unser Wohlergehen basieren darauf, wie wir zueinander und zu der Umwelt als Ganzes stehen. Das Ergebnis ist eine versteckte Form der Gewalt gegen die Bevölkerung und demnach ist die Krise der Volksgesundheit eine Frage von Bürger- und 166

Money Fights Predict Divorce Rates, Catherine Rampell http://economix.blogs.nytimes.com/2009/12/07/money-fights-predict-divorce-rates/

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Menschenrechten. Wenn wir eindeutigen Völkermord in der Welt sehen, sind wir aus rein moralischen Gründen dagegen. Aber was ist, wenn es einen dauerhaften unsichtbaren, aber existierenden Völkermord gibt? Dieser wird nicht von einer bestimmten Person oder Gruppe von Menschen begangen, sondern von einer psychologischen Krankheit, geboren aus Stress, der durch unsere traditionellen Methoden der menschlichen Interaktion und kodifizierten wirtschaftlichen Ordnung erzeugt wird. Wie in den folgenden Kapiteln erläutert werden wird, sind reine Anpassungen des aktuellen sozioökonomischen Systems auf lange Sicht nicht genug, um diese Probleme grundlegend zu lösen. Die grundlegenden Prinzipien unseres aktuellen Modells sind durch die hierarchische wirtschaftliche und wettbewerbsorientierte Ausrichtung gebunden. Um sich von diesen Eigenschaften und deren Folgen dauerhaft lösen zu können, muss das gesamte Gesellschaftssystem verändert werden.

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Wirtschaftsgeschichte „Es ist ein bezeichnendes Symptom unserer Zeit, dass sich keine etablierte Lehre, keine Disziplin oder keine allgemeine Theorie der Gesellschaftsanalyse an den Lebensbedingungen selbst orientiert. Stattdessen wird ein soziales Konstrukt als ultimativer Bezugspunkt gewählt. Eine Idee, der Staat, der Markt, eine Klasse, technologische Entwicklungen oder irgendein anderer Faktor neben den Lebensgrundlagen selbst.“167 - John McMurtry

Überblick Wirtschaft ist wohl die wichtigste, relevanteste und einflussreichste gesellschaftliche Ausprägung, die es gibt. Nahezu alle Aspekte unseres Lebens haben auf der einen oder anderen Ebene - oft ohne dass wir es bemerken - eine Beziehung zu den historischen Entwicklungen und den heutigen Praktiken der Wirtschaftslehre. Unsere grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen sowie unsere grundlegenden Annahmen und Werte werden durch sie geformt. Tatsächlich ist der Kern dessen, wie wir als Gesellschaft über unsere Beziehung zueinander und unsere Beziehung zu dem uns unterstützenden Lebensraum denken, zum größten Teil ein direktes Resultat der ökonomischen Theorien und Praktiken, die wir vertreten. Ein aufmerksamer Rückblick auf historische Religions- und Moralphilosophien, die Entwicklung von Regierungen, politischen Parteien, Gesetzesbestimmungen sowie anderen Gesellschaftsverträgen und Glaubenssystemen, die ein bestimmtes Gesellschaftssystem und dessen Kultur ausmachen, zeigt den immensen Einfluss, den wirtschaftliche Annahmen dabei hatten - und haben - den jeweiligen Zeitgeist zu formen. Sklaverei, Klassismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Unterjochung und viele weitere trennende und ausbeuterische Vorstellungen, die häufig in der Geschichte der menschlichen Kultur auftraten, entspringen vielen allgemein akzeptierten wirtschaftlichen Philosophien oder bleiben auf Grund dieser bestehen. Die Geschichte zeigt ziemlich deutlich, wie gesellschaftliche Zustände durch die vorherrschenden wirtschaftlichen Annahmen einer bestimmten Epoche erzeugt werden. Diese weitgefasste soziologische Betrachtung wird heute leider nicht ausreichend beachtet, wenn man darüber nachdenkt, warum die Welt so ist, wie sie ist und warum wir so denken, wie wir es tun. Als Einleitung sei gesagt (ein Punkt der später in diesem Kapitel noch einmal auftreten wird), dass es eine oft aufgezeigte Dualität in der modernen Wirtschaftslehre gibt. Dabei gibt es auf der einen Seite den „kapitalistischen freien Markt“, also die „freien“ Handlungen von unabhängigen Produzenten, Arbeitern und Händlern, die als Komplex arbeiten, um zu kaufen, zu verkaufen und zu beschäftigen.168 Im Gegensatz dazu steht der „Staat“, ein konsolidiertes System von delegierter Macht, welches die Möglichkeit hat, rechtliche Richtlinien und wirtschaftliche Regeln aufzustellen, die die Aktionen des „freien Marktes“ hemmen können. Die meisten Diskussionen über Wirtschaft drehen sich heute auf der einen oder anderen Ebene um diese Dualität. Auf der einen Seite stehen die „Laissezfaire“-Befürworter, also diejenigen, die sich eine komplett unregulierte Marktwirtschaft 167

„The Cancer Stage of Capitalism“, John McMurtry, Pluto Press, 1999, p.viii Eine weniger allgemeine Definition der freien Marktwirtschaft lautet: „Ein Wirtschaftssystem, in dem Preise und Löhne durch ungehinderte Konkurrenz zwischen Unternehmen entstehen, ohne Regulierung durch die Regierung oder Angst vor Monopolen.“ [http://dictionary.reference.com/browse/free+market] 168

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wünschen. Diese stehen dauerhaft im Konflikt mit den Vertretern des „Dirigismus“, also denjenigen, die ein gewisses Maß an zentralisierter Regierungskontrolle und Entscheidungsgewalt über wirtschaftliche Planung und Regeln für das Beste halten. Die Zeitgeist-Bewegung steht auf keiner dieser Seiten - auch wenn die meisten, die TZMs Vorschläge hören, reflexhaft annehmen, wir seien für Letzteres (Dirigismus).169 Wie bei vielen traditionellen Glaubenssystemen sind polarisierende Ansichten und Verteidigungen häufig vorzufinden. Die Vorstellung, dass es keinen anderen Bezugsrahmen für die Entwicklung und Verwaltung eines Wirtschaftssystems geben kann, heißt, sich dogmatisch gegenüber allen neu aufkommenden und wichtigen Betrachtungen abzuschotten. Die folgende, kurze Abhandlung beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung der Ökonomie. Wir werden die generelle Geschichte wirtschaftlichen Denkens, etwa vom 17. Jahrhundert ausgehend, betrachten. Dabei werden die Kerneinflüsse hervorgehoben, die die moderne „kapitalistische Marktwirtschaft“ hervorbrachten. Jedoch wird, wie auch in Teil III weiter ausgeführt, zudem eine andere Perspektive aufgezeigt. Wir werden dies die „mechanistische“ Ansicht nennen. Diese mechanistische Ansicht von wirtschaftlichen Faktoren nimmt einen anderen Blick auf die kausalen, wissenschaftlichen Realitäten menschlicher Existenz und unseres Lebensraums ein und errichtet ein Modell der wirtschaftlichen Theorie vom Standpunkt der strategischen Vernunft, nicht von historischer Tradition aus. Letztendlich ist modernes wirtschaftliches Denken nicht ansatzweise modern. Der Großteil der Annahmen, die immer noch als „gegeben“ angesehen werden, wie z.B. „Eigentum“, „Geld“, „Klassismus“, Theorien von „Wert“, „Kapital“ und andere Ideen, die sich durch alle historisch relevanten Argumente ziehen, bauen in Wirklichkeit auf veralteten Prämissen. Rasante Entwicklungen innerhalb der Ingenieurs-, Informations- und Humanwissenschaften, die von den etablierten wirtschaftlichen Traditionen ignoriert worden sind, stellen uns nun vor wichtige Neuorientierungen und neue Beziehungen, die in traditionellen Modellen schlichtweg nicht existieren.170 Von den sich immer wieder verändernden Denkrichtungen wurde auch unsere aktuelle Wirtschaftslehre geprägt. Diese akademische, oft formelhafte, auf Traditionen basierende Entwicklung der etablierten Wirtschaftstheorie (und Praxis) scheint einen auf sich selbst bezogenen Bezugsrahmen hervorgebracht zu haben.171 Anders ausgedrückt: Die am häufigsten diskutierten/akzeptierten Wirtschaftsbetrachtungen, die an den Eliteuniversitäten und in 169

Wie in späteren Kapiteln beschrieben wird, wird TZM oft fälschlicherweise als „staatsbefürwortend“ kategorisiert, da es sich gegen Prinzipien des Marktes richtet, die es für unnachhaltig und oft als kontraproduktiv hält. Der Etatismus, welcher in Form von Kommunismus, Faschismus oder Sozialismus auftreten kann, befürwortet eine „zentrale Autorität“, die entscheidet, wie wirtschaftliche/politische Prozesse ablaufen. Dabei kann die Allgemeinbevölkerung wenig bis keinen relevanten Einfluss ausüben. TZM befürwortet generell einen offenen Entscheidungsfindungsprozess, allerdings unter der Beachtung von grundlegenden, bewiesenen Gesetzen der wissenschaftlichen Nachhaltigkeit und Effizienz. 170 Ein Paradebeispiel ist das Konzept einer „Externalität“, welches später in diesem Kapitel noch erwähnt wird. Viele der Umwelt- und Sozialkosten, die systematisch dem Marktansatz anhaften, zudem der Verlust an Effizienz und demnach an Wohlergehen, werden wie viele weitere Probleme in den theoretischen Gleichungen des Marktes nicht berücksichtigt. 171 Der Wirtschaftsphilosoph John McMurtry sagte zu diesem Problem: „Diese Tendenz überwiegt seit den kontinentalen Rationalisten. Leibniz, Spinoza, Descartes, Berkeley, Kant beispielsweise nahmen die soziale Ordnung ihrer jeweiligen Zeit mehr oder weniger vollständig als eine Art Ausdruck des göttlichen Willens an und sie sahen es, als ihre rationale Pflicht, diese lediglich zu akzeptieren oder zu rechtfertigen.“ The Cancer Stage of Capitalism, Pluto Press, 1999, p.7

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Regierungskonferenzen am ehesten vorangetragen werden, begründen ihre Relevanz lediglich in der Tatsache, dass sie für so lange Zeit für wichtig gehalten worden sind. Als Metapher kann man einen PKW-Motor heranziehen. Es ist so, als würde man annehmen, die Struktur dieses Motors sei unveränderbar und nur Veränderungen an vorhandenen Komponenten seien möglich. Stattdessen könnte man die radikale Idee in Betracht ziehen, die Struktur des Motors auf der Basis von neuen Technologien oder Informationen von Grund auf neu zu entwerfen, um den Zweck effizienter zu erfüllen. „Moderne“ Wirtschaftslehre und deren Praktiken sind ein veralteter Motor mit Generationen von Experten, die nur daran arbeiten, die alten Komponenten zu verwalten und die Möglichkeit ausschließen, dass der gesamte Motor veraltet ist und vielleicht immer schädlicher wird. Sie veröffentlichen weiterhin Argumente, Theorien und Gleichungen, die diese „falsche Wichtigkeit“ des alten Motors (alten „Bezugsrahmens“) betonen und neue Errungenschaften in Wissenschaft und Technik ignorieren, da sie ihrem Traditionalismus widersprechen. Das ist vergleichbar mit der langen Geschichte von alten etablierten Traditionen wie beispielsweise der Praxis der menschlichen Sklaverei, die von dem Großteil der Gesellschaft nicht hinterfragt wurde. Diese auferlegten, versteckten und etablierten Strukturen wurden vielmehr als „natürliches“ Verhalten des Menschen angesehen.172 Geschichtlicher Hintergrund Aus historischer Sicht ist das Europa des Mittelalters173 ein guter Startpunkt zur Untersuchung der Ideologie des modernen Kapitalismus, da die zentralen Ideen und Eigenschaften in dieser Zeit entstanden.174 Diese verbreiteten sich später über den gesamten Globus. Ab dem 17. Jahrhundert finden wir die meisten einflussreichen Philosophen, denen heute in traditionellen Wirtschaftsgeschichtsbüchern große Bedeutung beigemessen wird. Obwohl Historiker die grundlegenden Anfänge von „Eigentum“ und dem „Handel für Profit“ zurück bis in das zweite Jahrtausend v. Chr. verfolgen können,175 liegen die Grundlagen für die wichtigen Entwicklungen und die Institutionalisierung erst um den späten Feudalismus bzw. den frühen merkantilistischen Zeiten. Anstatt die einzelnen Unterschiede zwischen den sozioökonomischen Systemen zu diskutieren, die dem modernen Kapitalismus vorausgingen, ist es sinnvoller, deren Ähnlichkeiten zu beschreiben. Es zeigt sich, dass das kapitalistische System eine

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Obwohl Aristoteles (384 v.Chr. - 322 v.Chr.) seine umfangreichen wissenschaftlichen, logischen und philosophischen Beiträge hoch angerechnet werden, war auch er ein Befürworter der Sklaverei. Diese Realität hat er eher mit einer Voreingenommenheit gerechtfertigt, nicht mit Argumenten. Er schrieb: „Aber gibt es irgendjemanden, der von der Natur bestimmt wurde, ein Sklave zu sein und für den diese Stellung angebracht und richtig ist? Oder ist nicht eher jegliche Sklaverei wider der Natur? Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten sowohl auf der Basis von Vernunft als auch von Fakten. Dass manche herrschen und manche beherrscht werden, ist nicht nur notwendig, sondern auch sinnvoll. Von Geburt an werden manche zur Unterwerfung und andere zum Herrschen erkoren.“ Politics, Book I, Chapters III through VII 173 Der Begriff „Mittelalter“ bezieht sich generell auf die Zeit in der europäischen Geschichte vom 5. bis zum 15. Jahrhundert. 174 Für eine detaillierte Untersuchung des mittelalterlichen Wirtschaftssystem und der Gesellschaft wird das folgende Werk empfohlen: „The Agrarian Life of the Middle Ages“, J.H. Chapman and Eileen E. Powers, eds., 2d ed.; „The Cambridge Economic History of Europe“, vol. 1 London, Cambridge University Press, 1966 175 „Macroeconomics from the beginning: The General Theory, Ancient Markets, and the Rate of Interest“, David Warburton Paris, Recherches et Publications, 2003 p.49

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Manifestierung der Entwicklung von tief verwurzelten historischen Annahmen von menschlicher Natur und sozialer Beziehungen ist.176 Erstens erkennt man, dass durch diese Evolution hindurch auf die eine oder andere Weise eine Klassenteilung erkannt und praktiziert wurde. Die Menschen wurden generell in zwei Gruppen eingeteilt.177 Diejenigen, die für geringe Entlohnung produzieren und diejenigen, die von dieser Produktion profitieren. Von antiker ägyptischer Sklaverei178 über die Bauern, die in Abhängigkeit von ihrem Lehnsherren während des mittelalterlichen Feudalismus179 schufteten, bis hin zu der versteckten systematischen Unterdrückung von Markthändlern durch das Staatsmonopol des Merkantilismus180 war die Ungleichheit allgegenwärtig. Eine zweite in den westlichen sozioökonomischen Philosophien vorherrschende Eigenschaft ist eine grundlegende Vernachlässigung (oder vielleicht Ignoranz) wichtiger Beziehungen zwischen der menschlichen Spezies und dem ihr vorliegenden, sie fördernden Lebensraum. Auch wenn es einige Ausnahmen gibt, wie beispielsweise die eingeborenen Stämme der vorkolonialen amerikanischen Ureinwohner,181 blieb westliches wirtschaftliches Denken nahezu völlig abseits dieser Betrachtungen. In letzter Zeit allerdings zwangen drastische ökologische Probleme die Öffentlichkeit/Regierungen zu einer Reaktion und einem generellen Interesse an „Reformen“.182 Ein dritter und letzter zu nennender Punkt ist eine generelle Ablehnung der Ansicht, dass das Wohlbefinden einer Person, im Sinne der menschlichen Bedürfnisse und demnach der Volksgesundheit, eine gesellschaftliche Angelegenheit ist. Fortschritte in den Humanwissenschaften, die erst nach der Manifestierung Hauptdoktrinen des wirtschaftlichen Denkens geschahen, entdeckten, dass menschliche Konsumwünsche und menschliche Bedürfnisse183 nicht dasselbe sind. Die Vernachlässigung Letzterer kann viele negative Folgen, nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Gesellschaft, haben. Beispielsweise konnten asoziales, „kriminelles“ und gewalttätiges Verhalten auf viele Formen der sozialen Armut zurückgeführt werden, deren Ursachen in der sozioökonomischen Tradition liegen.184

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Die „Emergenz" wirtschaftlicher Entwicklungen zu berücksichtigen, scheint ein relativ neues Konzept zu sein, welches hauptsächlich von Thorstein Veblen im frühen 20. Jahrhundert eingeführt wurde. Literaturempfehlung zu dem Thema der wirtschaftlichen Entwicklung: The Evolution of Institutional Economics: Agency, Structure and Darwinism in American Institutionalism, Geoffrey M. Hodgson, London, Routledge, 2004 177 Die Unterteilung von „Klassen“ in spezifische Kategorien ist historisch nicht von besonderer Bedeutung. Der Punkt hier ist die ständige Existenz einer eindeutig dominanten Klasse, sei es nun der altertümliche Adel oder die moderne Finanzoligarchie. 178 Literaturempfehlung: „The Historical Encyclopedia of World Slavery“, Junius P. Rodriguez, Vol I, Section E 179 Literaturempfehlung: „Mediaeval Feudalism, Carl Stephenson“, Cornell University Press, 1956 180 „A History of Economic Theory and Method“, Robert B. Ekelund; Robert F. Hébert, New York: McGraw–Hill, 1975 181 Literaturempfehlung: „Defending Mother Earth: Native American Perspectives on Environmental Justice“, Jace Weaver, Orbis Books, 1996 182 Die Liste an ökologischen Problemen für die Menschheit (von Klimadestabilisierung über Umweltverschmutzung zu Ressourcenerschöpfung oder dem Verlust an Biodiversität und anderen beständigen Gefahren für die Volksgesundheit) würde hier den Rahmen sprengen. Aus Sicht von TZM sind diese Probleme zum größten Teil ein Ergebnis der kapitalistischen Prämisse (Annahme) und den damit akzeptierten Ansätzen und Werten. 183 Die Konsummuster der modernen Gesellschaft haben sich hinsichtlich „menschlicher Wünsche“ als willkürlich herausgestellt. Ein Beleg hierfür ist die starke Veränderung der Werte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Grund der modernen westlichen Werbemethoden. Die „menschlichen Bedürfnisse“, durch welche die physische und psychologische Gesundheit aufrechterhalten wird, sind jedoch bei allen Menschen weitgehend identisch. 184 Siehe vorheriges Kapitel: „Definieren der Volksgesundheit“

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Allgemein kann man sagen, dass das System solche gesellschaftlichen Folgen von Grund auf ignoriert. Diese werden oft lediglich als „externe Effekte“ abgetan. Diese Tatsache wurde im 18. Jahrhundert weiter fortgeführt mit dem „sozialdarwinistischen“185 Unterton, der Prämisse „Arbeit gegen Lohn“, die den Menschen auf ein Objekt reduziert, welches durch seine oder ihre Beiträge für das Arbeitssystem definiert und bewertet wird. Wenn es dem durchschnittlichen Bürger nicht möglich ist, einen Arbeitsplatz zu erhalten oder sich anderweitig erfolgreich an der Marktwirtschaft zu beteiligen, gibt es keine wirkliche Sicherung für das Überleben oder Wohlbefinden eines Menschen - außer, wenn der „Staat“ in Form von „Sozialhilfe“ einschreitet. Heute wird diese Tatsache kontrovers diskutiert. Der „Stempel“ des „Sozialismus“ ist eine reflexhafte Ablehnungs-Reaktion geworden, wann immer die Regierungspolitik versucht, direkte Hilfe für Menschen ohne die Nutzung der Marktmechanismen des Verkaufs/der Arbeit, bereitzustellen . Die Anfänge der kapitalistischen Marktwirtschaft Der Feudalismus des Mittelalters (ungefähr vom 9. bis zum 16. Jahrhundert) war damals das vorherrschende sozioökonomische System, welches der „kapitalistischen Marktwirtschaft“ im westlichen Europa vorausging. Der spätere „Merkantilismus“ kann als Übergangsphase angesehen werden. Der Feudalismus basierte auf gegenseitigen Pflichten und Dienstleistungen, die in einer gesetzten gesellschaftlichen Hierarchie festgelegt waren. Die Gesellschaft des Mittelalters war zum größten Teil eine Agrargesellschaft und die soziale Hierarchie baute sich auf der Verbindung der Menschen zu ihrem Grundstück auf. Die Hauptinstitutionen der Wirtschaft waren die „Gilden". Wenn jemand eine Ware oder Dienstleistung produzieren oder verkaufen wollte, so trat er/sie üblicherweise einer Gilde bei. Über diese Zeit könnte viel gesagt werden und wie bei jeder geschichtlichen Thematik ist sie Gegenstand von Interpretationen und Debatten. Aufgrund des Themas dieses Kapitels wird jedoch nur ein sehr allgemeiner Überblick über den wirtschaftlichen Übergang zum Kapitalismus gegeben.186 Als sich die Agrar- und Transporttechnologien verbesserten, kam es zur Expansion des Handels. Im 13. Jahrhundert erhöhte sich die Reichweite der Marktbeziehungen enorm, beispielsweise durch das Aufkommen des vierrädrigen Wagens. Ebenso kam es zu vermehrter Arbeitsspezialisierung, Konzentration in Städten und Bevölkerungswachstum.187 Diese Veränderungen, zusammen mit der einhergehenden erhöhten Macht der „Kaufmanns-Kapitalisten“, schwächten langsam die traditionellen, gewohnten Verbindungen, die die feudalistische Gesellschaftsstruktur zusammenhielten. Mit der Zeit entstanden komplexe Städte, für die es möglich war, Unabhängigkeit von ihren Feudalherren zu erlangen. Zudem entwickelten sich immer komplexere Systeme des Handels, des Geldes und der Gesetzgebung, von denen viele 185

Der „Sozialdarwinismus“ ist eine sehr allgemeine Ideologie, die die biologischen Konzepte des Darwinismus, bzw. Theorien von der Art „Survival of the Fittest“ (oft fälschlicherweise als „Überleben des Stärkeren" verstanden), auf die Soziologie oder die Politik anwenden möchte. Der Begriff wurde in den Vereinigten Staaten 1944 durch den Historiker Richard Hofstadter verbreitet. Die Grundidee dieses Konzepts tauchte jedoch schon lange vor Darwins Zeit in der Philosophie auf. 186 Literaturempfehlung: „Mediaeval Feudalism“, Carl Stephenson, Cornell University Press, 1956 187 Literaturempfehlung: „The Economy of Early Renaissance Europe, 1300–1460“, Harry A. Miskimin, Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall, 1969, p.20

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grundlegende Aspekte des modernen Kapitalismus widerspiegelt wurden. Im gewohnten feudalistischen System war der „Handwerks“-Produzent auch derjenige, der an den Kunden/Konsumenten verkaufte. Als jedoch die Entwicklung des Marktes um diese neuen Stadtzentren voranschritt, verkaufte der Handwerker mit Mengenrabatten an nicht produzierende Händler, die dann in entfernteren Märkten für „Profit“ verkauften - ein weiteres Element, das später typisch für die Marktwirtschaft sein wird. Im 16. Jahrhundert war die für den Feudalismus typische Handwerkerindustrie zu einem groben Spiegelbild dessen geformt worden, was wir heute kennen. Dies beinhaltete das Outsourcen von Arbeit und den alleinigen Besitz an Produktionsmitteln. Viele Menschen wurden so mehr und mehr „beschäftigt“, anstatt selbst zu produzieren („Arbeiter-Klasse“). Schließlich wurde die Logik um den monetären Profit zum systematisch wichtigsten Entscheidungsfaktor aller Handlungen, wodurch der tatsächliche Grundstein für den Kapitalismus gelegt wurde.188 Der vom 16. bis zum späten 18. Jahrhundert herrschende Merkantilismus diktierte die Wirtschaftspolitik zu dieser Zeit.189 Er war geprägt von staatlich-kontrollierten Handelsmonopolen, die eine „positive Handelsbilanz“190 sicherstellen sollten. Dazu kamen mit der Zeit viele weitere umfangreiche Regulierungen für Produktion, Löhne und Handel, wodurch die Macht des Staates weiter gestärkt wurde. Geheime Absprachen zwischen dem Staat und diesen aufkommenden Industrien waren üblich. Viele Kriege wurden aufgrund dieser Praktiken geführt, da sie auf Handelseinschränkungen zwischen Ländern basierten, welche oft ökonomischer Kriegsführung gleichkamen.191 Adam Smith, der später noch in diesem Kapitel besprochen werden wird, schrieb eine ausführliche Kritik über den Merkantilismus in seinem 1776 erschienen klassischen Text „Der Wohlstand der Nationen“.192 Dies war die wirkliche ideologische Geburtsstunde der „freien Marktwirtschaft“ in ihrer Theorie. Diese ging mit einer Ablehnung des „staatlich-kontrollierten“ Marktes einher, bei dem der Staat in die „Freiheit“ des Marktes „eingreift“ - ein wichtiges Merkmal des Merkantilismus.193 Heute wird der „Kapitalismus“ im Allgemeinen kulturell im theoretischen Kontext des „freien Marktes“ und nicht des „staatlich-kontrollierten“ Marktes definiert, obwohl sich lange darüber streiten lässt, was für ein System wir heute wirklich haben. In der 188

Literaturempfehlung: „Studies in the Development of Capitalism“, Maurice H. Dobb, London, Routledge and Kegan Paul, 1946, Chapter 4 189 „The Concise Encyclopedia of Economics“, David R. Henderson, Liberty Fund, Inc, 2002, „Mercantilism“ 190 Eine positive Handelsbilanz wird auch als „Handelsüberschuss“ bezeichnet und bedeutet, mehr zu exportieren, als zu importieren (gemessen in Geld). Ein solches Vorgehen des Staates wird heute oft als „Protektionismus“ bezeichnet. 191 „The Growth of Economic Thought“, Henry William Spiegel, Duke University Press, 3rd Ed, 1991, pp.93-118. 192 „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, Adam Smith, 1776, Book IV: „Of Systems of Political Economy“ 193 Murray Rothbard, ein Ökonom der modernen österreichischen Schule, fasste die Position und Kritik des Etatismus zusammen: „Der Merkantilismus, der seinen Höhepunkt im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts erreichte, war ein System des Etatismus, das wirtschaftliche Fehlschlüsse anwandte, um eine Struktur der imperialistischen Staatsmacht aufzubauen. Dazu gehören ebenso die besonderen Subventionierungen und monopolistischen Privilegien für durch den Staat bevorzugte Individuen oder Gruppen. Daher sollte nach der Lehre des Merkantilismus die Regierung den Export fördern und den Import vermeiden“. [„Mercantilism: A Lesson for Our Times?“, Murray Rothbard, Freeman, 1963]

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Realität gibt es kein reines System des „freien“ oder „staatlich-kontrollierten“ Marktes, sondern eine komplexe Fusion zwischen beiden. Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, drehen sich die meisten Diskussionen und Schuldzuweisungen, hinsichtlich wirtschaftlicher Abläufe, um diese polarisierenden Konzepte.194 Definition des Kapitalismus Der Kapitalismus,195 wie wir ihn heute in seinen Einzelheiten kennen, nicht nur mit seiner wirtschaftlichen Theorie, sondern auch mit seinen gravierenden politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen, entwickelte sich langsam zu seiner heutigen Form über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten. Es sollte zunächst erwähnt werden, dass es keine Übereinstimmung unter Wirtschaftshistorikern/-theoretikern gibt, was wirklich die zentralen Elemente des Kapitalismus sind. Wir werden jedoch seine historischen Betrachtungen (welche einige vielleicht als diskutabel ansehen) auf vier grundlegende Elemente beschränken. 1) Marktbasierte Produktion/Verteilung: Güterproduktion basiert auf komplexen Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten, die keine direkte persönliche Interaktion zwischen Produzenten und Konsumenten erfordern. Angebot und Nachfrage werden durch das „Markt“-System reguliert. 2) Privater Besitz der Produktionsmittel: Das bedeutet, dass die Gesellschaft privaten Personen das Recht gestattet, zu bestimmen, wie für die Produktion notwendige Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen und Einrichtungen genutzt werden. 3) Entkopplung von Eigentum und Arbeit: Kurz gesagt, gibt es eine immer währende Klassenteilung: Auf der höchsten Ebene stehen die „Kapitalisten“,196 die, nach der historischen Definition, die Produktionsmittel besitzen, aber keine Pflicht haben, etwas zu der Produktion selbst beizutragen. Alles was von den Arbeitern, die nur ihre Arbeitskraft besitzen, produziert wird, besitzt mit rechtlicher Gültigkeit der Kapitalist. 4) Selbst-maximierendes Interesse wird angenommen: Individualistische, wettbewerbsbetonte und habgierige Interessen sind notwendig, um den Kapitalismus erfolgreich funktionieren zu lassen, da ein dauerhafter Druck zum Konsumieren und Expandieren benötigt wird, um Rezessionen, Depressionen und andere Probleme zu vermeiden. In vielerlei Hinsicht ist dies die „rationale“ Sichtweise des Verhaltens, die davon ausgeht, dass das System ohne Einschränkungen funktionieren würde, wenn alle auf diese bestimmte Weise handeln.197

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Wie in dem Kapitel „Wertesystem-Störung“ argumentiert wird, ist das eine falsche Dualität. Zudem ist sie hinsichtlich der zugrunde liegenden Probleme, die häufig der polarisierten Debatte zugeschrieben werden, irrelevant. 195 Von jetzt an wird in diesem Kapitel der Begriff „Kapitalismus“ in seiner häufigsten kulturellen Form verwendet, also im theoretischen Kontext des „freien Marktes“. 196 Eine Person, die diesen wirtschaftlichen Ansatz unterstützt, könnte zwar als „Kapitalist“ bezeichnet werden, eine genauere Definition lautet jedoch: „Eine Person, die besonders viel Kapital, in geschäftlichen Unternehmungen investiert hat.“ [http://dictionary.reference.com/browse/capitalist] Mit anderen Worten: Dies ist eine Person, die Kapital besitzt oder investiert, um Rendite oder Profit zu gewinnen, jedoch keinerlei Verpflichtung hat, zu der eigentlichen Produktion oder der Arbeit beizutragen. 197 Eine Folge daraus ist die für die mikroökonomische Theorie des freien Marktes typische „rationale Entscheidungstheorie“ und die „Nützlichkeitstheorien“, die versuchen, menschliche Handlungen und verschiedene Modelle des Verhaltens zu quantifizieren. Mehr hierzu folgt später in diesem Kapitel.

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Locke: Entstehung des „Eigentums“ Eine tief verwurzelte philosophische Vorstellung des kapitalistischen Systems ist das „Eigentum“. Der englische Philosoph John Locke (1632-1704) ist diesbezüglich eine wichtige Persönlichkeit. Auch er wird in Adam Smiths „Der Wohlstand der Nationen“ zitiert. Locke definiert nicht nur die grundsätzliche Idee, er zeigt ebenso einen subtilen, aber starken Widerspruch auf. In Kapitel V mit dem Titel „Eigentum“ von Lockes 1689 veröffentlichter zweiter Abhandlung „Über die Regierung“ stellt er eine These über die Natur von Eigentum und seine Aneignung auf. Er schreibt: „Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sei streng seines. Wenn er also etwas bearbeitet, was von der Natur bereit gestellt wurde und seine Arbeit mit einbringt, so erschafft er etwas, was ihm gehört und somit macht er es zu seinem Eigentum.“198 Diese Aussage (die später die so genannte „Arbeitswerttheorie“ stützen wird) stellt die Logik auf, dass der Arbeiter, da er seine Arbeit „besitzt“ (da er sich selbst besitzt), mit der Energie seiner Arbeit, dieses „Eigentumsanrecht“ auch auf das geschaffene Produkt überträgt. Seine philosophische Position ist, im Grunde genommen, von einer christlichen Perspektive abgeleitet. In dieser heißt es: „Gott gab den Menschen die Erde als Gemeingut. Da er sie ihnen aber zu ihrem größtmöglichen Nutzen und Vorteil gab, kann er nicht im Sinne gehabt haben, sie im gemeinschaftlichen Besitz und unkultiviert zu belassen.“199 Aus dieser Deklaration der „gemeinschaftlichen“ Art der Erde und ihrer Früchte für die gesamte Menschheit - bevor es zu einer „Kultivierung“ über die Aneignung von Eigentum kam - leitet er weiter ab, dass die Eigentümer dazu veranlasst sind, nichts verkommen zu lassen („Nichts wurde von Gott für den Menschen gemacht, um es zu verderben oder zu zerstören.“200) und er muss genug für andere übrig lassen („Diese Aneignung eines Stück Landes, durch dessen Verbesserung, geschah nicht auf Kosten eines anderen Menschen, da es genug [und genauso Gutes] für die anderen gab [...]“).201 Diese Werte, in einfacher Form, scheinen im Allgemeinen sozial gerechtfertigt zu sein. Er macht bis zu diesem Punkt klar, dass Eigentum nur insofern relevant ist, wie es sich mit den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Eigentümers, zu kultivieren oder zu produzieren, deckt.202 In Abschnitt 36 jedoch deckt er eine interessante Tatsache auf. Die Implikationen davon hat Locke vermutlich nicht voraussehen können und diese machen alle vorher genannten Argumente zur Verteidigung von Privateigentum zunichte. Er schrieb: „Die 'eine Sache', die dies verhindert, ist die Erfindung von Geld und des Menschens 198

„Second Treatise of Government“, John Locke, Chapter V, Section 27, 1689 ebd., Chapter V, Section 34 200 ebd., Chapter V, Section 31, 1689 201 ebd., Chapter V, Section 33, 1689 202 Locke schreibt: „Die Grenzen für Privateigentum hat die Natur sehr gut gesetzt: Durch die Grenzen, wie viel ein Mensch arbeiten kann, und durch die Grenzen, wie viel er braucht. Keines Menschen Arbeit konnte das gesamte Land bewirtschaften; keines Menschen Genuss konnte mehr konsumieren als einen kleinen Teil, sodass es für keinen möglich war, das Recht eines anderen zu verletzen oder Eigentum zum Nachteil seines Nächsten anzuhäufen [...]“ [„Second Treatise of Government“, John Locke, Chapter V, Section 36, 1689] 199

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stillschweigende Zustimmung, ihm Wert zuzuschreiben. Das macht es möglich - mit der Zustimmung der Menschen - größeren Besitz und mehr Recht, als ihm zusteht, an diesem zu haben.“203 Seine ursprüngliche Annahme: „Jeder kann durch seine Arbeit so viel besitzen, wie er sinnvoll zu nutzen vermag, bevor es verkommt. Alles, was darüber hinausgeht, übersteigt seinen Anteil und gehört anderen“,204 zeigt sich jetzt, als sehr schwer zu verteidigen, da Geld nun „erlaubt, größeren Besitz, als ihm zusteht, zu haben“, wodurch seine Idee: „Alles was mehr als sein Anteil ist, gehört anderen“, aufgehoben wird. Noch schwerwiegender impliziert es, dass Geld Arbeit kaufen kann, wodurch die Aussage: „er [in diesem Fall der Käufer] bringt seine Arbeit mit ein und erschafft demnach etwas, dass ihm gehört; und so schafft er etwas, das sein Eigentum ist“, nichtig wird.205 Zuletzt ist seine Bedingung: „Nichts wurde von Gott für den Menschen gemacht, um zu verkommen.“,206 nichtig mit der neuen Assoziation, dass Geld (damals Gold oder Silber) schlichtweg nicht verderben kann. „So entstand Geld - als etwas Haltbares, dass der Mensch behalten konnte, ohne dass es verdirbt und mit gegenseitiger Zustimmung würde er es im Tausch gegen die wahrhaft nützlichen, aber vergänglichen, Lebensnotwendigkeiten akzeptieren.“207 Hier finden wir, zumindest im literarischen Rahmen, den wahren Keim der kapitalistischen Rechtfertigung von Eigentum mit der Nutzung von Geld als eigenständige, abstrakte Ware (tatsächlich als angenommene Verkörperung von „Arbeit“). Dies erlaubte die Entwicklung von Gedankengut und Praktiken, die den Fokus zunehmend auf Eigentumsmechanismen und Gewinnstreben legen,208 anstatt auf die tatsächlich relevante Produktion (Lockes „Kultivierung“). Adam Smith Adam Smith (1723-1790) wird oft als einer der einflussreichsten Wirtschaftsphilosophen der modernen Geschichte beschrieben. Seine Arbeit, die natürlich auf den philosophischen Werken vieler vor ihm basierte, wird oft als Grundlage für wirtschaftliches Denken im Kontext des modernen Kapitalismus gesehen. Smith wuchs im Anbruch der industriellen Revolution heran.209 Man könnte sagen, er lebte in einer Zeit, in der die inhärenten Eigenschaften der kapitalistischen „Produktionsweise“, in Anbetracht der Einführung von konzentrierten, zentralisierten Produktionsstätten und Märkten, immer deutlicher wurden. Wie bereits erwähnt, veröffentlichte Smith 1776 sein weltbekanntes Werk „Der Wohlstand der Nationen“. Neben vielen wichtigen Beobachtungen hat er als Erster die drei grundlegenden Kategorien des Einkommens zu dieser Zeit erkannt - (a) 203

ebd., Chapter V, Section 36, 1689 ebd., Chapter V, Section 31, 1689 205 ebd., Chapter V, Section 27, 1689 206 ebd., Chapter V, Section 31, 1689 207 ebd., Chapter V, Section 47, 1689 208 Der Aktienmarkt und die zunehmende Macht der Investitions/Finanzmächte im 21. Jahrhundert rund um die Erde reflektieren diese Zuspitzung gut. Es zeigt sich, dass lediglich der Akt von Besitz und Handel durch Geld allein, ohne die Notwendigkeit für Produktion/Kultivierung und Dienst am Menschen, zum profitabelsten Sektor der Welt geworden ist. 209 Die industrielle Revolution geschah von 1760 bis 1820/1840 und begann laut den meisten Historikern in Europa. Dies war im Prinzip der Übergang/die Anwendung von neuen, auf Technologie basierenden Produktionsprozessen. 204

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Profite, (b) Mieten und (c) Löhne - und wie sie zu den Klassen der Gesellschaft in Bezug standen - (a) Kapitalisten, (b) Grundstückseigentümer und (c) Arbeiter. Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Rolle der Grundstückseigentümer/Mieten, die heute in den meisten modernen Abhandlungen nicht diskutiert wird, damals ein üblicher Hauptfokus war, da die vorindustriellen Systeme zu dieser Zeit sehr auf der Landwirtschaft basierten. Dadurch gewannen die Grundstückseigentümer an Bedeutung (welche sich später in Markttheorien der Zukunft in der einfachen Klassifizierung Eigentümer auflösten). Smiths wichtigster Beitrag zu der kapitalistischen Philosophie war seine folgende Idee: Auch wenn Individuen in einer engen, egoistischen Weise auf ihren eigenen Vorteil bedacht oder bedacht auf den Vorteil von einer Klasse oder Gruppe, zu der sie gehören, handeln würden und auch wenn individuelle sowie klassenbasierte Konflikte das Ergebnis dieser Handlungen seien - so gäbe es eine so genannte „unsichtbare Hand“; Diese würde ein positives gesellschaftliches Resultat aus exzentrischen, egoistischen, nicht-sozialen Absichten sicherstellen. Dieses Konzept wurde in „Der Theorie der ethischen Gefühle“210 und „Der Wohlstand der Nationen“ präsentiert. Er schrieb in Letzterem: „Jedes Individuum bemüht sich demnach mit seinem Kapital, die heimische Industrie bestmöglich zu unterstützen und diese Industrie so zu lenken, dass dessen Erzeugnisse den höchsten Wert haben. Jedes Individuum arbeitet notwendigerweise, um das jährliche Einkommen einer Gesellschaft so weit wie möglich zu erhöhen. In der Tat hat es im Allgemeinen weder die Absicht, das Gemeinwohl zu verbessern, noch weiß es, wie sehr es dieses verbessert;[...] es möchte nur seinen eigenen Gewinn und es wird, wie in vielen anderen Fällen auch, durch eine unsichtbare Hand geleitet, ein Ziel zu erreichen, welches nicht seiner Absicht entsprach. Auch ist es nicht immer schlecht für die Gesellschaft, dass dies nicht die Intention war. Durch das Verfolgen seiner eigenen Interessen verfolgt es die Interessen der Gesellschaft häufig effektiver, als wenn dies seine tatsächliche Intention wäre.“211 Dieses beinahe religiöse Ideal hatte starke Auswirkungen auf die Ära nach Smith, da es das üblicherweise selbstmaximierende, asoziale Verhalten der kapitalistischen Psychologie sozial rechtfertigte. Diese einfache Philosophie entwickelte sich zum Teil als Grundlage der „neoklassischen“212 Wirtschaftstheorie, die im späten 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm. 210

„Nur daß die Reichen aus dem ganzen Haufen dasjenige auswählen, was das kostbarste und ihnen angenehmste ist. Sie verzehren wenig mehr als die Armen. Trotz ihrer natürlichen Selbstsucht und Raubgier und obwohl sie nur ihre eigene Bequemlichkeit im Auge haben, obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die Arbeit all der Tausende, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befriedigung ihrer eigenen eitlen und unersättlichen Begierden ist, trotzdem teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie in ihrer Landwirtschaft einführen. Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung.“ [„Theorie der ethischen Gefühle“] http://www.inwo.ch/cms/Lesegruppe/leseabend/2303/vorbereitung/SmithTheorieDerEthischenGefuehle.pdf Englische Quelle: [„The Theory of Moral Sentiments“ par. IV.I.10, 1790] 211 „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, Adam Smith, 1776, par. IV.2.9 212 Es gibt keine feste Definition der „neoklassischen Wirtschaft“. Jedoch beinhaltet eine allgemeine, kulturell verbreitete Zusammenfassung das breite Interesse an einem „freien“, unregulierten Markt und einen Fokus auf die Bestimmung von Preisen, Produktionsmenge und Einkommensverteilung in Märkten durch Angebot und Nachfrage. Dies wird oft durch eine hypothetische Maximierung des Nutzens durch einkommensarme Individuen und durch Profite von kostenbeschränkten Unternehmen mediiert.

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Smith waren die Klassenkonflikte des Kapitalismus sehr wohl bekannt. Daher diskutierte er zusätzlich, wie manche Menschen „Überlegenheit über die meisten ihrer Art“ erlangen können.213 Damit bekräftigte er das angenommene „Naturgesetz“ der menschlichen Macht und Unterwerfung von weiteren Theoretikern. Seine Vorstellung von Eigentum war in Einklang mit John Lockes. Smith führte weiter aus, wie sich die Gesellschaft, darauf basierend, entwickelt. Er schrieb: „Die Zivilregierung, die für die Sicherheit des Eigentums gegründet wurde, wurde tatsächlich zur Verteidigung der Reichen gegen die Armen gegründet bzw. von denjenigen, die etwas Eigentum haben, gegen diejenigen, die gar keines haben.“214 Eigentum, als Institution, benötigt Mittel, um seinen Wert zu rechtfertigen. Für diesen Zweck wurden und werden verschiedene „Werttheorien“ entworfen. Oft mit Quellenverweisen bis hin zu Aristoteles' „Politik“ wird Smiths Beiträgen immer noch ausschlaggebender Einfluss zugerechnet. Tatsächlich baut Smith auf Lockes Annahme des „Einbringens von Arbeit“ für Produktion bzw. Eigentum und erweitert sie zu einer „Arbeitstheorie des Wertes“. Er schreibt: „Arbeit war der erste Preis - das ursprüngliche Geld, mit dem man Dinge bezahlte. Nicht mit Gold oder Silber, sondern mit Arbeit wurde der gesamte Reichtum der Welt ursprünglich erworben; und der Wert für den, dem es gehört und der es gegen neue Produktion eintauschen möchte, ist gleich der Menge an Arbeit, die er dadurch erwerben oder befehligen kann.“215 Viele Kapitel des ersten Buches „Der Wohlstand der Nationen“ erklären die Natur von Preisen/Werten bezüglich der genannten Kategorien bzw. Klassen von Einkommen: „Löhne“, „Mieten“ und „Profite“. Jedoch kann man sehen, dass diese Logik eher ein Zirkelschluss ist, da die Preisbewertung lediglich aus einer Kette von anderen Preisbewertungen mit keinem wirklichem Anfangspunkt hervorgeht - abgesehen von der vagen Bestimmung von angewandter Arbeitskraft, die natürlich keinen intrinsischen, festen monetären Wert hat. Das Problem der Unklarheit in beiden vorherrschenden „Arbeitswert-“ und „Nutzwert“-Theorien, die für die kapitalistische Markttheorie geläufig sind, werden später in diesem Kapitel näher untersucht. Insgesamt deklariert Smiths Wirtschaftstheorie „Laissez-faire“-Kapitalismus als bestmögliche sozioökonomische Handlungsweise. Er schrieb, dass es ein „System von natürlicher Freiheit“ sei und „Solange er nicht die Gesetze der Justiz verletzt, steht es jedem Menschen komplett frei, seinen eigenen Interessen nachzugehen und seine Industrie sowie sein Kapital in Wettbewerb mit jedem anderen Menschen oder jeder anderen Organisation von Menschen zu setzen.“216 Das letztere Konzept ist, wie später im Kapitel „Wertesystem-Störung“ näher erläutert wird, eine eher naive Sichtweise des menschlichen Verhaltens und tatsächlich ein Widerspruch in sich selbst. Malthus und Ricardo Thomas Malthus (1766-1834) und David Ricardo (1772-1823) waren zwei weithin anerkannte, führende Theoretiker der politischen Ökonomie des frühen 19.

213

ebd., par. V.1.2 ebd. 215 ebd. 216 ebd., par. IV.9.51 214

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Jahrhunderts. Sie waren in gewisser Hinsicht „freundliche Rivalen“, aber insgesamt teilten sie nahezu gemeinsame Ansichten - eng mit denen Adam Smiths verknüpft. Die späte industrielle Revolution in Europa und Amerika war eine Zeit, geprägt von vielen Konflikten zwischen Arbeitern und kapitalistischen Eigentümern. Als Reaktion auf die grausamen und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, nicht nur für die Männer, sondern auch für Frauen und Kinder, waren zahlreiche Revolten und Streiks Normalität. Dadurch entstanden die heute bekannten Gewerkschaften und seitdem besteht ein ständiger Kampf zwischen „Arbeitern und Eigentümern“. Um das Ausmaß dieses Klassenkampfes zu verdeutlichen: In England wurde mit dem „Combination Act“ von 1799 (im deutschen Raum als Koalitionsverbot bezeichnet) verboten, dass sich Arbeiter zusammentun, um Einfluss auf die Interessen der Arbeitgeber auszuüben oder diese zu behindern.217 Der Historiker Paul Mantoux schrieb zu dieser Zeit einen Kommentar zu „der absoluten und unkontrollierten Macht des Kapitalisten: Damit wurde das heroische Zeitalter der großen Unternehmungen bekannt, anerkannt und sogar mit brutaler Offenheit verkündet. Es war des Arbeitgebers eigene Angelegenheit. Er machte, was er wollte und erwog nicht, dass eine weitere Rechtfertigung seines Handelns nötig sei. Er schuldete seinen Angestellten Löhne und wenn diese bezahlt waren, hatten die Menschen ihm gegenüber keinen weiteren Anspruch.“218 Auf der Grundlage all dessen haben Malthus und Ricardo ihre wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ansichten verfasst. Betrachten wir zunächst Malthus. Sein klassisches Werk „Das Bevölkerungsgesetz“ basiert im Grunde auf zwei Annahmen. Die Erste ist, dass die Klassenstruktur der reichen Eigentümer und armen Arbeiter unweigerlich wieder aufkommen würde, ganz gleich welche Reformen man anstrebt.219 Er sah dies als ein Gesetz der Natur an. Die zweite Idee (die logische Schlussfolgerung aus der Ersten) war, dass Armut und Leid und somit wirtschaftliche Disparitäten eine unabwendbare Konsequenz der Naturgesetze seien.220 Seine These der Bevölkerung basiert auf der sehr einfachen Annahme, dass „Bevölkerungen - wenn ungehindert - sich in einer geometrischen Rate vermehren.“ Das Lebensmittelangebot dagegen vermehrt sich nur in einer arithmetischen Rate.221 Demnach würden die meisten Menschen mehr Kinder bekommen (wollen), wenn sich der Lebensstandard für jeden erhöht. Also würde die Bevölkerung sehr bald in die Armut zurückgedrängt werden, da die „Bevölkerung“ sich schneller vergrößert als das „Lebensmittelangebot“. Nur durch „moralische Einschränkung“222 - eine soziale Fähigkeit, die er implizit den höheren Bevölkerungsschichten zuschrieb - könnte 217

Diese Macht der kapitalistischen Interessen, sich in die Regierung einzumischen und in vielerlei Hinsicht die Regierung zu werden, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, wird auch in dem Kapitel „Wertesystemstörung“ untersucht. 218 „The Industrial Revolution in the Eighteenth Century“, Paul Mantoux, Harcourt Brace Jovanovich, New York, 1927, p.417 219 Er schreibt: „Kein Opfer der Reichen, speziell in Form von Geld, kann die Rückkehr von Elend in den unteren Rängen der Gesellschaft verhindern, wer immer das auch sein mag.“ [„An Essay on the Principle of Population“, Thomas Malthus, 1798, Chapter 5] 220 Er schreibt: „Es zeigt sich, dass nach den unvermeidlichen Gesetzen unserer Natur manche Menschen leiden müssen. Dies sind unglückliche Menschen, die in der großen Lotterie des Lebens eine Niete gezogen haben.“ [„An Essay on the Principle of Population“, Thomas Malthus, 1798, Chapter 10] 221 „An Essay on the Principle of Population“, Thomas Malthus, 1798, Chapter 1 222 Aus seiner zweiten Auflage von „An Essay on the Principle of Population“, 1836, Principles of Political Economy, vol. 1, p.14. New York, Augustus M. Kelley, 1964.

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dieses Problem durch ein angepasstes Verhalten behoben werden. Demnach war der Unterschied zwischen den Reichen und den Armen der hohe moralische Charakter der Ersteren und die einfache Moral der Letzeren.223 Wie in vorherigen Kapiteln erwähnt, hat die intuitive kulturelle Situation der damaligen Zeit, viel mit den immer währenden Denkmustern zu tun, die unsere heutigen wirtschaftlichen Handlungen leiten. Auch wenn heute viele Menschen Malthus und diese eindeutig veralteten Ideen ablehnen, wurde der Keim tief in die wirtschaftlichen Doktrinen, Werte und die damals wie heute auftretenden Klassenbeziehungen gepflanzt. Tatsächlich werden heute immer noch Variationen seines Bevölkerungsgesetzes von den eher „Konservativen“ vorgebracht, wenn es um wirtschaftlich unterentwickelte Länder geht. Malthus, wie auch Locke und Smith, weisen in ihrem Bezugsrahmen auch tiefe christliche Überzeugungen auf, entweder direkt aus den Schriften oder basierend auf persönlicher Interpretation. Malthus umrahmte seine „moralische Einschränkung“ mit der Implikation, dass ein wahrhafter rechtschaffener Christ solche einfachen Laster aufgeben würde und auch das nötige unabwendbare Elend akzeptieren würde, um die Gesellschaft vor einer Überbeanspruchung der Ressourcen zu bewahren. Genauso wie es heute eine große Debatte bezüglich der Gesetze gibt, die den Armen in Form von „Sozialhilfe“ oder „öffentlichen Unterstützungsprogrammen“ helfen soll,224 so war natürlich auch Malthus ein großer Verfechter der Abschaffung der damals so genannten „Armen-Gesetze“ - ebenso wie David Ricardo. Fahren wir mit Ricardo fort. Er akzeptierte im Grunde Malthus Bevölkerungsgesetz und seine Schlussfolgerungen bezüglich der Natur und Ursachen von Armut. Jedoch stimmte er nicht mit einigen Wirtschaftstheorien überein, wie beispielsweise Malthus' Werttheorie, Sättigungstheorie und manchen Klassenannahmen. Da die meisten dieser Unstimmigkeiten im Detail überflüssig im Sinne dieser weitläufigen Diskussion sind (und wohl generell ebenso als veraltet angesehen werden können), werden Ricardos wichtigste Beiträge zum wirtschaftlichen Denken hier der Fokus sein. 1821 hat Ricardo seine dritte Auflage seines einflussreichen Werks „Principles of Political Economy and Taxation“ (Politische Ökonomie und Besteuerung) fertiggestellt. In dem Vorwort formuliert er seine Absicht: „Die Erzeugnisse der Erde, [...] all das, was von ihrer Oberfläche durch die vereinigte Anwendung von Arbeit, Maschinen und Kapital erzeugt wird, wird unter den drei Klassen der Gemeinschaft aufgeteilt. Also unter dem Landbesitzer, unter dem Eigentümer des für die Kultivierung benötigten Kapitals und unter den Arbeitern, durch deren Fleiß sie kultiviert wird. Die Gesetze zu bestimmen, die diese Verteilung regulieren, ist die zentrale Frage der politischen Ökonomie.“225 223

Es ist wichtig anzumerken, dass die malthusianische Bevölkerungstheorie bezüglich der das Bevökerungswachstum betreffenden Faktoren tatsächlich äußerst fehlerhaft ist, gemessen am heutigen statistischen Verständnis. Neben der Rolle der Technologie bei der exponentiellen Erhöhung der Produktionskapazität und Effizienz, speziell im Bereich der Nahrungsmittelproduktion, wird die verallgemeinernde Ansicht, dass ein höherer Lebensstandard die Bevölkerung proportionell wachsen lässt, durch regionale Vergleiche nicht gestützt. Dies scheint eher eine Frage der Kultur, der Religion und der Bildung zu sein, kein festes „Gesetz der Natur“ wie Malthus schlussfolgerte. 224 Referenz: „Abolishment of Welfare: An Idea Becomes a Cause“ [http://www.nytimes.com/1994/04/22/us/abolishment-of-welfare-an-idea-becomes-a-cause.html] 225 „The Principles of Political Economy and Taxation“, David Ricardo, 1821, Dent Edition, 1962, p.272

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Obwohl er kritisch gegenüber einigen Aspekten von Adam Smiths „Arbeitswertetheorie“ war, unterstützte er die grundlegende Bedeutung. Er schrieb: „Nützliche Waren schöpfen ihren Tauschwert aus zwei Quellen: Aus ihrer Knappheit und aus der Menge an Arbeit, durch die sie entstanden sind.“226 Gleichermaßen wie Smith führt er aus: „Wenn der erbrachte Arbeitsaufwand für eine Ware ihren Tauschwert reguliert, muss jede Erhöhung an Arbeitsaufwand den Wert dieser Ware steigern und jede Verringerung ihn reduzieren.“227 Folglich sah Ricardo die Gesellschaft und die Klassenschichtung seiner Zeit aus der Arbeitsperspektive und schlussfolgerte, dass die Interessen der Arbeiter und Kapitalisten entgegengesetzt waren. „Wenn sich Löhne erhöhen sollen“, sagte er oft, „so würden die Profite zwangsläufig sinken“.228 Diese Zwietracht sollte zu einem grundlegenden Interesse jeder Klasse führen, daran zu arbeiten, einen Vorteil über die andere Klasse zu haben. Das führte oft zu einem allgemeinen Ungleichgewicht aufgrund der Macht der kapitalistischen Eigentümer über die Arbeitskräfte (und die Gesetzgebung). Hinzu kam der Anfang der Mechanisierung (die Anwendung von Maschinen), der systematisch die Notwendigkeit menschlicher Arbeit in betroffenen Sektoren reduzierte. Dennoch ist er der Überzeugung, dass die Theorie des Kapitalismus auf lange Sicht immer zur Vollbeschäftigung führen würde, insofern man sie richtig anwendet. Zu diesem speziellen Thema der Anwendung von Maschinen, welche menschliche Arbeit zum Vorteil der Produzenten ersetzt, schreibt er: „Der Produzent, [...] der [...] auf eine Maschine zurückgreifen kann, [...] welche die Kosten der Produktion seiner Ware reduziert, hätte einen Vorteil, wenn er weiterhin den gleichen Preis für seine Waren verlangen könnte. Allerdings würde er [...] verpflichtet sein, den Preis seiner Ware zu reduzieren, da das Kapital sonst nicht zu ihm explizit fließt, da kein spezieller Preisvorteil für den Käufer entsteht. Dadurch sinkt sein Profit auf das übliche Niveau. Maschinen nutzen demnach der Allgemeinheit.“229 Jedoch sind, wie in vielen seiner Schriften, Widersprüche häufig vorzufinden. Mit der grundlegenden Idee, dass die Öffentlichkeit durch die Einführung von arbeitsreduzierenden Maschinen einen Vorteil haben würde, mit der Annahme, dass die Marktpreise sauber fallen würden und dass sich die Arbeitslosen immer leicht neu orientieren könnten, beginnt Ricardo in Kapitel 31 der dritten Auflage seiner „Prinzipien“ mit der Aussage: „Seit dem ich mich mit Fragen der politischen Ökonomie beschäftige, war ich der Meinung, dass [...] die Anwendung von Maschinen in einem Produktionszweig generell einen positiven arbeitssparenden Effekt haben würde, [...] [aber] die Substitution der menschlichen Arbeit durch Maschinen ist oft sehr schädlich für die Interessen der Arbeiterklasse.“230 Später überdenkt er seine Behauptung, indem er schreibt: „Die von mir getroffenen Aussagen werden hoffentlich nicht zu der Folgerung führen, dass Maschinen nicht gefördert werden sollten. Meine Aussage ist so zu verstehen, dass verbesserte Maschinen nicht plötzlich entdeckt und genutzt werden, sondern diese Entdeckungen in der Realität schrittweise geschehen. Also funktioniert es eher so, dass diese 226

ebd., p.5 ebd., p.7 228 ebd., p.64 229 ebd., p.53 230 ebd., p.263-264 227

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Entwicklungen die Nutzung von gespartem und angehäuftem Kapital bestimmen, als dass sie Kapital seiner tatsächlichen Nutzung entziehen.“231 Seine generelle Ablehnung gegenüber dem Problem, dass Menschen durch Maschinen ersetzt werden, was später „technologische Arbeitslosigkeit“ genannt wird, findet man auch bei weiteren ihm folgenden Ökonomen, unter anderem John Maynard Keynes (1883-1946), der im Einklang mit Ricardos genereller Annahme der „Anpassung“ schrieb: „Wir sind von einer neuen Krankheit betroffen, deren Namen einige Leser noch nicht gehört haben mögen, von der sie jedoch viel in den kommenden Jahren hören werden. Sie wird 'technologische Arbeitslosigkeit' genannt. Das beschreibt die Arbeitslosigkeit auf Grund unserer Effizienzsteigerung, die schneller voranschreitet, als wir neue Arbeitsfelder finden können. Aber das ist nur eine temporäre Phase des Ungleichgewichts. All das bedeutet auf lange Sicht, dass die Menschheit ihre wirtschaftlichen Probleme löst.“232 Dieses Thema wird hier angesprochen, da es erneut in Teil III in den Mittelpunkt rückt. Es behandelt einen Kontext der technologischen Anwendung, welcher bis heute von den großen ökonomischen Theoretikern der modernen Geschichte einfach nicht erkannt oder abgelehnt wird, da sie, wie weiter oben erwähnt, oft in einen engen Bezugsrahmen gesperrt feststecken. Abschließend zu Ricardo: Ihm wurden oft seine Beiträge zum weltweiten „freien Handel“ hoch angerechnet, speziell seine „Theorie des komparativen Vorteils“ und seine Fortführung des simplen „unsichtbare Hand“-Ethos von Adam Smith. Ricardo schreibt: „In einem System des vollständig freien Handels wird jedes Land natürlicherweise sein Kapital und seine Arbeit dort anwenden, wo es am vorteilhaftesten ist. Die Verfolgung des individuellen Vorteils ist wunderbar mit dem allgemeinen Vorteil des Ganzen verbunden. Durch das Ankurbeln der Industrie, durch die Belohnung von Einfallsreichtum und durch die wirksamste Nutzung der von der Natur verliehenen Kräfte, verteilt sich die Arbeit am effektivsten und wirtschaftlichsten. Zusätzlich nutzt dies der Allgemeinheit, indem es die Masse an Produktion erhöht. Dies verbindet die universelle Gesellschaft der Nationen der gesamten zivilisierten Welt durch ein gemeinsames Band aus Interessen und Interaktionen.“233 Theorien von Werten und Verhaltensweisen Bis jetzt haben wir die umfassenden Beiträge von vier großen historischen Persönlichkeiten untersucht und die zentralen Eigenschaften der kapitalistischen Philosophie wurden kurz angesprochen. Hier merkt man, dass diese Ansichten auf Annahmen bezüglich menschlichem Verhaltens, sozialer (Klassen-) Verhältnisse sowie einer „metaphysischen“ Marktlogik beruhen, nach der schon alles gut gehen wird, wenn bestimmte Werte und allgemein eine „egoistische“ Sichtweise von den Spielern des Marktspiels eingenommen wird und der Markt selbst wenig eingeschränkt ist. Eine kurze Randbemerkung: Weder in den Schriften dieser Denker, noch in dem größten Teil der Werke von späteren Theoretikern auf der Seite der freien Marktwirtschaft werden die tatsächliche Struktur und die Prozesse der Produktion 231

ebd., p.267 Aus der Abhandlung: „Economic Possibilities for Our Grandchildren“, John Maynard Keynes, 193 233 „The Principles of Political Economy and Taxation“, David Ricardo, 1821, Dent Edition, 1962, p.81 232

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und Verteilung diskutiert. Es gibt eine klare Trennung von „Industrie“ und „Geschäft“ (Business). Erstere bezieht sich auf die technisch-wissenschaftlichen Prozesse von echten wirtschaftlichen Abläufen, während letzteres lediglich verschlüsselte Marktdynamiken und Gewinnstreben umfasst. Ein wichtiges Problem, das gleich weiter diskutiert wird, besteht in der kapitalistischen Produktionsweise, durch welche die Fortschritte des „industriellen Sektors“ (die verbesserte Problemlösungen und erhöhten Wohlstand bringen könnten) von traditionellen, scheinbar unveränderbaren Grundsätzen des „Business Sektors“, blockiert werden. Letzterer hat die Aktionen des ersteren geleitet - zum Nachteil des Potenzials des ersteren. Diese Trennung oder dieser verzerrte Bezugsrahmen wird auch in weiteren Punkten zu finden sein, wie beispielsweise in den vorherrschenden Arbeits- und Werttheorien sowie in Theorien des menschlichen Verhaltens. Diese dienen zwangsläufig dazu, die Institution des Kapitalismus zu rechtfertigen. Wie zuvor erwähnt, wurde die Arbeitswerttheorie durch Locke, Smith und Ricardo berühmt. Sie besagt allgemein, dass der Wert einer jeden Ware in Zusammenhang mit der für ihre Produktion benötigten Arbeit steht. So schlüssig diese Idee von einer intuitiven Perspektive her erscheint, so gibt es viele Ebenen des Missverständnisses, wenn es um die genaue Quantifizierung geht. Viele historische Einwände bestehen fort. So stellt sich beispielsweise die Frage, inwiefern verschiedene Arten von Arbeit, verschiedene Fähigkeiten und Lohntarife richtig miteinander verglichen werden können - neben der Frage, in welchem Maße natürliche Ressourcen und „arbeitendes“ Investitionskapital selbst eine Rolle spielen sollten. Das Wachstum an „Investitionsgütern“234 im 20. Jahrhundert durch die maschinelle Automatisierung von Arbeit stellt die eher einfachen Arbeitstheorien, die Wert von der Arbeitsleistung ableiten, vor große Herausforderungen. So stellt beispielsweise der Arbeitswert der Produktionsmaschinen, da diese heute oft dazu dienen, mehr Maschinen mit immer weniger menschlichem Aufwand zu produzieren, in diesem Zusammenhang einen ewig sinkenden Wert dar. Es wird heute von einigen Ökonomen, die sich mit rasant fortschreitenden Bereichen der Informationswissenschaft und Technologie beschäftigen, angedeutet, dass die Nutzung maschineller Automatisierung in Kombination mit „künstlicher Intelligenz“ sehr wahrscheinlich die Menschen aus der traditionellen Arbeitswelt vertreiben könnte. Plötzlich wird sozusagen Kapital zu Arbeit.235 Dieser Widerspruch weitet sich auch auf konkurrierende Werttheorien von Ökonomen aus, vor allem die erwähnenswerte Nutzwert-Theorie. Während die Arbeitswerttheorie die Perspektive der Arbeit oder Produktion einnimmt, vertritt die Nutzwert-Theorie die „Marktperspektive“, das heißt: Wert wird nicht von der Arbeit abgeleitet, sondern von dem Zweck (oder der Nützlichkeit) für die Verwendung (Nutzwert), wie er durch den Verbraucher wahrgenommen wird. Der französische Ökonom Jean-Baptiste Say (1737-1832) ist im Zusammenhang mit der Nutzwerttheorie zu erwähnen. Als selbsternannter Schüler von Adam Smith wich er bei der Frage des Wertes von Smith ab. Er schrieb: „Nachdem die [...] 234

„Ein Investitionsgut (auch Kapitalgut, Betriebsmittel oder Potentialfaktor) ist in der Wirtschaftswissenschaft ein langlebiges ökonomisches Gut, das von Unternehmen zur Erstellung und Weiterverarbeitung von Gütern angeschafft wird [...]“ http://de.wikipedia.org/wiki/Investitionsgut Ein Konsumgut hingegen ist das Endprodukt dieser Produktion. 235 Literaturempfehlung: „The End of Work: The Decline of the Global Labor Force and the Dawn of the PostMarket Era“, Jeremy Rifkin, Putnam Publishing Group, 1995

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Verbesserungen durch die Wissenschaft der politischen Ökonomie dargestellt wurden, die Dr. Smith geschuldet sind, ist es vielleicht nicht sinnlos, darauf hinzuweisen, [...] in welchen Punkten er irrte. [...] Der Arbeit des Menschen allein schreibt er die Wertschöpfung zu. Das ist ein Fehler.“236 Er erklärt weiterhin, wie der „Tauschwert“ (Preis) einer jeden Ware oder Dienstleistung komplett auf ihrem „Nutzwert“ (Nützlichkeit) basiert. Er schreibt: „Der Wert, den der Mensch einem Objekt zuschreibt, entspringt dem Nutzen, den er aus ihm ziehen kann. [...] Es sollte mir daher erlaubt sein, der Tauglichkeit oder Fähigkeit, die manche Dinge besitzen, die mannigfaltigen Wünsche der Menschheit zu befriedigen, den Namen der Nützlichkeit zu verleihen. [...] Der Nutzen von Dingen ist das Fundament ihres Wertes und ihr Wert macht Reichtum aus. [...] Auch wenn der Preis das Maß für den Wert von Dingen ist und deren Wert das Maß ihrer Nützlichkeit, so wäre es absurd, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass man den Preis zwanghaft erhöhen kann und damit die Nützlichkeit erhöhen würde. Der Tauschwert oder Preis ist eine Kennzahl für die wahrgenommene Nützlichkeit einer Sache.“237 Die Nutzwert-Theorie unterscheidet sich von der Arbeitswerttheorie nicht nur in der Ableitung von Wert, sondern auch in den Implikationen bezüglich einer subjektiven Erklärung für menschliche Entscheidungen am Markt. Der Utilitarismus,238 der nur zu typisch für mikroökonomische Annahmen heutiger neoklassischer Ökonomen ist, wird oft in komplexen mathematischen Formeln modelliert. Damit soll ermittelt werden, wie die Menschen am Markt ihren „Nutzen maximieren“, speziell bezogen auf die Erhöhung von Glück und die Reduktion von Leid. Diesen Konzepten des menschlichen Verhaltens liegen, wie den meisten ökonomischen Theorien, traditionelle Annahmen und Werte zu Grunde. Der Ökonom Naussau Seniro (1790-1864) unterstützte eine heute häufig aufgegriffene Idee, dass menschliche Bedürfnisse unendlich groß seien: „Was wir hiermit sagen wollen ist, dass keine Person ihre Wünsche als angemessen befriedigt sieht; dass jede Person einige unbefriedigte Begierden hat, welche - wie sie glaubt - durch mehr Reichtum gedeckt werden könnten.“239 Solche Ansichten der menschlichen Natur treten in derartigen Abhandlungen regelmäßig auf. Darunter fallen Konzepte von Gier, Angst und weiteren hedonistischen Reflexmechanismen, die unterstellen, dass unter anderem materielle Anhäufung, Reichtum und Gewinn essentieller Gegenstand der Glückseligkeit sind. Heute ist die vorherrschende und größtenteils akzeptierte mikroökonomische Sichtweise, dass das gesamte menschliche Verhalten auf rationale, strategische Versuche reduzierbar ist, entweder zur Maximierung von Profit bzw. Gewinn oder dem Vermeiden von Schmerz oder Verlust. Immer weiter ausgeweitete utilitaristische 236

„A Treatise on Political Economy“, Jean-Baptiste Say, Philadelphia: Lippincott, 1863, p.xi [Translation is from the fourth French edition, published in 1821.] 237 ebd., p.62 238 Jeremy Bentham, ein namhafter Vertreter des „klassischen Utilitarismus“, schrieb: „Die Natur hat den Menschen zwei souveränen Meistern unterworfen: Schmerz und Vergnügen. Es liegt allein an ihnen, zu bestimmen, was wir tun sollen [...] Mit dem Prinzip der Nützlichkeit ist das Prinzip gemeint, das jede Handlung billigt oder missbilligt, je nach Tendenz zur Verstärkung oder Schwächung von Glück der betroffenen Gruppe oder, mit anderen Worten, das Glück zu fördern oder sich dieser entgegenzustellen. Ich sage das von jeder Handlung und demnach nicht nur von jeder Handlung eines Individuums, sondern auch von jeder Maßnahme der Regierung." [„An Introduction to the Principles of Morals and Legislation“, Jeremy Bentham, 1789, Dover Philosophical Classics, 2009. p.1] 239 „An Outline of the Science of Political Economy“, Nassau Senior, 1836, London, Allen and U., 1938, p.27

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Argumente dieser Natur werden weiterhin benutzt, um den wettbewerbsbetonten Kapitalismus moralisch zu rechtfertigen. Ein Beispiel dafür ist die Ansicht des „Voluntarismus“ mit der Andeutung, dass sämtliche Handlungen am Markt niemals erzwungen werden und demnach jeder frei ist, eigene Entscheidungen in Bezug auf Gewinn oder Verlust zu fällen. Diese Idee ist heute weit verbreitet; so als würden solche „freien Tauschverhältnisse“ in einem Vakuum existieren, ohne weitere synergetische Einflüsse; so als würde der Überlebensdruck in einem System mit deutlichen Tendenzen zu grundlegendem Klassenkampf und strategischer Knappheit nicht automatisch zu einem Zwang für die Arbeiter führen, sich der kapitalistischen Ausbeutung zu unterwerfen.“240 Insgesamt ist das utilitaristische (hedonistische, wettbewerbsbetonte und „immerunzufrieden-sein“) Modell der menschlichen Natur die heute wohl häufigste Verteidigung des kapitalistischen Systems. Es ist in vielerlei Hinsicht sowohl eine psychologische Theorie, wie Menschen sich verhalten, als auch eine ethische Theorie, wie sie sich verhalten sollen. Dadurch wird eher eine rückwirkende Logik erzeugt, die oft die Markttheorie vor die menschliche Verhaltensrealität stellt und dadurch die Letztere an die Erstere anpasst. In der Realität treten zwei ernsthafte Probleme auf, wenn die utilitaristische Sichtweise vollständig angewendet wird. Erstens ist es auf gesellschaftlicher Ebene ab einem bestimmten Grad nahezu unmöglich, Vorhersagen für diese „Vergnügensund Schmerzgrenzen“ zu treffen. Es gibt kein empirisches Mittel, um die Intensität des Vergnügens (abseits der einfachen Annahme einer Präferenz von „Gewinn“ vor „Verlust“) eines Individuums mit dem eines anderen zu vergleichen. Auch wenn die Nutzwert-Theorie in einer abstrakten, generellen Sichtweise logisch ist, unterliegen die Mechanismen solcher emotionalen Dynamiken ohne Quantifizierung in der Realität starken Schwankungen. Beim Vergleich der gesamten Lebenserfahrung zweier Personen lassen sich eventuell einige grundlegende Gemeinsamkeiten, bezüglich der persönlichen Konditionierung auf einige Vergnügens- und Schmerzreize, feststellen. Jedoch wird man selten eine vollständige Übereinstimmung im Detail vorfinden. Da individuelles Wohlbefinden als ultimatives „moralisches“ Kriterium des Utilitarismus gesehen wird, gibt es absolut keine Möglichkeit, über das Vergnügen zweier Individuen zu urteilen. Der Ökonom Jeremy Bentham, oft als Vater des Utilitarismus angesehen, hat dies ansatzweise erkannt und schrieb: „Vorurteile beiseite: das Spiel Pushpin240b hat den gleichen Wert wie die Kunst, die Wissenschaft, die Musik und die Poesie. Wenn jemandem das Pushpin-Spiel mehr Vergnügen bereitet, so ist es auch wertvoller.“241 Das zweite Problem ist die kurzsichtige Natur der angenommenen emotionalen Reaktion. Menschen haben in der Vergangenheit das rationale Interesse gezeigt, in der Gegenwart zu leiden, um in der Zukunft Gewinn zu machen (oder zu hoffen, Gewinn zu machen). Der philosophisch ausführlichst diskutierte Altruismus könnte sehr gut in dem „Vergnügen“ der selbstlosen (leidvollen) Aufopferung zum Wohle anderer verwurzelt sein. Wie später weiter erläutert wird, ist die durch derlei Diskussionen in den Vordergrund gestellte Leid/Vergnügens-Annahme, verstärkt 240

Mehr dazu im Kapitel „Struktureller Klassismus“. Pushpin-Spiel: ein beliebtes englisches Kinderspiel im 16. bis 18. Jahrhundert http://de.wikipedia.org/wiki/Pushpin 241 „Rationale of Reward“, Jeremy Bentham Book 3, Chapter 1 240b

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durch eine impulsive Reaktion auf Gewinn, zu einem gesellschaftlich belohntem Muster geworden. Dies hat eine Mentalität erzeugt, nach der kurzfristiger Gewinn angestrebt wird, was langfristig oft zu Leid führt. In der Abstraktion jedoch bietet der Utilitarismus eine bizarre Art der Gleichstellung, da er als „beidseitiger Austausch“ interpretiert werden kann und demnach als ein Mittel, um den Kapitalismus als ein System der gesellschaftlichen Harmonie zu sehen, anstatt als ein System der Kriegsführung. Um auf das Thema Arbeitstheorie vs. Nutzwert-Theorie zurückzukommen, zeigt die erstere einen Konflikt auf, da die Arbeitstheorie die Kosteneffizienz berücksichtigt, die der Kapitalist anstrebt, auf Kosten der Löhne des Arbeiters. Die Nutzwerttheorie auf der anderen Seite entfernt all diese Ideen insgesamt und besagt, dass jeder das Gleiche anstrebt und demnach, ungeachtet der Struktur, sei jeder gleich. Mit anderen Worten: Jeder Austausch wird beidseitig vorteilhaft für jeden in einer engen, absurd abstrakt generalisierten Logik. Alle menschlichen Handlungen werden auf ein System des „Austauschs“ reduziert und demnach lösen sich alle politischen oder gesellschaftlichen Unterschiede in der Theorie in Luft auf. Der „sozialistische“ Aufstand Wie beim Kapitalismus gibt es in der allgemeinen öffentlichen Debatte auch keine universell akzeptierte Definition des Sozialismus. Er wird jedoch technisch oft wie folgt definiert: „Ein wirtschaftliches System, das durch das gemeinschaftliche Eigentum der Produktionsmittel und der kooperativen Verwaltung der Wirtschaft gekennzeichnet ist.“242 Der Ursprung des sozialistischen Gedankenguts geht bis in das Europa des 18. Jahrhundert zurück. Er ist gekennzeichnet durch eine komplexe Geschichte von „Reformern“, die daran arbeiteten, das aufkommende kapitalistische System zu bekämpfen. Gracchus Babeuf (1760-1779) ist ein erwähnenswerter Theoretiker auf diesem Gebiet. Mit seiner „Verschwörung der Gleichgestellten“ versuchte er, die französische Regierung zu stürzen. Er schrieb: „Die Gesellschaft muss so gestaltet werden, dass sie ein für alle Mal das Bedürfnis des Menschen auslöscht, reicher, gebildeter oder stärker als andere zu sein.“243 Der französische Sozialist und Anarchist Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) ist berühmt für seine Aussage: „Eigentum ist Diebstahl“, in seinem Pamphlet: „Untersuchungen über die Grundlagen von Recht und Staatsmacht“. Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich die sozialistischen Ideen rasant. Dies geschah gewöhnlich als Antwort auf die wahrgenommenen und für den Kapitalismus charakteristischen moralischen und ethischen Probleme wie Klassenungleichgewicht und Ausbeutung. Die Liste der einflussreichen Denker ist lang und komplex, daher werden wir hier nur drei Individuen und deren wichtigste Beiträge untersuchen: William Thompson, Karl Marx und Thorstein Veblen. William Thompson (1775-1833) hatte einen starken Einfluss auf die sozialistische Denkweise. Er unterstützte die Idee von „Genossenschaften“, die durch Robert Owen als Alternative zum kapitalistischen Geschäftsmodell bekannt gemacht wurden, und nahm philosophisch eine utilitaristische Ansicht bezüglich des menschlichen Verhaltens ein. Er wurde sehr von Bentham beeinflusst, aber sein Gebrauch und seine Interpretation des Utilitarismus war ein wenig anders. Beispielsweise glaubte 242

http://www.britannica.com/EBchecked/topic/551569/socialism „The Defense of Gracchus Babeuf before the High Court of Vendôme“, University of Massachusetts Press, 1967, p.57 243

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er, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft die gleichen Chancen auf Glück hätten, wenn sie nur gleich behandelt werden würden, anstatt sich Klassenkämpfen und Ausbeutung hingeben zu müssen.244 Er argumentierte in seinem berühmten Werk: „Eine Untersuchung über die Grundlagen der fürs menschliche Glück förderlichsten Verteilung des Wohlstands“, stark für eine Art „Markt-Sozialismus“, bei dem Egalitarismus und Gleichheit vorherrschen. Er machte sehr deutlich, dass der Kapitalismus ein System der Ausbeutung und Unsicherheit ist, indem er schrieb: „Die Tendenz der existierenden Ordnung ist es, einige Reiche auf Kosten der Masse an Produzierenden zu bereichern und damit die Armut der Armen noch hoffnungsloser zu machen.“245 Jedoch erkannte er, dass selbst bei Entstehung eines Hybrid-Systems aus Kapitalismus und Sozialismus die zugrunde liegende Voraussetzung des Wettbewerbs immer noch ein ernsthaftes Problem darstellen würde. Er schrieb ausführlich über die dem Marktwettbewerb innewohnenden Probleme. Dabei zeigte er fünf Probleme auf, die schon immer in der Rhetorik sozialistischer Denkweise vorkamen: Das erste Problem ist, dass jeder „Arbeiter, Handwerker und Händler einen Konkurrenten/einen Rivalen in jedem anderen [sieht] [...] [und jeder sieht] eine zweite Rivalität zwischen [...] [seinem oder ihrem Beruf] und der Öffentlichkeit.“246 Des Weiteren schrieb er, es wäre „im Interesse jedes Mediziners, dass Krankheiten existieren und auftreten sollen, oder ihr Gewerbe würde um das Zehn- oder Hundertfache schrumpfen.“247 Das zweite Problem ist die inhärente Unterdrückung der Frauen und die Spaltung der Familie. Es ist festzustellen, dass die Arbeitsteilung und die allumfassende Ethik des konkurrenzbetonten Egoismus die Schufterei der Frau im Haushalt und die Ungleichheit der Geschlechter weiterhin sicherstellt.248 Das dritte Problem, das mit dem Wettbewerb einhergeht, ist die natürliche Instabilität, die in der Wirtschaft selbst erzeugt wird. Er schrieb: „Das dritte Übel des Prinzips des individuellen Wettbewerbs ist, dass es ab und an unweigerlich zu unprofitablen oder unüberlegten individuellen Anstrengungen kommen muss; [...] jeder Mensch muss für sich selbst beurteilen, wie gut die Erfolgschancen in seinem Beruf sind. Welches sind die Mittel, nach denen er dies bewertet? Jeder, der erfolgreich in seinem Tätigkeitsfeld ist, ist interessiert daran, seinen Erfolg geheim zu halten, da der Wettbewerb seinen Erfolg reduzieren wird. Wer kann beurteilen, ob der Markt, welcher oft in weiter Ferne, manchmal in einer anderen Hemisphäre des Globus liegt, mit dem Artikel, den er herstellen möchte, überflutet ist oder wahrscheinlich wird? [...] Und wenn irgendein Beurteilungsfehler [...] ihn zu einer nicht benötigten und demnach unprofitablen Handlung führt, was ist die Konsequenz? Lediglich ein Beurteilungsfehler [...] kann zu extremer Not, wenn nicht sogar zum Ruin führen. Fälle wie diese scheinen in einem Schema des individuellen Wettbewerbs in seiner reinsten Form unabwendbar zu sein.“249 244

„An Inquiry into the Principles of the Distribution of Wealth Most Conducive to Human Happiness“, William Thompson, London, William S. Orr, 1850, p.17 245 ebd., p.xxix 246 ebd., p.259 247 ebd. 248 ebd., pp.260-261 249 ebd., pp.261-263

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Das vierte Problem bezieht sich auf die egoistische Natur des wettbewerbsbasierten Marktes, die Unsicherheit bei Fragen der grundlegenden Lebenserhaltung wie der Absicherung im Alter, bei Krankheiten und bei Unfällen mit sich bringt.250 Das fünfte von Thompson dargelegte Problem bezieht sich auf den Wettbewerb am Markt und wie er den Fortschritt von Wissen verlangsamt. „Geheimhaltung dessen, was neu oder herausragend gegenüber der Konkurrenz ist, ist eine logische Konsequenz [...], weil das stärkere persönliche Interesse dem Prinzip der Nächstenliebe entgegensteht.“251 Karl Marx (1818-1883) wurde, wie viele andere, von Thompsons Werken beeinflusst und ist heute wahrscheinlich einer der bekanntesten Wirtschaftsphilosophen. Sein Name wird oft in einer abwertenden Weise benutzt, um die Gefahren des sowjetischen Kommunismus oder des „Totalitarismus“ aufzuzeigen. Daher ist Marx wohl unter all den berühmten Ökonomen auch einer der am häufigsten Missverstandenen. Obwohl er in der allgemeinen Bevölkerung für seine Abhandlungen zu den sozialistisch-kommunistischen Ideen bekannt ist, hat Marx den Großteil seiner Zeit tatsächlich dem Thema des Kapitalismus und seiner Funktionsweise gewidmet. Sein Beitrag zum Verständnis des Kapitalismus ist größer, als viele sich vorstellen können. Die vielen heute üblicherweise verwendeten wirtschaftlichen Fachbegriffe und Aussagen in Gesprächen über den Kapitalismus entsprangen aus Marx' literarischen Abhandlungen. Seine Perspektive ist zum größten Teil historisch geprägt und zeigt eine sehr detaillierte Recherche über die Entwicklung wirtschaftlichen Denkens. Auf Grund der immensen Größe seiner Werke werden hier nur einige wenige einflussreiche Themen aufgegriffen. Ein Thema ist sein Bewusstsein über die kapitalistische Eigenschaft des „Tausches“, der die ultimative Basis für alle sozialen Beziehungen sein soll. Er schrieb in seinen „Grundrissen“: „In der Tat, soweit die Ware oder die Arbeit nur noch als Tauschwert bestimmt ist und die Beziehung, wodurch die verschiednen Waren aufeinander bezogen werden, als Austausch dieser Tauschwerte gegeneinander angesehen werden, [...] sind die Individuen [...] nur einfach als Austauschende anzusehen. Es existiert absolut kein Unterschied zwischen ihnen, soweit die Formbestimmung in Betracht kommt. [...] Als Subjekte des Austauschs ist ihre Beziehung daher die der Gleichheit.“252 „Obgleich das Individuum A das Bedürfnis nach der Ware des Individuums B verspührt, bemächtigt es sich derselben nicht mit Gewalt, noch andersherum, sondern sie erkennen sich wechselseitig als Eigentümer an - als Personen, deren Willen ihre Waren durchdringt. [...] Keiner bemächtigt sich des Eigentums des andren mit Gewalt. Jedes entäußert sich desselben freiwillig.“253 Um auf die immer wieder aufkommenden Themen der menschlichen Beziehungen und Klassenannahmen (oder deren Ablehnung) zu kommen, hat Marx im Prinzip drei wichtige Illusionen betont: Die Illusion der Freiheit, Gleichheit und sozialer Harmonie. 250

ebd., p.263 ebd., p.267 252 „Grundrisse“, Karl Marx, tr. Martin Nicolaus, Reprint Vintage Books, New York, 1973 p.241http://dhcm.inkrit.org/wp-content/data/mew42.pdf 253 ebd., p.243 251

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Diese werden auf extrem engstirnige Assoziationen rund um die Idee des „gegenseitigen vorteilhaften Tauschs“ reduziert, welcher die einzige wahre wirtschaftliche Beziehung sei, nach der die gesamte Gesellschaft bemessen werden sollte. „Andrerseits liegt es in der Bestimmung des Geldverhältnisses (soweit es bisher in seiner Reinheit entwickelt und ohne Bezug auf höher entwickelte Produktionsverhältnisse ist), daß in den einfach gefaßten Geldverhältnissen alle immanenten Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft ausgelöscht erscheinen; und von dieser Seite aus wird wieder zu ihm geflüchtet, von der bürgerlichen Demokratie mehr noch als von den bürgerlichen Ökonomen, [...] zur Apologetik der bestehenden ökonomischen Verhältnisse.“254 In seinem Werk „Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie“ analysiert Marx viele Faktoren des kapitalistischen Systems: Die Natur von Waren selbst, die Dynamiken zwischen Wert, Nutzwert, Tauschwert, Arbeitstheorie und Nützlichkeit zusätzlich zu einer gründlichen Untersuchung, was „Kapital“ ist, wie das System sich entwickelte und letztendlich die Ausprägung der Rollen in diesem System. Ein wichtiges Thema ist seine Ansicht bezüglich des „Surplus (dt. Überschuss) Wertes“, welcher in Anlehnung an Ricardos „Arbeitswerttheorie“ den angenommenen Wert, den der Kapitalist sich aneignet, in der Form von Profit bemisst. Der Profit geht über den Wert (Kosten) der Arbeit/Produktion selbst hinaus. Er sagt bezüglich des Fehlens dieses „Surplus“ im Austausch: „Man dreht und wende es wie man wolle, die Tatsache besteht unverändert. Wenn Gleiches getauscht wird, entsteht kein Surplus-Wert. Auch wenn Nicht-Gleiches getauscht wird entsteht immernoch kein Surplus-Wert. Die Zirkulation oder der Tausch von Waren lässt keinen Wert entstehen.“255 Des Weiteren zieht er, vereinfacht gesagt, einen Vergleich zwischen „Arbeit“ und „Arbeitskraft“, wobei Letztere sowohl aus „Nutzwert“ als auch aus „Tauschwert“ besteht. Ein Arbeiter wird nur für die Befriedigung seiner SelbsterhaltungsBedürfnisse entschädigt, die sich in seinem Gehalt widerspiegelt. Alles, was über diesen Wert hinausgeht, gilt als „Surplus“, welcher theoretisch zum „Profit“ des Kapitalisten wird - abgerundet durch die Preiserhöhung im Marktaustausch.256 Dieser Punkt, den er weiter fortführt und in Zusammenhang mit den Dynamiken der Zirkulation/Anwendung von verschiedenen Formen des Kapitals bringt (wobei Kapital weiterhin als Produktionsmittel definiert wird, in diesem Fall jedoch hauptsächlich in Form von Geld), lässt ihn schlussfolgern, dass das Erschaffen von einem „SurplusWert“ oder „Profit“ nur durch die Ausbeutung der Arbeiter geschehen kann. Mit anderen Worten: Er impliziert, dass dies eine dem kapitalistischen System innwohnende Form der grundlegenden Ungleichheit ist und solange eine kleine Gruppe der „Eigentümer“ den von den Arbeitern erzeugten „Surplus-Wert“ kontrolliert, so wird es immer reich und arm, Wohlstand und Armut geben. Marx führt diese Idee fort und bewertet „Eigentum“ neu. Eigentum war nun die gesetzliche Grundlage für „Kapital“ selbst, wodurch explizit die Zwangsenteignung der „Surplus-Arbeit“ (der Teil der Arbeit, der den „Surplus-Wert“ erzeugt) erlaubt 254

ebd., p.240-241 „Capital“, Karl Marx, Foreign Languages reprint , Moscow, 1961, vol. 3, p.163 http://www.arbeiterpolitik.de/Texte/Kapital/KAPITAL1.pdf 256 ebd., p.176 (bezieht sich auf die englische Quelle) 255

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wurde. Er schreibt: „Ursprünglich erschien uns das Eigentumsrecht auf eigener Arbeit begründet. Wenigstens diese Annahme mußte gelten, da sich nur gleichberechtigte Warenbesitzer gegenüberstehn. Das Mittel zur Aneignung fremder Ware besteht nur darin, dass der andere seine eignen Waren, welche nur durch Arbeit herstellbar ist, zu veräußern. Eigentum erscheint jetzt, seitens des Kapitalisten, als das Recht, sich fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, seitens des Arbeiters, als sein eignes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging.“257 Marx führt diese Erörterungen in seinen Schriften ausführlich aus. Unter anderem formuliert er die Idee, dass die Arbeit der Arbeiterklasse in diesem System nicht „freiwillig“ sein kann, nur erzwungen; da die Entscheidung, Arbeit gegen Lohn einzusetzen, letztendlich in den Händen des Kapitalisten liegt. Er schrieb: „Der Arbeiter kann daher erst außerhalb der Arbeit er selbst sein und während der Arbeit ist er emotional abwesend. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen - Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern ein Mittel, um Bedürfnisse ganz anderer Art befriedigen zu können.“258 Am Ende war es diese komplexe, vielfältige Degradierung, Ausbeutung und Entmenschlichung des durchschnittlichen Arbeiters, die ihm zu schaffen machte und dazu brachte, Reformen anzustreben. Er erfand sogar einen Ausdruck: „Die Verelendungstheorie“, um zu beschreiben, wie das Glück der Anhäufung von Reichtum der kapitalistischen Klasse entgegengesetzt zum Glück der Arbeiter ist. Letztendlich war Marx davon überzeugt, dass die Zwänge im System die Arbeiterklasse zu einer Revolution gegen die kapitalistische Klasse führen würde, wodurch eine neue „sozialistische“ Produktionsweise möglich wäre, in der die Arbeiterklasse unter anderem für ihren eigenen Vorteil arbeiten würde. Thorstein Veblen (1857-1929) wird der letzte so genannte „Sozialist“ sein, dessen einflussreiche Ideen hinsichtlich der Entwicklung und Fehler des Kapitalismus hier untersucht werden. Genauso wie Marx hatte er zeitlich einen Vorteil bei der Untersuchung der Wirtschaftsgeschichte. Veblen hat seinerzeit an mehreren Universitäten Wirtschaft gelehrt. Zudem hat er eine große Menge an Literatur zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen geschrieben. Veblen war gegenüber neoklassischen Wirtschaftstheorien kritisch, speziell bezüglich der angewandten utilitaristischen Ideen der „menschlichen Natur“. Er sah die Idee, dass alle menschlichen wirtschaftlichen Handlungen lediglich auf das hedonistische Zusammenspiel von Selbst-Maximierung und Selbst-Erhaltung reduziert werden könnten als lächerlich simpel.259 Er nahm eine „evolutionäre“ Sicht der menschlichen Geschichte ein, nach welcher Veränderungen durch die gesellschaftlichen Institutionen definiert werden, die sich durchsetzten oder überwunden wurden. Er schrieb hinsichtlich des damals aktuellen Zustands (er bezeichnete ihn als „materialistisch“):

257

ebd., vol. 1,pp. 583–84 (bezieht sich auf die englische Quelle) http://www.internationalesozialisten.de/Buecher/Klassiker/Oekonomisch%20philosophische%20Manuskripte.pdf 259 „'Why Economics Is Not an Evolutionary Science', Place of Science in Modern Civilization and Other Essays“, Thorstein Veblen, pp.73-74. 258

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„Wie jede menschliche Kultur ist diese materielle Zivilisation ein System von Institutionen, institutionellen Strukturen und institutionellem Wachstum [...] Das Wachstum einer Kultur ist eine kumulative Sequenz von Gewöhnungen/„Anpassungen“. Alle Wege und Mittel davon sind die gewohnten Reaktionen der menschlichen Natur auf Anforderungen, die sich unregelmäßig und zunehmend verändern, aber mit einer nahezu konstanten Abfolge der kumulierten Veränderungen. Wachstum geschieht unregelmäßig, da jede neue Bewegung eine Situation erzeugt, die eine weitere Variation der gewohnten Reaktion hervorruft. Es geschieht kumulativ, da jede neue Situation eine neue Variation der vorherigen ist und als Kausalfaktoren die Effekte all dessen, was vorher geschah, in sich trägt. Es geschieht beständig, da die zugrunde liegenden Eigenschaften der menschlichen Natur (Neigungen, Begabungen und weiteres) durch den Zwang der Reaktion - und auf der Basis der Gewohnheit - zum größten Teil unverändert bleiben.“260 Veblen prüfte die fundamentale Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise durch das Hinterfragen vieler der Faktoren, die als „gegeben“ angesehen oder durch die vielen Jahrhunderte der wirtschaftlichen Debatte empirisch gemacht wurden. Die scheinbare Einfachheit der heute etablierten Institutionen („Löhne“, „Mieten“, „Eigentum“, „Zinsen“ und „Arbeit“) wurde stark getrübt; da er erkannte, dass keine dieser Kategorien - außerhalb ihrer rein kategorialen Assoziation, die nur sehr begrenzt anwendbar ist - als intellektuell brauchbar angesehen werden konnte. Er scherzte über „eine Bande Inselbewohner auf den Aleuten, wie sie mit ihren Harken in der Brandung und in einem alten Wrack herumwühlen und magische Beschwörungen für den Fang von Meeresgetier murmeln, um ein Gleichgewicht von Mieten, Löhnen und Zinsen in der taxonomischen Realität herbeizuführen. Und das sei alles, was es gibt.“261 Er sah die Produktion und die Industrie selbst als einen gesellschaftlichen Prozess an, bei dem die Grenzen sehr verschwommen waren, da unweigerlich das Teilen von Wissen (Nutzungsrecht) und Fähigkeiten nötig ist. Er sah diese kategorischen Eigenschaften des Kapitalismus als dem Kapitalismus alleine innewohnend und nicht repräsentativ für die physische Realität. Sie sind daher ein gewaltiges künstliches Konstrukt. Er war der Ansicht, dass die dominanten neoklassischen Theorien zum Teil deshalb existieren, um die immanenten fundamentalen Klassenkämpfe und Feindseligkeiten zu verbergen und somit die Interessen der, wie er sie nannte, „eigennützigen Interessenten“ oder „unbeteiligten Eigentümer“ (Kapitalisten) weiterhin zu sichern.262 Er lehnte die Idee des „Privateigentums“ als „natürliches Recht“ von Locke, Smith und anderen ab. Er scherzte oft über die Absurdität des Gedankens, die den „unbeteiligten Eigentümer“ dazu berechtigt, „Eigentum“ an den Gütern zu beanspruchen, die in der Realität von der Arbeit des „gewöhnlichen Arbeiters“ produziert wurden. Damit betonte er die Absurdität des lange geltenden Prinzips, dass Eigentum aus Arbeit entsteht.263 Er ging dazu über, das gesellschaftliche Wesen der Güterproduktion zu beschreiben und klarzustellen, wie die wahre Natur 260

„'The Limitations of Marginal Utility', The Place of Science in Modern Civilization and Other Essays“, Thorstein Veblen, New York, Russell and Russell, 1961, p.241-242 261 „'Professor Clark’s Economics', Place of Science in Modern Civilization“, Thorstein Veblen, p.193 262 „Absentee Ownership and Business Enterprise in Recent Times“, Thorstein Veblen, Augustus M. Kelley, New York, 1964, p.407 263 „'The Beginnings of Ownership', Essays in Our Changing Order“, Thorstein Veblen, p.32.

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von Fähigkeiten und Wissensaneignung die Annahmen von Eigentumsrechten vollständig annulliert. Daher schrieb er: „Diese Theorie des natürlichen Rechts auf Eigentum macht die kreativen Anstrengungen eines isolierten, autarken Individuums zur Basis seines Eigentums. Dabei wird die Tatsache übersehen, dass es kein isoliertes, autarkes Individuum gibt [...]. Die Produktion findet nur in der Gesellschaft statt - nur durch das Zusammenarbeiten einer industriellen Gemeinschaft. Diese industrielle Gemeinschaft kann klein oder groß sein, [...] dennoch umfasst sie immer eine Gruppe, die groß genug ist, um Traditionen, Werkzeuge, technisches Wissen und Bräuche aufzuweisen und weiterzugeben. Ohne diese wäre keine industrielle Organisation und keine wirtschaftliche Beziehung von Individuen untereinander oder zu ihrer Umwelt möglich. [...] Ohne technisches Wissen kann es keine Produktion geben, demnach auch keine Kumulierung und keinen Wohlstand, den man als Sonderrecht oder anderweitig besitzen kann. Es gibt kein technisches Wissen abseits einer industriellen Gemeinschaft. Da es keine individuelle Produktion und keine individuelle Produktivität gibt, reduziert sich die Theorie des natürlichen Rechts auf Eigentum selbst unter der Logik ihrer eigenen Annahmen - zur Absurdität.“264 Genauso wie Marx sah er keine andere Möglichkeit, zwischen den zwei großen Klassen der Gesellschaft zu unterscheiden, als zwischen denjenigen, die arbeiten und denjenigen, die diese Arbeit ausnutzen.265 Hierbei ist der profiterzeugende Anteil des Kapitalismus (das „Geschäft“) vollständig getrennt von der Produktion selbst („Industrie“). Er unterscheidet also klar zwischen „Geschäft“ und Industrie und bezeichnet das Erstere als ein Mittel der „Sabotage“ der Industrie. Er sah einen gewaltigen Widerspruch zwischen der ethischen Absicht der allgemeinen Gemeinschaft, effizient und mit hoher Dienstbereitschaft zu produzieren, und den Gesetzen des Privateigentums, welche die Macht haben, die Industrie für Profit alleine zu lenken, wodurch die Effizienz reduziert und die ursprüngliche Absicht aufgehoben wird. Den Begriff „Sabotage“ definiert Veblen in diesem Zusammenhang als: „Der bewusste Entzug von Effizienz“.266 Er schreibt: „Die Industrieanlage liegt zunehmend still oder halb still, liegt zunehmend unterhalb seiner Produktionskapazität. Arbeiter werden entlassen, [...] obwohl diese Menschen allerlei Bedürfnisse nach Gütern und Dienstleistungen haben, die diese stillliegenden Anlagen und die arbeitslosen Arbeiter produzieren könnten. Aber aus geschäftlichen Gründen ist es unmöglich, diese stillgelegten Anlagen und arbeitslosen Arbeiter wieder arbeiten zu lassen - auf Grund von unzureichendem Profit des Geschäftsmanns oder, mit anderen Worten, wegen unzureichender Befriedigung der Kapitalinteressen“267 Weiterhin hat Veblen - im Gegensatz zu der Mehrheit der Menschen heute - die „korrupten“ Handlungen nicht auf ethischer Grundlage verurteilt. Er sah keines dieser Probleme der Misshandlung und Ausbeutung als eine Frage der „Moral“ oder „Ethik“. Er sah diese Probleme als natürlichen Bestandteil des Kapitalismus selbst. Er schreibt: „Es ist nicht so, dass diese führenden Köpfe der Großunternehmen, deren 264

ebd. pp.33-34 „'The Instinct of Workmanship and the Irksomeness of Labor', Essays in Our Changing Order“, Thorstein Veblen, pp. 188-190 266 „The Engineers and the Price System“, Thorstein Veblen, New York, Augustus M. Kelley, 1965, p.1 267 ebd., p.12 265

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Pflicht es ist, das gesunde Mindestmaß an Sabotage der Produktion zu verwalten, böswillig sind. Es ist nicht so, dass ihr Ziel eine Verringerung der Lebensdauer oder menschliches Unbehagen durch die zunehmende Beraubung ihren Mitbürgern ist. [...] Die Frage ist nicht, ob diese Beraubung menschlich ist, sondern ob sie gutes Geschäftsmanagement ist.“268 Bezüglich der Beschaffenheit der Regierung war Veblens Sichtweise eindeutig: Die Regierung existiere, vorwiegend durch ihr politisches Konstrukt, um die bestehende gesellschaftliche Ordnung und die Klassenstruktur zu verteidigen. Sie stützt die Gesetze des Privateigentums und damit auch die unangemessene Eigentümer/Herrscher-Klasse. „Gesetzgebung, polizeiliche Überwachung, Verwaltung der Justiz, das Militär und diplomatische Dienstleistungen haben alle hauptsächlich mit Geschäftsbeziehungen sowie Geldinteressen zu tun und stehen kaum mehr als beiläufig im Zusammenhang mit menschlichen Interessen/Bedürfnissen“,269 schrieb er. Die Idee der Demokratie wurde nach seiner Ansicht sehr durch die kapitalistische Macht verletzt. Er schrieb dazu: „Die konstitutionelle Regierung ist eine GeschäftsRegierung“.270 Veblen war das Phänomen des „Lobbying“ und „Kaufen“ von Politikern bekannt, welches wir heute als eine Form der Korruption ansehen. Er sah darin aber nicht die wahre Ursache des Problems. Vielmehr war die Kontrolle der Regierung durch „Geschäftsinteressen“ keine Anomalie - es war einfach das, wozu die Regierung sich durch ihre Art manifestiert hat.271 Eine Regierung als Institution für gesellschaftliche Kontrolle würde immer die „Reichen“ vor den „Armen“ beschützen. Da die „Armen“ immer deutlich zahlreicher sind als die „Reichen“, muss eine feste gesetzliche Struktur existieren, welche die Wohlhabenden (Besitzinteressen) bevorteilt, um die Klassentrennung und den Vorteil der kapitalistischen Interessen intakt zu halten.272 Er erkannte gleichermaßen, dass die kapitalistische Staatsregierung die gesellschaftlichen Werte dringend nach ihren Interessen ausrichten muss - Veblen nannte dies eine „Geld-Kultur“. Daher verstärkten die räuberischen, egoistischen und wettbewerbsbetonten Gewohnheiten, die typisch für „Erfolg“ in der zugrunde liegenden sozialen Kriegsführung des kapitalistischen Systems sind, diese Werte natürlich automatisch. Gütig und verwundbar zu sein, hatte in diesem Zusammenhang wenig mit Erfolg zu tun, da die Rücksichtslosen und strategisch Wetteifernden das Vorbild für gesellschaftliche Entlohnung waren.273 Grob gesagt, hat Veblen daran gearbeitet, die Kernstrukturen und Werte des Kapitalismus kritisch zu analysieren. Dabei kann man sagen, dass er zu soziologisch fortschrittlichen Schlussfolgerungen bezüglich der innewohnenden Widersprüche, technischer Ineffizienz und Wertestörungen in diesem Modell gekommen ist. Seine Werke sind sehr zu empfehlen, wenn man sich mit der Geschichte der wirtschaftlichen Denkweise beschäftigen möchte, speziell für diejenigen, die skeptisch gegenüber den Annahmen des Kapitalismus sind. 268

„Absentee Ownership and Business Enterprise in Recent Times“, Thorstein Veblen, New York, Augustus M. Kelley, 1964, pp.220-221 269 „The Theory of Business Enterprise“, Thorstein Veblen, New York, Augustus M. Kelley, 1965, p.269 270 ebd., p.285 271 ebd., p.286-287 272 ebd., p.404-405 273 „The Theory of the Leisure Class“, Thorstein Veblen, New York, Augustus M. Kelley, 1965, pp.229-230

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Zusammenfassung: Der Kapitalismus als „Gesellschaftskrankheit“ Die Geschichte des wirtschaftlichen Denkens ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte der menschlichen Sozialbeziehungen. Einhergehend mit einfachen Annahmen, die immer prominenter wurden und mit der Zeit als sakrosankt und unveränderlich galten. Dieses Element des Traditionalismus, welches aus Werten und Glaubenssystemen früherer Zeiten besteht, war der Fokus dieses kurzen Rückblicks auf die Wirtschaftsgeschichte. Der zentrale Punkt ist, dass die Eigenschaften, die in den vorherrschenden Theorien der modernen Wirtschaft als „gegeben“ angesehen werden, nicht auf physikalischer Verifizierung basieren. Dies wäre für eine wissenschaftliche Validierung aber notwendig. Vielmehr gründen sie lediglich auf der Aufrechterhaltung eines etablierten ideologischen Systems, das sich zunehmend rückwirkend auf seine eigene Logik beruft. Es rechtfertigt somit seine Existenz durch seine eigenen Standards, die es selbst gesetzt hat. Es ist nicht die kapitalistische Ideologie in ihren Einzelheiten, die heute am problematischsten ist, sondern das, was sie außenvorlässt. Genauso wie frühe Religionen die Erde als flach ansahen und sie ihre Rhetorik anpassen mussten, nachdem die Wissenschaft die Kugelform der Erde bewiesen hatte, so steht die Tradition der Marktwirtschaft vor ähnlichen Prüfungen. Wenn man die Einfachheit der Agrar- und später primitiven Industrie-Gesellschaften in Betracht zieht, so gab es kaum ein Bewusstsein (und damals auch kaum eine Notwendigkeit), über die möglichen negativen Konsequenzen - nicht nur für den Lebensraum (Ökologie), sondern auch für die Menschen (Volksgesundheit) - nachzudenken. Genauso ignoriert (oder sogar bekämpft) das Marktsystem durch seine veralteten Annahmen die gewaltigen Durchbrüche in Wissenschaft und Technik, die Möglichkeiten für Problemlösungen und erhöhten Wohlstand bringen könnten. Tatsächlich ist es sogar so, wie in dem Kapitel „Markt-Effizienz vs. technische Effizienz“ erläutert wird, dass die Marktwirtschaft/der Kapitalismus solche fortschrittlichen Handlungen und harmonischen Anerkennungen hinsichtlich des Lebensraums und des menschlichen Wohlergehens nicht fördern kann, da seine eigenen Mechanismen dies systematisch nicht erlauben oder schon grundsätzlich gegen diese Möglichkeiten arbeiten. Generell ist die Lösung von Problemen - also die Erhöhung von Effizienz - in vielerlei Hinsicht ein Gräuel für die Funktionsweise des Marktes. Probleme zu lösen, heißt generell, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, Einkommen aus der „Behandlung“ dieser Probleme zu generieren. Neue Effizienzen bedeuten so gut wie immer eine Reduzierung des Bedarfs an Arbeit und Energie. Auch wenn dies in Bezug auf echte erdbasierte-Effizienz positiv erscheint, bedeutet es in der Anwendung oft einen Verlust an Arbeitsplätzen und eine Reduzierung von Geldzirkulation.274 An diesem Punkt beginnt das kapitalistische Modell, die Rolle einer Gesellschaftskrankheit anzunehmen - nicht nur aufgrund dessen, was es systematisch ignoriert, nicht erlaubt oder bekämpft, sondern auch bezüglich dessen, 274

Ein einfaches Beispiel dafür ist die Menge an Geldern und Arbeitsplätzen, die durch die Behandlung von Krebs erzeugt worden ist. Wenn nun ein Heilmittel für Krebs gefunden werden würde, wäre eine Verkleinerung dieser riesigen medizinischen Einrichtungen die logische Folge. Das heißt, dass das Lösen von Problemen zu einem Existenzverlust für viele führen kann, die diese vorher Probleme behandelt haben. Das erzeugt einen verkehrten Anreiz, die Dinge so zu belassen, wie sie sind - also generell Wandel zu scheuen.

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was es verstärkt und fortführt. Wenn wir zu Lockes Aussage über die Natur von Geld zurückdenken - mit der stillschweigenden Zustimmung durch die Gemeinschaft, welches als Ware an und für sich dienen sollte - so ist es einfach zu sehen, wie dieses einfache „Tauschmittel“ in seine heute soziologische Form mutiert ist. Nun dient die gesamte Grundlage des Marktes nicht der Absicht, menschliches Überleben, Gesundheit und Wohlergehen zu erschaffen und zu sichern, sondern fördert lediglich Handlungen im Sinne des Profits und des Profits alleine. Adam Smith hätte es nie für möglich gehalten, dass heute der lukrativste, best-entlohnteste Sektor nicht die Produktion von lebensunterstützenden/verbesserenden Gütern ist, sondern eher das Hin- und Hergeschiebe von Geld - also die „Arbeit“ von Finanzinstitutionen wie Banken, „Wall Street“ und Investmentunternehmen, die eigentlich nichts erschaffen, dennoch über enormen Einfluss und Reichtum verfügen. Heute ist die einzige wirklich bestehende Werttheorie die „Geldwertschöpfungskette“.275 Geld hat hinsichtlich der verstärkten Psychologie, die es bewegt, ein eigenes Leben entwickelt. Es hat keinen direkten beabsichtigten Zweck, außer das Verlangen zu wecken, aus weniger Geld mehr Geld zu machen (Investitionen). Dieses Phänomen des „geldsuchenden Geldes“ hat nicht nur eine Wertesystem-Störung geschaffen, bei der das Interesse, mehr Geld zu erlangen, alles übertrifft, wodurch wahrhaftig wichtige Fragen bezüglich der Umwelt und der Volksgesundheit sekundär geworden sind und außerhalb des Blickpunktes der Wirtschaft liegen, sondern hat durch die stetige Neigung zur „Vervielfältigung“ und „Expansion“ krebsähnliche Qualitäten, da dieses Konzept des benötigten „Wachstums“, anstelle eines konstanten Gleichgewichts, seine pathologischen Auswirkungen auf vielen Ebenen fortführt. Über das Schuldensystem276 könnte viel gesagt werden und über die Tatsache, dass heute nahezu alle Länder des Planeten Erde beieinander in einem solchem Ausmaß untereinander verschuldet sind, dass wir, die „menschliche Spezies“, nicht genügend Geld im Umlauf haben, um unsere Schulden abzuzahlen, die wir uns aus dem Nichts geliehen haben. Die Notwendigkeit, mehr und mehr „Kredit“ aufzunehmen, um den „Markt“ anzukurbeln, ist heutzutage aufgrund dieses Ungleichgewichts dauerhaft vorhanden. Das heißt, wir reden hier, wie bei einem Krebsgeschwür, von dem Vorhaben der unendlichen Ausbreitung und des unendlichen Konsums. Das kann auf einem Planten mit begrenzten Ressourcen einfach nicht funktionieren. Weiterhin hält das knappheitsgetriebene, wetteifernde Ethos innerhalb des Modells einen spaltenden Klassenkrieg am Laufen, der durch Imperialismus und Protektionismus nicht nur zum permanenten Krieg der Welt gegen sich selbst führt, sondern auch zum permanenten Krieg der Allgemeinbevölkerung. Heute haben die meisten Menschen Angst voreinander, da Ausbeutung und Missbrauch das vorherrschende belohnte Ethos ist. Alle Menschen haben in dieser Kultur unnötigerweise eine Sichtweise eingenommen, nach der sie andere als Gefahr für ihr eigenes Überleben in einem abstrakten „wirtschaftlichen“ Kontext sehen. Wenn beispielsweise zwei Menschen zu einem Bewerbungsgespräch gehen, um Mittel zum Leben (Geld) zu erhalten, so sind sie nicht an dem Wohlbefinden des anderen 275

Dieser Begriff wurde geprägt von John McMurtry in seinem Werk „The Cancer Stage of Capitalism“, Pluto Press, 1999 276 Die Erschaffung von Geld aus Schulden in Verbindung mit der Vervielfältigung durch das MindestreserveKreditsystem (eine nahezu universelle Praktik aller Zentralbanken der Welt) sucht allein durch seine Mechanismen stets nach unendlichem Wachstum.

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interessiert, da nur einer von beiden den Arbeitsplatz bekommen kann. Tatsächlich ist empathisches Empfinden in diesem System des Vorteils ungünstig und wird durch finanzielle Mechanismen überhaupt nicht belohnt. Gleichermaßen ist die Annahme, dass „Fairness“ in solch einer wettbewerbsbetonten Umgebung existieren kann, besonders wenn die Natur des „Gewinnens“ und „Verlierens“ einen Verlust von Lebensförderung oder Überleben bedeutet, ein zutiefst naives Ideal. Die bestehenden gesetzlichen Statuten, die Monopolgesetze und finanzielle „Korruption“ unterbinden sollen, existieren, weil es in diesem Modell keine anderen Schutzmaßnahmen gegen die so genannte „Korruption“ gibt. Wie durch Smith und Veblen in diesem Kapitel dargestellt, ist der „Staat“ eigentlich eine Manifestierung der ökonomischen Prämisse und nicht umgekehrt. Der Gebrauch von Staatsmacht und Gesetzgebung, um Sicherheit und Wohlstand einer Klasse gegenüber einer anderen sicherzustellen, ist keine Entstellung des kapitalistischen Systems. Es ist ein Kernbestandteil der wettbewerbsbetonten Ethik des freien Marktes. Viele der libertären, laissez-fairen, österreichischen, chicagoer und weiteren neoklassischen Abzweigungen tendieren beständig dazu, zu sagen, dass „staatliche Interventionen“ heute das Problem seien. Dies gelte zum Beispiel für protektionistische Import/Export-Gesetze oder die Begünstigung von bestimmten Industrien durch den Staat. Es wird angenommen, dass der Markt irgendwie „frei“ funktionieren kann, ohne die Manifestierung von Monopolen oder der immanenten „Korruption“ (was heute als „Vetternwirtschaft“ (engl. crony capitalism) bezeichnet wird), obwohl die gesamte Grundlage der Strategien doch wettbewerbsbetont oder direkter: „kriegerisch“, ist. Noch einmal: Die Annahme, der Staat würde nicht als Werkzeug für einen Wettbewerbsvorteil - als Werkzeug der Unternehmen ausgenutzt, ist absurd.277 Letztendlich waren diese offenkundigen und unnötigerweise egoistischen Werte der Kern menschlichen Konflikts von Beginn an. Wie bereits erwähnt, wird die historische Auffassung der menschlichen Kriegsführung auf der Klassenebene meist als „gegeben“, „natürlich“ oder „unveränderbar“ gesehen. In dem bestehenden gesellschaftlichen Modell, das aus einem immanent knappheitsgetriebenen, fremdenfeindlichen und rassistischen Bezugsrahmen entspringt, gibt es so etwas wie Frieden oder Gleichgewicht nicht. Es ist in dem kapitalistischen Modell schlichtweg nicht möglich. Ebenso besteht weiterhin die Illusion der Gleichheit der Menschen innerhalb sogenannter „demokratischer“ Gesellschaften. Dabei wird angenommen, dass sich politische Gleichheit irgendwie aus der expliziten wirtschaftlichen Ungleichheit, die dieser Produktionsweise und menschlichen Beziehungen innewohnt, manifestieren kann. Am Anfang dieses Kapitels wurde kurz auf den Unterschied zwischen einer „historischen“ und „mechanistischen“ Sichtweise der wirtschaftlichen Logik hingewiesen. Die Bedeutung der „mechanistischen“ (wissenschaftlichen) Sichtweise wird in den folgenden Kapiteln untersucht. Diese ist wichtig, um zu erkennen, wie 277

Es ist wichtig herauszustellen, dass „Marktdisziplin“ oder die korrigierende Natur des Marktes, von der angeblich jedes Unternehmen betroffen sein kann, heute praktisch nur auf die unteren Klassen anwendbar ist. Das konnte in der Vergangenheit bei den „too big to fail" Rhetoriken und die letzten (2008) Bankenrettungen in Höhe von über 20 Trillionen $ beobachtet werden. Die wohlhabenden Bereiche der Gesellschaft werden durch die Prinzipien des sogenannten „Sozialismus“ geschützt, nicht des Kapitalismus.

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extrem veraltet und fehlerhaft unsere Marktwirtschaft tatsächlich ist. Wenn wir die bekannten Gesetze der Natur auf menschlicher und ökologischer Ebene mit berücksichtigen und anfangen, unsere Optionen und Möglichkeiten zu berechnen technisch, ohne die Last solcher historischer Annahmen - so ergibt sich ein gänzlich anderer Gedankengang. Aus der Sicht von TZM ist dies die neue Weltanschauung, an der sich die Menschheit ausrichten sollte, um die sich auftürmenden soziologischen und ökologischen Probleme zu lösen. Ebenso wird den enormen Möglichkeiten zur Steigerung des Wohles aller Menschen der Weg bereitet.

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Markt-Effizienz vs. technische Effizienz

Markt-Effizienz vs. technische Effizienz „Der synergetische Aspekt, dass die Industrie immer mehr Arbeit durch immer weniger Zeitund Energieinvestitionen (gemessen an Performance-Einheiten) umsetzt [...] wurde formal niemals als Erfolg einer sesshaften Gesellschaft angesehen. Die synergetische Effektivität eines weltweiten, integrierten industriellen Prozesses ist deutlich größer als der beschränkte Synergieeffekt eigenständig operierender separater Systeme. Daher kann nur eine lückenlos globale Hoheitsentmachtung den Weg zu einem allumfassenden hohen Lebensstandard für alle Menschen ebnen.“278 - R. Buckminster Fuller

Überblick Blickt man auf die letzten ca. 400 Jahre zurück, wurde die wissenschaftliche Entwicklung, die parallel zur traditionellen wirtschaftlichen Entwicklung vor sich ging, größtenteils ignoriert und in der ökonomischen Theorie als nebensächlich angesehen. Das Ergebnis war eine „Entkopplung“ der sozioökonomischen Struktur von der lebenserhaltenden Struktur, an die wir alle gebunden und von der wir alle abhängig sind. Abgesehen von bestimmten fachlichen Annahmen, wie ein System, das nicht auf Marktmechanismen/-bewegungen und „Preismechanismen“ basiert, funktionieren könnte,279 ist heute das geläufige Argument für die kapitalistische Marktwirtschaft, dass es ein System der „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ darstellt. Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage hängt stark von der eigenen Interpretation ab, obwohl solche verallgemeinernden Begriffe in der Rhetorik von Befürwortern des Modells sehr häufig auftreten.280 Solche Ansichten scheinen Reaktionen auf vergangene Versuche alternativer Gesellschaftssysteme zu sein, die Machtverteilungsprobleme wie „Totalitarismus“ erzeugten.281 Daher führt diese Angst seitdem dazu, dass bei jedem Modell außerhalb des kapitalistischen Rahmens oft impulsiv auf die historische Tendenz zur „Tyrannei“ verwiesen wird - und dann verworfen wird. Wie dem auch sei, dieser zugrunde liegende „Freiheits“-Ausdruck, was auch immer man subjektiv damit impliziert, sorgte für Neurosen oder Verwirrung darüber, was es für eine Spezies wie die unsere bedeutet, zu überleben und sich im Lebensraum weiterzuentwickeln - einem Lebensraum, in dem eindeutig Naturgesetze herrschen. Es zeigt sich, dass wir auf der Ebene der Beziehung zu unserem Lebensraum schlichtweg nicht frei sind. Eine allumfassende Werte-Ausrichtung dieser vermeintlichen Freiheit, die dann auf die Art und Weise, wie unsere globale Wirtschaft operieren sollte, angewandt wird, gefährdet zunehmend die menschliche Nachhaltigkeit auf dem Planeten Erde.282

278

Operating Manual for Spaceship Earth, R. Buckminster Fuller, 1968, Chapter 6 Ludig von Mises argumentiert in seinem berühmten Werk „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“, dass der „Preismechanismus" der einzige Weg ist, um zu verstehen, wie Güter in einer Wirtschaft „effizient“ produziert und bewegt werden. Die Kritik an jedem „geplanten" System wird heute von vielen als unantastbar angepriesen, wodurch das kapitalistische System gerechtfertigt wird. Diese Thematik wird in Teil III behandelt. 280 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Adam Smith, 1776, par. IV.9.51 281 Ein klassischer Text, der diese grundlegende Angst aufzeigt war F.A. Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“. „Menschliche Natur“ hatte eine klare Implikation. Diese wurde grundlegend durch historische Trends zum Totalitarismus gerechtfertigt, der mit kollaborativen/geplanten Wirtschaften verbunden wird. 282 Literaturempfehlung: “A Safe Operating Space for Humanity“, Nature, 461, 472-475, 24 September 2009, doi:10.1038/461472a 279

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Sieht man von der Komplexität sozialer Beziehungen ab, sind Menschen, unabhängig von ihren traditionellen sozialen Gepflogenheiten, eng an die herrschenden Naturgesetze der Erde gebunden. Sich von dieser Anpassung wegzubewegen, kommt einer beständigen Verminderung unserer Nachhaltigkeit, des Wohlstands und der Volksgesundheit gleich. Erinnern wir uns: Die grundsätzlichen Annahmen unseres aktuellen sozioökonomischen Systems entwickelten sich in Zeiten mit deutlich geringerem wissenschaftlichen Bewusstsein über uns und unseren Lebensraum.283 Viele der heute in modernen Gesellschaften verbreiteten negativen Auswirkungen gab es schlichtweg in der Vergangenheit nicht und jetzt bringt diese Kollision der Systeme unsere Welt in vielerlei Hinsicht weiter aus dem Gleichgewicht. An dieser Stelle vertreten wir die Auffassung, dass die Integrität eines jeden Wirtschaftsmodells am besten an dem Grad der Ausrichtung an den bekannten, vorherrschenden Naturgesetzen gemessen wird. Dieses die Naturgesetze berücksichtigende Konzept wird hier nicht als esoterisch oder metaphysisch dargestellt; man kann es vielmehr allgegenwärtig beobachten. Es ist wahr, dass sich unsere Auffassung der Naturgesetze ständig weiterentwickelt und anpasst. Trotzdem waren und sind einige kausale Gegebenheiten unumstritten. Es gibt keinen Zweifel, dass der menschliche Organismus bestimmte lebensnotwendige Bedürfnisse wie Nahrung, Wasser und Luft hat. Es gibt keinen Zweifel, dass die grundlegenden ökologischen Prozesse, welche die ökologische Stabilität unseres Lebensraums sicherstellen, in ihren symbiotisch-synergetischen Beziehungen nicht gestört werden dürfen.284 Es gibt außerdem keinen Zweifel, dass die menschliche Psyche, so komplex sie auch sein mag, vorhersagbar auf umweltbedingte Stressfaktoren reagiert und somit Verhaltensmuster wie Gewalt, Depressionen, Missbrauch und andere schädliche Erscheinungen daraus resultieren.285 Diese wissenschaftliche, kausale oder technische Perspektive der wirtschaftlichen Beziehungen reduziert alle relevanten Faktoren auf einen Bezugsrahmen und Gedankengang in Verbindung zu unserem gegenwärtigen Verständnis der physischen Welt und ihren natürlichen, konkreten Dynamiken. Diese Logik greift die Humanwissenschaft und somit die Gemeinsamkeiten menschlicher Bedürfnisse und der Volksgesundheit auf und kombiniert sie mit den erwiesenen Regeln unseres Lebensraums, mit dem wir synergetisch und symbiotisch verbunden sind. Insgesamt kann ein von Grund auf rationales Modell der wirtschaftlichen Funktionsweise generalisiert werden - auch ohne die Jahrhunderte der traditionellen Wirtschaftstheorie.286 Das bedeutet nicht, dass diese Argumente nicht für das Verständnis der kulturellen Evolution wichtig sind. Es ist vielmehr Folgendes gemeint: Wenn man eine wahrhaftig wissenschaftliche Sichtweise einnimmt bezüglich der Frage, was für die 283

Auch wenn einige Historiker den Beginn der wissenschaftlichen Methode im antiken Griechenland sehen, so war die Renaissance des 16. Jahrhundert eine bedeutende Zeit geprägt von großen Entdeckungen und Fortschritt. Galileo (1564 - 1642) wird heute von einigen als „Vater" der modernen Wissenschaft angesehen. Jedoch gab es im Bereich der Wirtschaft wenig Interesse an diesen aufkommenden Erkenntnissen. 284 Die Störung der Prozesse des Ökosystems durch menschliche Handlungen hat deutliche negative Konsequenzen. Umweltverschmutzung, Waldrodung, Verlust an Biodiversität und viele weitere häufige Probleme des aktuellen Zustands der Welt zeigen eine tiefgreifende Fehlausrichtung zu den symbiotischen/synergistischen Realitäten unseres Lebensraums, an den wir gebunden sind. Referenz: http://www.globalchange.umich.edu/globalchange1/current/lectures/kling/ecosystem/ecosystem.html 285 Siehe vorheriges Kapitel: „Definieren der Volksgesundheit“ 286 Siehe vorheriges Kapitel: „Wirtschaftsgeschichte“

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Effektivitätsstrategie, die das Schachspiel des menschlichen Überlebens verlangt, „funktioniert“ oder „nicht funktioniert“, dann braucht man solche historischen Bezüge in Abstraktion eigentlich nicht. Diese Ansicht ist im Kern der reformistischen Logik von TZM und wird in Teil III dieses Textes noch einmal ausgeführt. Entscheidend ist, dass diese Einsichten des nahezu unveränderbaren wissenschaftlichen Bewusstseins in dem heute dominierenden Wirtschaftsmodell nahezu vollständig unbeachtet bleiben. Tatsächlich wird hier noch gezeigt werden, dass diese beiden Systeme nicht nur voneinander getrennt sind; sie sind in vielerlei Hinsicht einander diametral entgegengesetzt. Das heißt, dass die wettbewerbsbetonte Marktwirtschaft in ihrer Gesamtheit eigentlich nicht „reparierbar“ ist und demnach ein direkt auf der Realität der „Naturgesetze“ basierendes System von Grund auf neu konstruiert werden muss. Dieses Kapitel wird eine Reihe von „ökonomischen“ Erörterungen sowohl aus der Logik des Marktes als auch dieser erwähnten mechanistischen oder „technischen“ Logik untersuchen und gegenüberstellen. Es wird dargestellt werden, wie „Effizienz“ in diesen zwei Perspektiven jeweils sehr unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Dabei wird argumentiert, dass die von Menschen erschaffenen Regeln der „Markteffizienz“,287 die sich zum größten Teil auf klassische ökonomische Dynamiken beziehen, die Profit und Wachstum fördern, nur im Bezug auf sich selbst effizient sind (Zirkelschluss). Die „technische Effizienz“ dagegen bezieht sich auf die bekannten Gesetze der Natur und sucht die optimale Methode des industriellen Prozesses, um den Lebensraum zu erhalten, Abfall zu reduzieren und letztendlich damit auch die Volksgesundheit sicherzustellen. Sie basiert auf sich entwickelnden wissenschaftlichen Einsichten.288 Zyklischer Konsum & Wirtschaftswachstum In seiner grundlegenden Funktion kann der Kapitalismus der freien Marktwirtschaft als Interaktion zwischen Besitzenden, Arbeitern und Konsumenten verallgemeinert werden. Die Verbraucher erzeugen die Nachfrage für die Produktion durch die Besitzenden („Kapitalisten“), die von den Arbeitern durchgeführt wird. Dieser Kreis beginnt im Grunde mit der „Nachfrage“; darum ist der eigentliche Antrieb des Marktes das Kaufinteresse von jedem sowie die Möglichkeit und die Handlung des Kaufens. Alle Rezessionen/Depressionen289 sind mehr oder weniger das Ergebnis eines Umsatzverlusts. Daher ist die entscheidende Bedingung, um die Beschäftigung und damit die Wirtschaft in einem „Stabilitäts“- oder „Wachstums“-Zustand zu erhalten, der konstante, zyklische Konsum. Wirtschaftswachstum, das allgemein auch als „eine Steigerung der Kapazität zur Produktion von Waren und Dienstleistungen einer Ökonomie im Vergleich zu einem anderen Zeitraum“290 definiert wird, ist heute ein permanentes Interesse jeder nationalen Wirtschaft und damit auch der globalen Wirtschaft. Viele 287

Der Begriff „Markteffizienz“ sollte hier nicht mit anderen historischen Bedeutungen verwechselt werden. Die Bedeutung in diesem Kapitel ist neu. Traditionelle Bedeutung: http://www.investopedia.com/articles/02/101502.asp#axzz2H9lWlQwR 288 Der Begriff „Ökonomie“ aus dem Griechischen [oikonomia] bedeutet „Verwaltung eines Haushalts; Sparsamkeit“. Also zu wirt·schaf·ten, oder „Erhöhung von Effizienz“. 289 Rezessionen werden für gewöhnlich wie folgt definiert: „Rezession bezeichnet die kontraktive Konjunkturphase, in welcher ein Abschwung der Wirtschaft verzeichnet wird.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Rezession#Rezession 290 Definition von „Wirtschaftswachstum“: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/wachstum.html

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makroökonomische Taktiken werden oft in Zeiten der Rezession benutzt, um weitere Kredite, die Produktion und den Konsum zu fördern und damit die Wirtschaft auf oder idealerweise über ihrem gegenwärtigen Level am Laufen zu halten.291 Die Konjunktur, ein Verlauf von oszillierendem Aufschwung und Rückgang, wurde schon lange als Charakteristikum der Marktwirtschaft erkannt. Dies rührt aus der Natur der „Marktdisziplin“ oder -Korrekturen, die, glaubt man Theoretikern, teilweise einer natürlichen Ebbe und Flut von Geschäftserfolgen und -misserfolgen entsprechen.292 Kurz gesagt erzeugt die Rate (Erhöhung oder Senkung) des Konsums die Wachstums- und Kontraktionsperioden des Geschäftszyklus. Mit der makroökonomischen monetären Regulierung wird die Menge an Liquidität (oft durch Zinsraten) erhöht oder verringert, um die Expansionen und Kontraktionen zu „managen“. Auch wenn moderne makroökonomische Richtlinien nicht Thema dieses Kapitels sind, ist es wichtig am Rande zu erwähnen, dass beidseitiger Respekt gegenüber den Expansions- und Kontraktionsperioden des Geschäftszyklus in der Vergangenheit nicht existierte. Perioden der monetären Expansion (oft durch günstige Kredite), die mit Zeiten der wirtschaftlichen Expansion korrelieren (da mehr Geld in Umlauf kommt) werden von der Bevölkerung als Erfolge für die Gesellschaft gefeiert, wobei alle Kontraktionen als politische Fehler gesehen werden. Demnach bestand immer ein Interesse des politischen Establishments (das sich gut darstellen will) und der großen, einflussreichen Institutionen des Marktes (die Unternehmensprofite sichern), die Expansionsperioden so lange wie möglich zu erhalten und alle Kontraktionen zu bekämpfen. Diese Perspektive ist typisch für das Wertesystem des Kapitalismus, da „Schmerz“, oft in einer kurzsichtigen Weise, jederzeit verhindert werden muss. Kein Unternehmen möchte freiwillig schrumpfen, genauso wie keine politische Partei freiwillig „schlecht“ aussehen möchte, auch wenn traditionelle Wirtschaftstheorien uns sagen, dass diese Perioden der Kontraktion „natürlich“ sind und erlaubt werden sollten. Kurz gesagt ist das Ergebnis ein konstanter Anstieg der Geldmenge (Kaufkraft und Kapital) während Zeiten der Rezession. Das Endergebnis sind massive weltweite Schulden, sowohl öffentlich als auch privat.293 Fakt ist, dass sämtliches Geld durch Kredite erschaffen wird und auf jeden dieser Kredite werden Zinsen erhoben. Dabei muss der Kredit inklusive der Zinsen (der Profit der Bank) zurückgezahlt werden. Das heißt, dass die Natur der Geldschöpfung von vornherein eine negative Bilanz mit sich bringt. Es gibt immer mehr Schulden, als Geld im Umlauf ist.294 291

Eine häufige Maßnahme der Zentralbanken in Zeiten der Rezession ist es, die „Liquidität“ in der Wirtschaft zu erhöhen. Liquidität ist schlicht die Menge an Kapital, die für Investitionen und Ausgaben zur Verfügung steht. Die Federal Reserve (die Zentralbank der Vereinigten Staaten von Amerika) regelt die Liquidität typischerweise über die Anpassung von Zinssätzen. 292 Die Konjunktur wird oft in 5 Stufen eingeteilt: Wachstum (Expansion), Höhepunkt, Rezession (Kontraktion), Tiefpunkt und Erholung. [http://www.investopedia.com/terms/b/businesscycle.asp#axzz2IGANj1hr] (Englische Quelle). 293 Laut einem 2010 veröffentlichtem Bericht des World Economic Forums haben sich die weltweiten Kredite (oder demnach Schulden) zwischen 2000 und 2010 von $57 Billionen auf $109 Billionen erhöht. Es prognostiziert außerdem $210 Billionen weltweite Schulden im Jahr 2020. [http://www.weforum.org/reports/sustainable-creditreport-2011] 294 Laut der Federal Reserve lagen 2009 die gesamten US Schulden (Öffentlich und Privat) bei ungefähr $51 Billionen. [https://www.federalreserve.gov/datadownload/Download.aspx?rel=Z1&series=654245a7abac051cc4a9060c911e 1fa4&filetype=csv&label=include&layout=seriescolumn&from=01/01/1945&to=12/31/2010] Wenn wir dies mit der existierenden Geldmenge vergleichen (die in M3 gemessen wird, was die weitläufigste Messform ist) sehen wir, dass diese im Dezember 2012 $15 Billionen betrug. http://www.shadowstats.com/charts/monetary-base-money-supply

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Um also auf das zentrale Thema der benötigten Nachfrage/Konsum für die Funktionsweise der Wirtschaft zurückzukommen: Dieser Prozess des Austauschs und generell der Fokus auf Wachstum ist der Kern des Verständnisses von „Effizienz“ innerhalb des Marktsystems. Es spielt keine Rolle, was produziert wird oder welche Auswirkungen dies auf den Menschen und auf die Erde hat. Das sind, wie schon erwähnt, „Externalitäten“. Ein spezielles Beispiel dieser Logik ist der Aktienmarkt, der selbst nicht mehr ist als der Handel mit Geld und seinen heute zahlreichen „Derivaten“, die enormes BIP und „Wachstum“ durch die resultierenden Verkäufe/Profite erzeugen.295 Jedoch produzieren all diese Handlungen nichts von tatsächlichem, lebensunterstützendem Wert. Der Aktienmarkt und die extrem mächtigen Finanzinstitutionen sind gegenüber der realen, produzierenden Wirtschaft vollständig nebensächlich. Viele argumentieren, dass diese Investitionsinstitutionen Geschäfte und Arbeitsplätze durch die Bereitstellung von Kapital ermöglichen, allerdings sind diese Handlungen nur in dem aktuellen System (Markteffizienz) von Bedeutung und vollkommen irrelevant, wenn es um die reale Produktion (technische Effizienz) geht. Wenn es um die Marktlogik geht, heißt es kurz gesagt: Je mehr Umsatz oder Verkäufe, desto besser. Dies ist unabhängig davon, ob die Verkaufsgegenstände nun ein Kredit, Steine, „Hoffnung“ oder Pfannkuchen sind. Jegliche Verschmutzung, Müll oder andere solcher Probleme sind „außerhalb“. Die technische Rolle der tatsächlichen Produktionsprozesse und Strategien für effiziente Verteilung, Entwurfsanwendungen oder Ähnliches werden nicht bedacht. Es wird angenommen, dass sich solche Faktoren metaphysisch im besten Interesse der Menschen und des Lebensraums ergeben; das ist, was die „unsichtbare Hand“ des Marktes impliziert.296 Jedoch hat die wachsende „mehr mit weniger“-Revolution297 in den industriellen Wissenschaften eine neue Realität des Fortschritts der industriellen Technologie geschaffen, die (der) das Muster der Effizienz durch „anwachsendem Materialaufwand“ umkehrt. Die Logik, dass „mehr Arbeit, mehr Energie und mehr Ressourcen“ proportional effektivere Ergebnisse liefert, wurde in Frage gestellt. Immer häufiger konnte man aufgrund unserer modernen wissenschaftlichen und technischen Anwendungen298 die bestimmte Aufgaben mit weniger Energie, Arbeit und Materialien durchführen. Auch wenn die Kommunikation über Satelliten intellektuell sehr kompliziert ist, also auf einem enormen Maß an entwickeltem Wissen aufbaut, so ist sie in der physischen Realität eher simpel und ressourceneffizient; zumindest im Vergleich zu 295

Beispielsweise betrug 2010 in den USA der Risikokapitalmarkt, der im Prinzip Geld in neue Unternehmen investiert, 21% des BIP. [http://www.nvca.org/index.php?option=comcontent&view=article&id=255&Itemid=103] Laut einem 2012 erschienen Artikel in „The New Republic“: „Die größten sechs Banken in unserer (US) Wirtschaft haben nun einen Gesamtwert an Wertanlagen von über 63% des BIP“ [http://www.tnr.com/article/politics/shooting-banks#] 296 Siehe Kapitel „Wirtschaftsgeschichte“ in dem Adam Smiths Idee der „unsichtbaren Hand“ diskutiert wird. 297 Als historische Anmerkung: Der Ingenieur R. Buckminster Fuller benutzte die Aussage („Mehr mit weniger“) in den Diskussionen über dieses Phänomen in seinem Werk „Operating Manual for Spaceship Earth“, 1968 298 Der berühmte ENIAC Computer der 1940er Jahre bestand aus 17468 Vakuumröhren, 70000 Widerständen, 10000 Kondensatoren, 1500 Relais, 6000 manuellen Schaltern und 5 Millionen verlöteten Verbindungen. Er bedeckte 167m² des Bodens, wog 30 Tonnen und verbrauchte 160 Kilowatt an elektrischer Energie. Er würde heutzutage ca. 6 Millionen Dollar kosten. Heute rechnet ein billiges, hosentaschen-großes Handy um ein vielfaches schneller als der ENIAC. [http://inventors.about.com/od/estartinventions/a/Eniac.htm]

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den früheren Kommunikationsalternativen, die in ihrer weltweiten Anwendung ein enormes Maß an sperrigen Materialien wie schweren Kupferkabeln und die schwierige, oft riskante Aufgabe, diese Materialien durch menschliche Arbeitskraft bereitzustellen, benötigten. Was heute durch die vergleichsweise kleinen Satelliten im Orbit rund um den Globus erreicht wird, ist wahrhaftig erstaunlich. Diese DesignRevolution, die den Kern der wahrhaftigen wirtschaftlichen (technischen) Effizienz darstellt (trifft//ungern), steht in direkter Opposition zu dem wachstumsbasierten Wirtschaftsmodell des zyklischen Konsums. Noch einmal: Die Absicht des Marktsystems ist es, eine konstante oder erhöhte Umsatzrate zu schaffen. Das erhält und schafft Arbeitsplätze und sogenanntes Wachstum. Also basiert die gesamte Annahme von Effizienz innerhalb des Marktes auf Strategien, um dies zu bewerkstelligen. Demnach wird jede Kraft, die versucht, die benötigte Arbeitskraft bzw. den benötigen Umsatz zu reduzieren, vom Markt als „ineffizient“ betrachtet, auch wenn dies im Sinne der wahren Definition einer Wirtschaft - also zu erhalten, Abfall zu reduzieren und mehr mit weniger zu schaffen sehr effizient wäre. Nehmen wir hypothetisch an, unsere globale Gesellschaft würde auf eine einzelne kleine Insel mit einer entsprechend geringen Bevölkerung geschrumpft, mit sehr begrenzter Technologie im Vergleich zu heute. Angenommen, man findet heraus, dass nur x Nahrungsmittel/überlebensnotwendige Güter in der natürlichen Regeneration des Landes möglich sind. Wäre es dann eine gute Idee, ein Wirtschaftssystem einzuführen, welches die Nutzung und den Umsatz der Ressourcen so schnell wie möglich beschleunigt - zum Zwecke des „Wachstums“? Natürlicherweise würde sich in solchen Bedingungen das Ethos der strategischen Nutzung und Erhaltung entwickeln. Die Idee wäre, Verschwendung zu reduzieren, nicht zu beschleunigen. Das ist, wie bereits erwähnt, die wahre Definition einer „Wirtschaft“ – zu wirtschaften. Überflüssige Obsoleszenz: Wettbewerbsbasiert und geplant Wenn wir über Obsoleszenz (im engen Sinne Veralterung) nachdenken, machen wir das oft im Kontext der rapiden technologischen Veränderungen, die heute in der Welt geschehen. Alle paar Jahre, so scheint es, entwickeln sich unsere Kommunikationsund Rechengeräte, also Computertechnologien, rasant weiter. Das „Mooresche Gesetz“, welches im Grunde zeigt, dass sich Rechenleistung alle 18-24 Monate verdoppelt, wurde nun auf andere ähnliche technologische Anwendungen übertragen, wodurch generell der gewaltige Trend des wissenschaftlichen Fortschritts deutlich wird.299 Wenn es aber um die Güterproduktion geht, gibt es heutzutage zwei Formen der Obsoleszenz, die nicht auf der natürlichen Entwicklung der technologischen Möglichkeiten basieren, sondern auf (a) der künstlichen, wettbewerbsbasierten Struktur des Marktsystems sowie (b) dem stetigen Drang nach Markt-„Effizienz“ durch Umsatz und wiederholten Profit. Die erste (a) könnte „wettbewerbsbasierte Obsoleszenz“ genannt werden. Diese Obsoleszenz folgt aus der Natur einer wettbewerbsbasierten Wirtschaft, da jede produzierende Einheit durch die Reduzierung von Ausgaben in der Produktion einen 299

Literaturempfehlung: „The Law of Accelerating Returns“, Ray Kurzweil [http://www.kurzweilai.net/the-law-ofaccelerating-returns]

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Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen erreichen möchte, um den Preis „wettbewerbsfähig“ niedrig für den Konsumenten zu halten. Dieser Mechanismus wird traditionell „Kosteneffizienz“ genannt und das Ergebnis sind Produkte, die schon bei ihrer Fertigstellung minderwertig sind (relativ gesehen). Diese wettbewerbsbasierte Notwendigkeit zieht sich durch jeden Produktionsschritt. Daraus folgt eine Reduzierung der technischen Effizienz durch die Nutzung von billigeren Materialien, Methoden und Entwürfen. Stellen wir uns hypothetisch vor, dass wir alle erforderten Materialien für die Produktion eines Automobils betrachten, um die Effizienz, Beständigkeit und Qualität in der strategisch optimalen Weise zu maximieren. Das sollte auf den Materialien selbst basieren – nicht auf den Kosten dieser Materialien.300 Der Lebenszyklus eines Automobils würde dann ausschließlich durch den natürlichen Verschleiß bestimmt. Es wäre gezielt so konstruiert, dass Teile ausgetauscht werden können, wenn sie veraltet oder durch natürlichen Gebrauch beschädigt sind. Das Ergebnis wäre eine Produktion mit dem Ziel der Langlebigkeit, also eine Reduzierung von Verschwendung und demnach eine erhöhte Nutzeneffektivität. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass viele Menschen auf der Welt denken, dies laufe heutzutage tatsächlich bei den Entwürfen und der Produktion von Gütern so ab - das das entspricht aber schlichtweg nicht der Realität. Es ist in einer Marktwirtschaft mathematisch unmöglich für jedes konkurrierende Unternehmen, die strategischtechnisch beste Ware zu produzieren, da der „Kosteneffizienz“-Mechanismus eine suboptimale Produktion garantiert. Die zweite Form (b) der Obsoleszenz ist als „geplante Obsoleszenz“ bekannt. Diese Produktionstechnik stellt den zyklischen Konsum sicher, der im frühen 20. Jahrhundert Gegenstand des Interesses wurde, als die industrielle Entwicklung die Effizienz in einer immer schnelleren Rate erhöhte, wodurch bessere Waren schneller produziert werden konnten. Tatsächlich gab es nicht nur die Notwendigkeit für mehr Käufe der allgemeinen Bevölkerung.301 Ebenso sank der Konsum durch die erhöhte Lebensdauer und generell die Effizienz der Waren (für das Marktsystem) gefährlich niedrig . Das Phänomen des „mehr mit weniger“ setzte sich schnell durch. Anstatt die Lebensspanne einer Ware durch seine natürliche Beständigkeit zu bestimmen mit der logischen natürlichen Absicht, sie aufgrund der beschränkten Ressourcen auf einem begrenzten Planeten so lange wie möglich existieren zu lassen, um sowohl materielle als auch menschliche Energie zu sparen, erschufen Unternehmen eigene „Lebensspannen“ für Waren und reduzierten bewusst die Effizienz zur Sicherung erneuter Einkäufe.302 300

Die Idee des „strategisch Optimierten“ wird in Teil III angesprochen. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass die Gleichung, die entscheidet, was bei der Konstruktion von irgendetwas benutzt wird, nicht nur nach den „besten“ Materialien sucht. Es geht auch um die relative Nützlichkeit ähnlicher Materialien (mit ähnlichen Eigenschaften). Die besten, effizientesten Materialien werden daher ebenso anhand von Faktoren wie z.B. dem Ressourcenvorrat bestimmt. 301 Charles Kettering, der Geschäftsführer von General Motors, schrieb 1929 von der Notwendigkeit „den Konsumenten unzufrieden zu halten" (1929) [http://www.wwnorton.com/college/history/archive/resources/documents/ch2702.htm]. Wall Street Banker Paul Mazur schrieb: „Wir müssen Amerika weg von einer Bedürfnis-Kultur und hin zu einer Verlangen-Kultur bringen. Die Menschen müssen trainiert werden, zu verlangen. Neue Dinge zu wollen, bevor die alten vollständig aufgebraucht sind. Wir müssen in Amerika eine neue Mentalität erschaffen.“ [Harvard Business Review, 1927] 302 1932 hat der Industrielle Bernard London ein bekanntes Pamphlet mit dem Titel „Ending the Depression through Planned Obsolescence“(„Beendigung der Depression durch geplante Obsoleszenz“) befürwortet, welches die Notwendigkeit für dieses Modell aufzeigte.

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In den 1930er Jahren wollten einige sogar als gesetzlich verpflichtend für alle Industrien durchsetzen, dass die Lebenszyklen nicht durch den natürlichen Stand der technologischen Fähigkeiten bestimmt würden, sondern lediglich durch die ständige Notwendigkeit für mehr Arbeit und erhöhte Konsumraten. Das bemerkenswerteste historische Beispiel dieser Zeit ist das Phoebus Glühlampenkartell der 1930er. In einer Zeit, in der Glühlampen bis zu 25000 Stunden halten konnten, zwang das Kartell jedes Unternehmen zu einer Einschränkung der Lebensdauer einer Glühlampe auf 1000 Stunden, um Neukäufe sicherzustellen.303 Aufgrund des Marktmodells des zyklischen Konsums plant heute jeder große Warenhersteller, die Lebenszyklen seiner Produkte gering zu halten. Das Resultat ist nicht nur eine verwerfliche Verschwendung begrenzter Ressourcen, sondern auch eine ständige Verschwendung von menschlicher Arbeit und Energie. Außerhalb dieser Dynamiken der Marktwirtschaft ist es extrem schwer, gegen eine optimale Herstellung von Gütern zu argumentieren. Traurigerweise verbietet die Natur der Markteffizienz derartige technische Effizienz von vornherein. Eigentum vs. Zugang Die Tradition von persönlichem Eigentum wurde zum Hauptbestandteil der modernen Kultur, mit langfristig wenig finanziellen Anreizen, ein System des Teilens oder des Zugangs zu nutzen. Auch wenn es heutzutage einige Beispiele des gemeinschaftlichen Teilens von Gütern gibt,304 so macht das generelle Ethos des „Eigentums“ und die innewohnenden Werte/Investitions-Eigenschaften von Eigentum diese Ansätze auf lange Sicht teurer für den Nutzer als den direkten Kauf. Vom Standpunkt der Markteffizienz ist das etwas Gutes, denn umso mehr direkte Käufe von Gütern getätigt werden, umso besser. Wenn 100 Menschen mit dem Auto fahren möchten, ist es generell für den Markt effektiver, wenn jeder dieser 100 Menschen sein eigenes Auto kauft, als wenn diese 100 Menschen 20 Autos in einem System des strategisch entworfenen Zugangs teilen würden, wodurch die Beschränkung auf die tatsächliche Nutzzeit möglich wird. Die Analyse des tatsächlichen Nutzens der tatsächlichen durchschnittlichen Nutzung zeigt, dass viele Produkte nur zeitweise genutzt werden. Auf Transportmittel, Freizeitausrüstung, Projektausrüstung und verschiedene weitere Arten von Waren wird normalerweise nur in relativ großen zeitlichen Abständen zurückgegriffen. Dadurch wird Eigentum nicht nur zu einer Unbequemlichkeit, da man diese Gegenstände lagern muss, sondern es ist auch eindeutig ineffizient im Kontext der wahren wirtschaftlichen Integrität, die zu jedem Zeitpunkt eine Reduzierung von Verschwendung zum Ziel hat. Jedes Jahr wird eine unzählige Menge an Büchern nahezu gratis von Büchereien rund um den Globus ausgeliehen und zurückgegeben. Dadurch wird mit der Zeit nicht nur eine enorme Menge an Materialien gespart, sondern auch einkommensschwachen Menschen der Zugang zu Wissen ermöglicht. Jedoch ist diese Praktik eine seltene Ausnahme innerhalb der durch die Markteffizienz

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Mehr hierzu: http://economicstudents.com/2012/09/planned-obsolescence-the-light-bulb-conspiracy/ Ein einfaches Beispiel: In Europa verbreitete sich das Bike-Sharing. [http://www.treehugger.com/cars/bike-sharing-now-in-100-european-cities.html] 304

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getriebenen Welt, da es von großem Nachteil für den Markt ist, wenn etwas zur Verfügung steht, ohne dass jeder Mensch es individuell kaufen muss.305 Lasst uns jedoch jetzt diese Idee des Teilens von Wissen hypothetisch auf das Teilen (die Ermöglichung von Zugang) von materiellen Gütern ausweiten. Vom Standpunkt der Markteffizienz wäre das extrem hinderlich. Auch wenn Profite im kapitalistischen Modell durch den Verleih von Gegenständen an Personen bei Bedarf möglich wären, stünden diese jedoch in keinerlei Verhältnis zu den Profit/Konsum-Raten einer Gesellschaft, die auf getrenntes, persönliches Eigentum einer jeden Ware setzt. Andererseits würde dies allerdings eine enorme technische Effizienz ermöglichen. Es würden weniger Ressourcen (und weniger Arbeitskraft) benötigt, da weniger von jeder einzelnen Ware produziert werden müsste, um die Nutzzeit der Bürger zu decken. Zudem wären Güter auch für einkommensschwache Menschen verfügbar, die lediglich den Mietpreis statt dem Kaufpreis (angenommen wir befinden uns immer noch in einem Marktsystem) aufbringen müssten. So gesehen gibt es zwei Ebenen der technischen Effizienz: eine Ökologische und eine Soziale. Vom Standpunkt der Umwelt aus gäbe es eine enorme Reduzierung der Ressourcenbenutzung; vom sozialen Standpunkt aus (bei gleichen Voraussetzungen) einen möglichen Anstieg des Zugang zu Gütern. Somit wäre vom Standpunkt der technischen Effizienz - auf Kosten der Markteffizienz - wäre eine Gesellschaft des geteilten Zugangs, anstatt einer des zeitlich unbegrenzten Eigentums, außerordentlich nachhaltiger und vorteilhafter. Natürlich würde so eine Praxis einige tief verwurzelte Werte-Identifikationen in der heutigen „Eigentums“-Kultur in Frage stellen.306 Wettbewerb vs. Kooperation Die Frage, ob die Gesellschaft eine wettbewerbsbetonte oder zusammenarbeitende Kultur verfolgen soll, war eine andauernde Debatte über Jahrhunderte. Dabei werden Annahmen über die menschliche Natur häufig als Verteidigung für eine wettbewerbsbasierte Kultur vorgebracht.307 Heute wird von Ökonomen der Wettbewerb oft als ein nötiger Anreiz für stetige Innovationen diskutiert.308 Damit geht die generell implizierte Annahme einher, dass es nicht genug für alle auf diesem Planeten gibt, sodass jeder zu einem gewissen Grad um sein Überleben kämpfen muss - und dass es „unvermeidbar“ Verlierer geben muss.309 Die genannten

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Nebenbei bemerkt ist der einzige Grund, warum die Bibliothek als eine Ausnahme so lange standgehalten hat, dass man es vor langer Zeit als Notwendigkeit sah, Wissen zu teilen, um die Menschheitsentwicklung voranzutreiben. Die Tradition von für jeden zugänglichen Bibliotheken geht Tausende von Jahren zurück. 306 In seinem Werk „Das Zeitalter des Zugangs“ stellt Jeremy Rifkin ähnliche Fragen. Er schrieb: „Was passiert mit persönlichem Stolz, Verpflichtung und Engagement, die mit Eigentum verbunden sind, in einer Gesellschaft in der alles verfügbar ist? Und was passiert mit Selbstversorgung? Besitz zu haben, geht Hand in Hand mit der Unabhängigkeit. Eigentum ist das Mittel, durch das wir das Gefühl der persönlichen Autonomie in der Welt erleben. Wenn wir auf die Existenzgrundlage zugreifen, werden wir viel mehr von anderen abhängig. Wenn wir verbundener und mehr voneinander abhängig werden, riskieren wir so zur gleichen Zeit weniger selbstversorgend und verwundbarer zu sein?“ (P. Tarcher/Putnam, 2000, p.130) 307 Literaturempfehlung: The Influence of Social Hierarchy on Primate Health, Robert M. Sapolsky, Science 29 April 2005: Vol. 308 no. 5722 pp. 648-652 DOI: 10.1126/science.1106477 [http://www.sciencemag.org/content/308/5722/648.abstract] 308 Literaturempfehlung zu traditionellen Verteidigungen von Wettbewerb als Quelle für Innovation: Competition and Innovation: An Inverted U Relationship [http://www.nber.org/papers/w9269] 309 Siehe vorheriges Kapitel „Wirtschaftsgeschichte“ und die Abhandlung von Thomas Malthus, der die Welt als unfähig ansah, für die Bevölkerung zu sorgen. Diese Vorstellung war sehr einflussreich.

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Annahmen werden nun im Kontext der Markt- vs. technische Effizienz bezüglich der Vorteile und/oder Konsequenzen von Wettbewerb untersucht. Zwei Kernfragen gilt es hier zu betrachten: Die erste ist (a) wie Wettbewerb die industrielle Produktion selbst beeinflusst; die zweite ist (b) wie er sich tatsächlich auf Innovation oder kreative Entwicklung auswirkt. (a) Wenn wir den Entwurf der industriellen Produktion heutzutage betrachten, sehen wir ein komplexes weltweites System der Interaktion und Rohstoffe, Komponenten und Waren, die zu verschiedenen Produktions- und Vertriebszwecken ständig von einem Ort zum anderen bewegt werden. In ihrem Streben nach Profit und Kosteneffizienz suchen Unternehmen zu jeder Zeit nach günstiger Arbeit, Ausrüstung und Produktionsstätten, um im Markt wettbewerbsfähig bleiben zu können. Dies kann die Form von lokaler Immigrantenarbeit zu minimalem Lohn , „sweatshop“ Produktionsstätten im Ausland oder einer relativ billigen Weiterverarbeitungsfabrik landesweit etc. annehmen. Unter dem Strich zählt aus Sicht der Markteffizienz nur das Kosten-zu-Profit Verhältnis, selbst wenn die tatsächliche weltweite Verarbeitung unverhältnismäßig viel Treibstoff, Transportressourcen, Arbeitskraft und Ähnliches verschwendet.310 Die „Effizienz der Nähe“, also die sich aus der Distanz zwischen industrieller Produktion und Vertrieb ergebende Effizienz, wird nicht berücksichtigt. Durch die Globalisierung wird heute ein enormes Maß an verschwenderischer Ressourcenbewegung betrieben. Dies geschieht nahe gänzlich aus dem Interesse heraus, Geld zu sparen und nicht aus Gründen optimierter technischer Effizienz. Das Ignorieren der Wichtigkeit der „Effizienz der Nähe“ in industriellen Handlungen, ob nun inländisch oder international, ist die Ursache von einigen sehr verschwenderischen Realitäten. Heute, speziell im Technologie-Zeitalter, geschieht die industrielle Produktion nahezu vollständig international. Das Ausmaß, indem dies wirklich nötig ist, ist von einer technischen Perspektive aus bestenfalls gering. Aufgrund der Eignung bestimmter Regionen, dort bestimmte Arten von Gütern zu produzieren oder vielleicht um eine günstigere Umgebung für weitere solcher Kultivierungen zu schaffen, war die landwirtschaftliche Produktion in der Vergangenheit stets regional. Diese Aspekte spielen im Verhältnis zum Großteil der industriellen Güterproduktion eine eher untergeordnete Rolle. Dabei bleiben außerdem verschiedene technologische Möglichkeiten der heutigen Zeit unberücksichtigt, durch die solche regionalen Beschränkungen überwunden werden könnten.311 Die „Regionalisierung“, also die bewusste Reduzierung von Distanz zwischen allen Facetten der Produktion und der Verteilung, ist die technisch effizienteste Methode 310

Der kanadische Ökonom Jeff Rubin machte diese Beobachtung bei der Entwicklung der Ölkosten: „Wir werden sehen, dass es nicht viel Sinn macht, Dinge auf der anderen Seite der Welt zu produzieren, egal wie günstig die Arbeitskosten dort sind, wenn die Transportkosten derartig hoch sind.“ [http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=104466911] 311 Das wird hier nebenbei erwähnt, um die riesigen modernen Durchbrüche bei Landwirtschaftsmethoden aufzuzeigen, die nicht auf traditionellem Ackerland basieren. „Vertikale Landwirtschaft“ ist ein Beispiel mit enormem Potenzial auf globaler Ebene, mit dem die häufigen regionalen Einschränkungen der Landwirtschaft aufgehoben werden. Literaturempfehlung: The Vertical Farm: Feeding the World in the 21st Century, Dickson Despommier, Thomas Dunne Books, 2010

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für die Funktionalität einer Gemeinschaft. Unter offensichtliche Ausnahmen fällt z.B. der Bergbau für die Gewinnung von Rohstoffen. Solche Vorgänge müssen natürlich am Ursprungsstandort stattfinden. Es ist leicht zu sehen, dass, speziell in Bezug auf die heute ungenutzten modernen technischen Anwendungen, der Großteil der lebenserhaltenden Güter in der Nähe ihres Verwendungsorts produziert werden könnten. Wie in Teil III detaillierter beschrieben wird, gibt es einen technisch effizienten Gedankengang bezüglich der Nutzung der Nähe, wenn es um Gewinnung, Produktion, Verteilung und das Recycling/Abfalllagerung geht. Das Ergebnis wäre ein enormes Maß an Schonung der Ressourcen und der menschlichen Energie Schonung einer Kapazität, die sogar, wenn nötig, neu zugeteilt werden könnte, um Projekte voranzubringen, anstatt sie durch das heutige Marktmodell als Abfall zu verschwenden.312 Als letzter Punkt zum Thema, wie Wettbewerb die technische Effizienz der industriellen Produktion behindert und Abfall vermehrt, ist die Tatsache der „Warenvielfalt“ ein weiteres Problem. Die Produktion von konkurrierenden Unternehmen orientiert sich typischerweise an Statistiken der Vergangenheit bezüglich ihrer „Marktanteile“ und wie viele Güter sie im Durchschnitt verkaufen konnten. Trotzdem ist die Tatsache, dass in jeder Region viele Unternehmen innerhalb des gleichen Bereiches der Güterproduktion nahezu identische Produkte mit allenfalls leichten Variationen produzieren nur eine weitere Quelle unnötiger Verschwendung Wie auch im nächsten Abschnitt weiter ausgeführt wird, zeigt das Beispiel verschiedener Mobiltelefon-Unternehmen (die um Marktanteile kämpfen), wie ein komplexes Netz der Ineffizienz entsteht. Dies geschieht einfach aus der Tatsache heraus, dass sie lediglich kleinste Änderungen am Design vornehmen, was durch unterschiedliche Strategien der Kosteneffizienz ebenfalls relative Ineffizienzen mit sich bringt. Hinzu kommt, dass jedes Unternehmen eigene interne Standards verwendet und keinen Wert auf die Kompatibilität verschiedener Systeme legt, da dies weniger profitabel für sie ist.313 Vom Standpunkt der technischen Effizienz aus gesehen, wäre ein kollektives Mobiltelefon-Unternehmen zur Schaffung des strategisch besten, anpassungsfähigsten, universell kompatibelsten Designs, deutlich effizienter. Dies gilt nicht nur in Bezug auf Umweltschutz; es würde ebenso ein enormes Maß an Erleichterung und Nutzungseffizienz erzeugen, da das Problem der firmeneigenen Ersatzteile und Kompatibilitätsprobleme drastisch reduziert werden würde. Es wird jedoch oft argumentiert, dass der Wettbewerb und die Produktvarianten, die sich durch die Suche nach Marktanteilen durch konkurrierende Unternehmen ergeben, dazu dienen, der Öffentlichkeit neue Ideen zu präsentieren. Aber solche 312

Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Umwandlung der Ineffizienz oder der verschwendeten Ressourcen und Energien innerhalb der Marktwirtschaft in tatsächliche Produktivität im Kern der Fähigkeit der Gesellschaft liegen, nicht nur die knappheitsgetriebene Umgebung der heutigen Zeit zu überwinden, sondern diese auch mit einem Überfluss zu übertreffen. 313 Am ehesten versucht heute das ISO Standard System, die Probleme und den Abfall, die durch firmeneigene Komponenten - also Komponenten, die nur vom Hersteller kommen können - entstehen, zu überwinden. Dieses System trägt in der Realität jedoch nichts zum Überwinden des eigentlichen Problems bei und ist zum größten Teil für grundlegende Qualitätsstandards zuständig, nicht für die universelle Anpassungsfähigkeit von Komponenten quer durch die globale Industrie hindurch. [Referenz: http://www.iso.org/iso/home.html]

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Ziele könnten auch mit einem System der direkten Resonanz durch die Öffentlichkeit über die Dinge, die benötigt werden, erreicht werden; zusammen mit einer Bewusstseinskampagne, was angesichts der empirischen Entwicklung des technologischen Fortschritts gegenwärtig möglich ist. (b) Das zweite Problem hat, wie bereits erwähnt, mit der Auswirkung von Wettbewerb auf Innovationen oder kreative Entwicklung selbst zu tun. Auch wenn heute die Annahme weit verbreitet ist, dass höhere Belohnungen für das eigene Schaffen andere Menschen dazu motivieren würde, diese Belohnungen ebenfalls anzustreben (was übrigens auch eine häufige Rechtfertigung für die Existenz von „Klassen“ ist), so zeigen sich in modernen soziologischen Studien eine Menge an Daten, die dem widersprechen.314 Außerhalb der intuitiven Sichtweise, die aufgrund der existierenden, höchst wettbewerbsbetonten, knappheitsgetriebenen Marktbedingungen existiert, gibt es keine glaubwürdige Rechtfertigungen für die Idee, dass Menschen inhärent davon motiviert werden, andere (beispielsweise durch den Erhalt einer höheren materiellen/finanziellen Vergütung) zu „besiegen“. Jedoch können wir diese soziologische Debatte vernachlässigen, da es hier um den direkten Zusammenhang zwischen Wettbewerb und der Markt- sowie technischen Effizienz geht. Kurz gesagt verlangt ein wettbewerbsbasiertes System bei neuen Geschäftsideen nach Geheimhaltung, oft generell gegen den offenen Fluss von Wissen. Der Gebrauch von Patenten und Unternehmensrechten oder „Betriebsgeheimnissen“ der eigenen Firma trägt nicht zu einer Förderung von Innovation bei, wie es viele Befürworter des wettbewerbsorientierten Markts annehmen, sondern zu einer Verkümmerung dieser. Es ist interessant darüber nachzudenken, was Wissen bedeutet, wie es entsteht und wie seltsam es für irgendjemanden mit rationalem Verstand ist, „Eigentum“ an einer Idee oder Erfindung zu beanspruchen. Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte hat ein einzelnes Individuum eine Idee hervorgebracht, die nicht als Resultat vieler vorheriger, aufeinander aufbauenden Ideen zu Stande kam. Die historische Anhäufung von Wissen ist ein gesellschaftlicher Prozess und demnach ist jeder Anspruch auf Besitz von einer Idee durch eine Person oder ein Unternehmen in sich falsch. Der geläufige semi-wirtschaftliche Begriff ist heute „Nutzungsrecht“, das heißt: „Das legale Recht, die Früchte oder Profit eines anderen zu nutzen und zu genießen“.315 In der Realität aber haben alle Eigenschaften einer jeden Idee in der Vergangenheit und in der Zukunft ohne Ausnahme einen explizit gesellschaftlichen nicht persönlichen - Ursprung. Es ist offensichtlich, dass die Idee des geistigen Eigentums (der Anspruch auf Eigentum von Gedanken und Ideen) sich in einer Zeit der menschlichen Geschichte entwickelt hat, in der die Kreativität des Einzelnen in Verbindung zu seinem Überleben stand. In einem Wirtschaftssystem, in dem die Ideen von Menschen Einkommen für sie persönlich generieren können, wird die Idee eines solchen Eigentums relevant. Wenn man in dem heutigen System etwas „erfindet“, was Verkäufe ermöglichen würde und demnach dem eigenen persönlichem wirtschaftlichem Überleben dienen würde, so wäre es extrem ineffizient (aus Sicht der Marktwirtschaft) diese Idee „open-source“ zu machen, da andere Menschen, die 314

Literaturempfehlung: No Contest: The Case Against Competition, Alfie Kohn, Boston, Boston: Houghton Mifflin, 1986 315 Nutzungsrecht definiert: http://de.wikipedia.org/wiki/Nutzungsrecht

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ebenfalls überleben wollen, wahrscheinlich diese Erfindung verwenden würden, um sie finanziell auszunutzen. Es ist auch einfach zu sehen, wie das Phänomen des „Egos“ sich um diese Idee des geistigen Eigentums manifestiert hat, da die Grundlage der Entlohnung in einem solchen System immer auch eine direkte psychologische Verbindung zu dem eigenen Selbstwertgefühl hat. Wenn eine Person etwas „erfindet“, geistiges Eigentum beansprucht, für Profit ausnutzt und dann ein großes Haus sowie beträchtliches Eigentum anhäuft; so wird ihr „Status“ als Mensch traditionell erhöht (zumindest nach den Standards der Kultur) - er/sie ist „erfolgreich“. Wenn wir jedoch darüber nachdenken, hat das Teilen von Wissen - außerhalb der wirtschaftlichen Annahmen des Eigentums für Profit - keine negativen Folgen. Am Ende des Tages gibt es nichts zu verlieren, aber gesellschaftlich durch das Teilen von Informationen extrem viel zu gewinnen. Um auf das vorherige Beispiel der konkurrierenden Mobiltelefon-Unternehmen zurückzukommen, steht das interne Teilen von Ideen bei diesen Unternehmen an erster Stelle. Dies sehen wir an den internen Treffen in Vorstands-Etagen, wo sich oft die Marketing-Fachmänner, Designer und Ingenieure darüber absprechen, wie sie ihr Produkt generell verbessern können. Bei Ausweitung dieser Treffen auf alle konkurrierenden Mobiltelefon-Unternehmen würden nicht nur deren künstliche, nutzlose Marketing-Strategien (wie beispielsweise ästhetische Mätzchen) und Markt-Kämpfe untereinander aufhören, sie könnten sich gemeinsam auf die Produktion des Bestmöglichen konzentrieren. Viel weiter gedacht: Was wäre, wenn alle Entwürfe „öffentlich zugänglich“ wären, so dass jeder Interessierte helfen könnte, diese Entwürfe zu verbessern? Durch Veröffentlichung des Schemas eines Mobiltelefon-Designs könnten alle kompetenten Menschen mittels dieser technischen Interaktion die technische Effizienz und die Nützlichkeit des Designs optimal verbessern. Obwohl dies ein abstraktes, hypothetisches Beispiel ist, ist es offensichtlich, dass durch solch eine offene Herangehensweise an das Teilen von Informationen eine nie da gewesene Explosion an Kreativität und Produktivität ausgelöst werden könnte. Wie in Teil III diskutiert wird, ist hierfür die Aufhebung des monetären Markt-Systems essentiell. Arbeit für Einkommen Im Kern des Marktsystems ist der Verkauf der Arbeitskraft eines Individuums als Ware. In vielerlei Hinsicht ist die Fähigkeit die Bevölkerung zu beschäftigen zu einem Maß für dessen Integrität geworden. Jedoch ist das Aufkommen der „Mechanisierung“ (oder die Automatisierung von menschlicher Arbeit) mit der Zeit ein immer größeres Hindernis geworden.316 In der Vergangenheit wurde die Anwendung 316

Ein kurzer Blick auf die Sektoren der US-Arbeitsstatistiken der Vergangenheit zeigt dieses Muster der Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinenautomatisierung deutlich. In der Landwirtschaft wird nun nahezu die gesamte traditionelle Arbeitsleistung von Maschinen erbracht.1949 haben Maschinen 6% der Baumwolle im Süden gepflückt. 1972 wurde das Pflücken zu 100% von Maschinen übernommen. [Quelle: The Cotton Harvester in Retrospect: Labor Displacement or Replacement?, Willis Peterson, St Paul, 1991, pp 1-2] 1860 arbeitete 60% von Amerika (arbeiteten 60% der Amerikaner) in der Landwirtschaft, heute sind es wenier als 3%. [Quelle: Why job growth is Stalled, Fortune, 3/8/93 p.52] 1950 arbeiteten 33% der US-Arbeiter in der Produktion, 2002 waren es nur noch 10%. [Quelle: http://www.usatoday.com/money/economy/2002-12-12-manufacturex.htm] Die US Stahl-Industrie erhöhte von 1982 bis 2002 die Produktion von 75 millionen Tonnen auf 120 millionen Tonnen, während die Anzahl der Stahlarbeiter von 289000 auf 74000 fiel. [Quelle: Will ‘Made in the USA’ fade away?, Nelson D. Schwartz, Fortune Nov 24th 2003, p. 102] 2003 hat Alliance Capital eine Studie der 20 gegenwärtig

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von Maschinen auf menschliche Arbeitsvorgänge nicht nur als eine Frage des gesellschaftlichen, sondern auch des „wirtschaftlichen“ Fortschritts (im Sinne des Marktes) gesehen, hauptsächlich auf Grund der höheren Produktivität. Die grundlegende Annahme ist, dass Mechanisierung (oder generell technologische Innovation) industrielle Expansion und demnach eine unausweichliche Neuverteilung von durch Maschinen ersetzter Arbeit in neu aufkommende Sektoren ermöglicht. Das ist eine häufige Verteidigung.317 In der Vergangenheit schien dies nicht ganz falsch zu sein, da die Reduzierung der menschlichen Arbeitskräfte in einem Sektor wie der Landwirtschaft im Westen zum Teil durch das Aufkommen anderer Arbeitssektoren wie dem modernen Dienstleistungssektor ausgeglichen wurde. Jedoch ist die Annahme, dass technologische Innovationen neue Formen der Beschäftigung in gleichem Maße erzeugen, wie sie sie ersetzen und somit ein Gleichgewicht erzeugen, eine sehr schwer zu verteidigende Position, wenn man die Veränderungsrate von Innovationen in Verbindung mit dem Interesse an Kosteneinsparung von Unternehmen in Betracht zieht.318

Was letzteres betrifft, dient die Mechanisierung aus Sicht der Markteffizienz fast ausschließlich dem Zweck, „Kosteneffizienz“ zu ermöglichen. Die Robotertechnik hat heute die physische Leistungsfähigkeit des durchschnittlichen Menschens schon lange überschritten. Hinzu kommen die schnell fortschreitenden Rechenprozesse, die menschliche Möglichkeiten ebenso in den Schatten stellen. Als Ergebnis ist es der Industrie möglich, Maschinen zu verwenden, die beständig höhere Produktionsleistungen als menschliche Arbeit erbringen können. Der finanzielle Anreiz der in vielerlei Hinsicht reduzierten Haftung für Unternehmen fällt zusätzlich ins Gewicht. Auch wenn Maschinen Wartung benötigten, benötigen sie keine Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Urlaub, Gewerkschaftsschutz und viele weitere Besonderheiten, die für menschliche Arbeitskraft heute üblich sind. Demnach ist es in der engen Logik des Gewinnstrebens nur natürlich für Unternehmen, ständig nach Mechanisierungsmöglichkeiten zu suchen, da sich auf lange Sicht Kostenvorteile und somit Markteffizienz ergeben. Bezüglich der Annahme, dass sich immer ein Gleichgewicht zwischen neuen und (auf Grund der technologischen Innovation) verdrängten Arbeitsformen finden wird, besteht das Problem, dass die technologische Entwicklung viel schneller größten Wirtschaftsmächte innerhalb des Zeitraums von 1995 bis 2002 durchgeführt und herausgefunden, dass 31 Millionen Arbeitsplätze in der Produktion verlogen gingen, während der Produktionsoutput tatsächlich um 30% anstieg. [Quelle: US Weekly Economic Update: Manufacturing Payrolls Declining Globally: The Untold Story, Alliance Bernstein Oct 2003] Dieses Muster der erhöhten Produktion und Profite in Verbindung mit fallender Beschäftigung ist ein neues und mächtiges Phänomen. 317 Siehe den Abschnitt über den Wirtschaftstheoretiker David Ricardo im Kapitel „Wirtschaftsgeschichte“ 318 Der Ökonom Stephen Roach warnte 1994, dass „der Dienstleistungssektor seine Rolle als Amerikas unbändige Arbeitsplatzerschaffungs-Maschine verloren hat.“ [Quelle: Interview, 3/15/94, noted in book The End of Work by Jeremy Rifkin, Penguin p. 143] Es gibt u.A. folgende Beispiele: Von 1983-1993 haben Banken 37% der Menschen an Kassierschaltern entlassen und im Jahr 2009 nutzten 90% der Bankkunden Geldautomaten (ATMs) [Quelle: “Retooling Lives“, Vision, 2000 p. 43] Callcenter-Mitarbeiter wurden nahezu komplett durch computerisierte Anrufbeantworter ersetzt, Postangestellte werden durch Selbstbedienungsmaschinen ersetzt und Kassierer werden durch computergesteuerte Kiosks ersetzt. McDonalds redet beispielsweise seit vielen Jahren über die komplette Automatisierung ihrer Restaurants. Im Gespräch war die Einführung von Kiosks, um das Verkaufspersonal zu ersetzen, sowie automatisierte Kochwerkzeuge wie „Burgerwender“ für das Küchenpersonal [Quelle: http://www.techdirt.com/articles/20030801/1345236F.shtmls] Sie haben es jedoch nicht durchgeführt, wahrscheinlich weil sie sich um ihren Ruf sorgten, da sie wissen, wie viele Arbeitsplätze sie zerstören würden, wenn Automatisierung ungehindert angewandt würde.

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voranschreitet als die Entstehung neuer Arbeitsplätze.319 Dieses Problem ist einzigartig, da es ebenso annimmt, die menschliche Gesellschaft möchte zu jeder Zeit neue Arbeitsplätze. Hier sollten die subjektiven kulturellen Werte thematisiert werden. Unsere aktuellen soziologischen Umstände verlangen Arbeitsplätze, weil sie das Rückgrat der Nachhaltigkeit des Marktes (Markteffizienz) sind. Aus diesem Grund haben die „Arbeits“-Ethik und die damit verbundenen Identitäts-Assoziationen dazu geführt, dass die eigentliche Funktion der Arbeit - ihr eigentlicher Zweck weniger bedeutsam wird als der bloße Akt des Arbeitens an sich.320 So wie die Markteffizienz nicht in Betracht zieht, was gekauft und verkauft wird, solange der zyklische Konsum bei einer akzeptablen Rate gehalten wird, so nimmt die Arbeit in der Produktion heute die gleiche willkürliche Rolle in der Sichtweise des Marktes ein. Theoretisch können wir uns eine Welt vorstellen, in der die Menschen für „sinnlose“ Arbeiten bezahlt werden, die keinerlei echten gesellschaftlichen Beitrag - jedoch enormes BIP - erzeugen. Tatsächlich könnten wir uns auch heute Fragen, was die eigentliche gesellschaftliche Rolle vieler Institutionen ist. Vielleicht kämen wir zu dem Schluss, dass sie lediglich Geld in Umlauf halten, jedoch nichts erschaffen oder einen konkreten Beitrag für die Gesellschaft leisten. Dies sind komplexe philosophische Fragen, da sie die vorherrschende traditionelle Ethik und die Auffassung, was „Fortschritt“ eigentlich bedeutet, in vielerlei Hinsicht in Frage stellen. Es ist wichtig, das folgende Gedankenspiel durchzugehen: Stell' dir vor, unser Gesellschaftssystem würde in das 16. Jahrhundert zurückversetzt, in dem viele moderne technologische Errungenschaften (des 21. Jahrhunderts) gänzlich unbekannt waren. Die Bevölkerung damals hätte natürlich viel geringere Erwartungen an technische Möglichkeiten als die Bevölkerung heute. Wenn diese Gesellschaft über Nacht die massiven technischen Möglichkeiten der modernen Zeit einführen würde, könnte mit Sicherheit alles Überlebensnotwendige automatisiert werden. Die Frage ist dann, was sie mit ihrer neu erworbenen Freizeit machen? Was wird der kulturelle Fokus ihres Lebens, wenn die Schufterei zum nackten Überleben nicht mehr nötig wäre? Erfänden sie neue Jobs, einfach weil sie es könnten? Würden sie Höherem nachgehen? Würden Sie diese neue Freiheit erhalten und manifestieren, indem sie das Gesellschaftssystem selbst ändern, wodurch diese vorherige Notwendigkeit der „Arbeit für Einkommen" aufgehoben würde? Diese Fragen treffen den Kern dessen, was Fortschritt und persönliche/gesellschaftliche Ziele und Erfolg wirklich bedeuten. Dennoch ist „den Lebensunterhalt verdienen“ ein heute noch vorherrschender kultureller Wert. Zudem ist die Anwendung von Mechanisierung im Sinne der Markteffizienz tatsächlich ein zweischneidiges Schwert. Auch wenn die Kosteneffizienz durch die Mechanisierung generell zu höheren Profiten führt (durch die Kostenreduzierung für die Geschäftsführer), so wirkt die Verdrängung der menschlichen Arbeiter (heute als „technologische Arbeitslosigkeit“ bekannt) 319

Literaturempfehlung: The Law of Accelerating Returns, Ray Kurzweil [http://www.kurzweilai.net/the-law-ofaccelerating-returns] Auch wenn der Kontext dieses Artikels über exponentiell fortschreitenden technologische Möglichkeiten sich nicht direkt auf Mechanisierung bezieht, liegt es eindeutig auf der Hand, dass es hier relevant ist. Dies gilt speziell bezüglich dessen, was man „Computerisierung“ (engl. Cybernation) nennt, also die Kombination von Maschinen und Computern, wodurch „intelligente“ Maschinen geschaffen werden. 320 Die Verbindung zwischen einem „Arbeitsplatz“ und dem Selbstwertgefühl wurde immer stärker. Siehe: Joblessness And Hopelessness: The Link Between Unemployment And Suicide [http://www.huffingtonpost.com/2011/04/15/unemployment-and-suiciden849428.html]

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eigentlich gegen die Markteffizienz. Das liegt daran, dass die Arbeitslosen jetzt nicht mehr zu dem benötigten zyklischen Konsum beitragen können, der die Wirtschaft aufrecht hält, weil sie ihre Kaufkraft als „Konsumenten“ verloren haben. Dieser Widerspruch innerhalb des Kapitalismus ist ohnegleichen. Vom Standpunkt der Markteffizienz erzeugt die Mechanisierung sowohl ein positives als auch negatives Ergebnis. Wenn wir erkennen, dass durch die Geschwindigkeit technologischer Veränderungen Menschen wahrscheinlich schneller verdrängt werden als neue Arbeitssektoren erzeugt werden können, so wird die Mechanisierung als hemmender Faktor im Kapitalismus immer deutlicher. Insgesamt reduziert sie somit die Markteffizienz. Vom Standpunkt der technischen Effizienz aus sehen wir jedoch einmal mehr gewaltige Verbesserungen und immense Möglichkeiten auf vielen Ebenen. Die durch die Anwendung dieser Mittel ermöglichte Produktionskapazität führt zu einer gewaltigen Steigerung der Effizienz. Dies gilt nicht nur für die industrielle Produktion, sondern auch für die generell gesteigerte Effizienz der Güter selbst durch Steigerung der Präzision und Integrität der Produktion. Eine weitere Auswirkung dieser neuen Produktionseffizienz ist, dass die Deckung der Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung niemals greifbarer war als heute. Ohne die Beeinträchtigung dieser neuen technischen Möglichkeiten durch die Marktlogik, die deren volles Potenzial ständig hemmt, könnte offensichtlich der gesamten Bevölkerung ein relativer „Überfluss“ an lebensnotwendigen Gütern zur Verfügung gestellt werden.321 Knappheit vs. Reichhaltigkeit „Angebot und Nachfrage“ ist eine bekannte Marktbeziehung, die zum Teil ausdrückt, inwiefern der Wert eines Rohstoffs oder einer Ware proportional zu seiner Menge oder Verfügbarkeit ist. Beispielsweise sind Diamanten quantitativ seltener und demnach wertvoller als Wasser, welches generell reichhaltig auf dem Planeten vorhanden ist. Gleichermaßen greift diese Dynamik auch bei menschlichen Werken, wenn diese nur in geringer Anzahl hergestellt werden. Dies gilt auch bei kulturell subjektiver Wahrnehmung dieser Seltenheit wie bei dem einzelnen Gemälde eines berühmten Künstlers, dessen Verkaufswert um ein Vielfaches höher ist als sein Rohstoffwert.322 Vom Standpunkt der Markteffizienz ist Knappheit generell eine guter Zustand. Auch wenn extreme Knappheit tatsächlich für eine Industrie oder die gesamte Wirtschaft destabilisierend ist („Rohstoff-Engpässe“), so ist der optimale Zustand im Marktsystem eine Art ausgeglichener Knappheitsdruck zur Sicherung von verkaufserzeugender Nachfrage. Um es noch einmal zu betonen: Die Lebensnotwendigkeiten der Menschen werden in dieser Gleichung berücksichtigt. Die Deckung von menschlichen Bedürfnissen in Form von Nahrung, Häusern, wenig stressfreien Umständen für die geistige Gesundheit etc. sind vollkommen „extern“ 321

Dies ist keine utopische Idee, da einfache statistische Extrapolationen diese drastische Verbesserung der Effizienz und Produktionskapazität auf vielen Ebenen zeigen. Ein einfaches Beispiel, auch wenn dies nicht alle Variablen beinhaltet, ist das Ende der „Arbeitsstunden“ in der industriellen Fabrikproduktion. Der für menschliche Arbeit übliche 8-Stunden-Werktag könnte zu einer 24-Stunden-Arbeit durch maschinelle Automatisierung werden. Dieses grobe Beispiel zeigt, wie ein „Überfluss“ an grundlegenden lebensnotwendigen Gütern geschaffen werden kann. 322 Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ wurde 2012 für $119 Millionen verkauft. Wenn wir dies mit dem materiellen, physischen Wert des Werkes vergleichen, wurde es für ungefähr das 10.000 bis 15.000-fache des materiellen Werts verkauft. [http://www.huffingtonpost.co.uk/2012/05/03/edvard-munchs-the-screamn1473129.html?ref=uk-culture]

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und haben keinerlei direkte Beziehung zur Markteffizienz. Wie bereits erwähnt, wäre die direkte Deckung von menschlichen Bedürfnissen ineffizient im Sinne der Marktlogik, da dies den Knappheitsdruck reduzieren würde, der den zyklischen Konsum aufrecht hält. Anders ausgedrückt gibt es eine Notwendigkeit für ein Ungleichgewicht, um diesen Nachfragedruck zu erhalten. Dieses Ungleichgewicht kann viele Formen annehmen. Schulden sind beispielsweise eine Form der auferlegten Knappheit, die eine Person in eine Situation bringt, in der sie sich häufig der Arbeit unterwerfen muss, welche oft eher „ausbeuterische“ Züge annimmt. Damit ist gemeint, dass die Entlohnung (gewöhnlich das Gehalt) oft in keinem Verhältnis zu dem, was nötig ist, um einen gesunden Lebensstandard zu halten. In diesem Zusammenhang ermöglicht das Schuldsystem eine eigene Form der Markteffizienz, weil der Arbeitgeber aufgrund der erhöhten privaten Schuldenlast und des finanziellen Drucks die Löhne einfacher senken kann (Kosteneffizienz). Je höher Menschen verschuldet sind, desto eher werden sie sich Arbeit mit geringem Lohn unterwerfen und demnach den Unternehmenseigentümern mehr Profit bringen. Tatsächlich kann man die gleiche Logik auch auf die legale unregulierte Nutzung von „Sweatshop“-Arbeit in der dritten Welt anwenden, welche ständig von westlichen Unternehmen „ausgebeutet“ wird. Unmengen an Arbeitszeit für bekanntermaßen geringe Löhne sind an der Tagesordnung. Diese Menschen haben jedoch keine andere Wahl, als sich dem zu unterwerfen, da es keine Möglichkeiten in ihrer Region gibt, da es in ihrer Region keine anderen Möglichkeiten zum Überleben gibt - oft aufgrund von Schulden, die aus Sparprogrammen hervorgehen.323

Tatsächlich basiert die Regulierung der gesamten Geldmenge auf genereller Knappheit, da, wie zuvor erwähnt, heute sämtliches Geld aus Schulden entsteht. Dieses Schuld-Geld wird am Markt durch „Kredite“ als Ware verkauft, wobei zusätzlich Zinsen erhoben werden, um den Banken Profit zu ermöglichen. Jedoch wird dieser „Zinsprofit“, welcher selbst auch Geld ist, nicht in der Geldmenge selbst erzeugt. Wenn beispielsweise ein Individuum einen Kredit von 100 € aufnimmt und 5% Zinsen zahlt, so zahlt dieses Individuum 105 € zurück. Aber in einer Wirtschaft, in der das gesamte Geld durch Kredite erschaffen wird - was der Realität entspricht existiert nur die „Grundmenge“ (100 €) in der Geldmenge; das „Zinseinkommen“ (5 €) wird nicht erzeugt. Demnach gibt es immer mehr Schulden, als es Geld gibt, um diese zu bezahlen. Des Weiteren fällt diese generelle Schuldenlast tendenziell auf die unteren Klassen, da diese eher Kredite für ihr Haus/Auto/etc. aufnehmen müssen als die Wohlhabenden, die Geld im Überfluss besitzen. Dadurch wird das anhaftende unüberwindbare Problem der Schulden und damit der beschränkten Handlungsoptionen verstärkt. In diesem Modell ist beispielsweise der Bankrott nicht das Ergebnis einer schlechten Unternehmensentscheidung; er ist eine unabwendbare Konsequenz - wie in dem Spiel „Reise nach Jerusalem“324 Um auf den zentralen Punkt zurückzukommen: Die Realität der Knappheit in unserem aktuellen Wirtschaftssystem ist also die Quelle von enormer Effizienz im 323 324

Literaturempfehlung: http://www.huffingtonpost.com/john-perkins/economic-chaos-loans-greeb901949.html Literaturempfehlung: Web of Debt, Ellen Hodgson Brown, Third Millennium Press, 2008

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Sinne des Marktes. Wenn die Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt wären oder wenn sie diese ohne den äußeren Druck von unbezahlbaren Schulden, der das Ungleichgewicht sicherstellt, decken könnten, so würden zyklischer Konsum, Profit und Wachstum darunter leiden. So heimtückisch es für unsere Intuition und Menschlichkeit erscheinen mag, Menschen im Mangel zu halten, ist tatsächlich eine positive Grundbedingung für die Funktionsweise des Marktes. Das ist die Realität. Natürlich sieht man vom Standpunkt der technischen Effizienz aus, dass der Mensch eine bio-chemische Maschine mit universellen Bedürfnissen nach grundlegender Ernährung, Stabilität und weiteren psychologischen Notwendigkeiten ist. Wenn diese nicht gedeckt werden, kann dies zu physischen und psychischen Krankheiten führen. Daran erkennt man die Entkopplung der „Marktlogik“ von menschlichem/gesellschaftlichem Wohlergehen.325 Als letzter Punkt zu diesem Thema sei gesagt, dass der Markt zu jedem Zeitpunkt Probleme bedienen möchte. Tatsächlich könnte man sogar generell sagen, dass technische Ineffizienz der Antrieb für Markteffizienz ist. Problemlösungen werden nicht vom Markt angestrebt, da sie ein Einkommensloch erzeugen und demnach einen Verlust an finanziellem Gewinn und Geldbewegungen. Das Ergebnis ist, dass es zum Teil einen verdrehten Anreiz gibt, Probleme zu suchen oder diese sogar zu verstärken. Ein Jahrhundert zuvor wäre es eine seltsame Idee gewesen, Wasserflaschen zu verkaufen, da Wasser generell unverschmutzt und reichhaltig vorhanden war. In der heutigen Zeit ist es eine jährlich viele Millionen Euro schwere Industrie, die größtenteils aus der Wasserverschmutzung der verantwortungslosen Industriepraktiken hervorging.326 Die Profite und Arbeitsplätze, die im Zusammenhang mit der technisch ineffizienten Realität der Ressourcenverschmutzung und -zerstörung stehen, verbessern wiederum die notwendige wirtschaftliche Markteffizienz zur Aufrechterhaltung des Konsumzyklus. Zusammenfassung Markteffizienz hat generell eine „Makro“- und „Mikro“-Ebene. Auf der Makro-Ebene gilt alles, was Verkäufe, Wachstum oder Konsum erhöht als effizient - unabhängig davon, welcher Druck die Nachfrage erzeugt hat oder was überhaupt gekauft und verkauft wird. Auf der „Mikro“-Ebene werden profitsteigernde und kostenreduzierende Bedingungen („Kosteneffizienz“) auf der Unternehmensseite geschaffen. Diese „Effizienz“ des Kapitalismus funktioniert ohne jegliche Beachtung der Sozialoder Umweltkosten der Prozesse, um den zyklischen Konsum und Profit sicherzustellen. Die Welt um Dich herum ist das Ergebnis: Voll von ökologischen Störungen, menschlichem Elend und generellem sozialem Ungleichgewicht und Instabilität der Umwelt. Auf der anderen Seite kann die technische Effizienz als Hindernis für die Markteffizienz bezeichnet werden. Diese versucht, die Umgebung und die menschliche Gesundheit und in erster Linie ein Gleichgewicht in der natürlichen Welt zu erhalten. Die Reduzierung von Abfall, die Lösung von Problemen und die Erhaltung der Anpassung an Naturgesetze ist die selbstverständliche, dahinterstehende Logik.

325 326

Siehe vorheriges Kapitel: „Definieren der Volksgesundheit“ Literaturempfehlung: Water and Air Pollution [http://www.history.com/topics/water-and-air-pollution]

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Es ist bedenklich, dass heute zwei entgegengesetzte Wirtschaftssysteme gleichzeitig bestehen, die tatsächlich gegeneinander arbeiten. Das heutige Marktsystem befindet sich mit seiner altertümlichen, traditionellen Logik in keiner Weise im Einklang mit der natürlichen (technischen) Wirtschaft. Das Resultat sind gewaltige Konflikte und Ungleichgewichte mit sich ständig verändernden Problemen und Konsequenzen für die menschliche Spezies. Es ist klar, welches System diesen Kampf „gewinnen“ wird. Die Naturgesetze werden Bestand haben, egal wie viele Theorien wir zu dieser oder jener Rechtfertigung unserer traditionellen Organisationsform auf diesem Planeten aufstellen. Die Natur schert sich nicht um unsere gewaltigen finanziellen Wirtschaftsideen, deren „Wert“-Theorien, komplizierte Finanzmodelle oder detaillierte Gleichungen ergründen sollen, wie und warum sich menschliches Verhalten manifestiert. Die technische Realität ist einfach: Erkenne, pass dich an und richte dich nach den herrschenden Naturgesetzen oder ertrage die Konsequenzen. Es ist absurd zu denken, dass die menschliche Spezies, deren Evolution unter denselben Naturgesetzen stattfand, an welchen sich die Wirtschaftspraktiken (und Werte) orientieren müssen, mit solchen Gesetzen inkompatibel wäre. Dies ist heute lediglich eine Frage der Reife und des Bewusstseins. Als letzer Punkt sowie als allgemeine Randbemerkung sei erwähnt, dass es in Anbetracht der zunehmenden und anhaltenden ökologischen Probleme im 21. Jahrhundert den Trend einer „Grünen Wirtschaft“ gibt. Einige haben diese Wirtschaftsansicht sogar in Sektoren unterteilt, wie beispielsweise erneuerbare Energien, Öko-Gebäude, saubere Transportmittel und weitere Kategorien.327 Es fällt auf, dass dieses Bewusstsein und diese angestrebten Anwendungen generell in Einklang stehen mit der technischen oder wissenschaftlichen Bewusstseinsperspektive, die in diesem Kapitel diskutiert wurde. Traurigerweise verseucht das kapitalistische Wirtschaftsmodell durch seine Ineffizienz - aufgrund der zu seinem Bestehen notwendigen künstlichen Formen der „Effizienz“ - alle solche Versuche und beschränkt sie massiv, so positiv die Absichten dieser neuen Organisationen und Unternehmensgründer auch sein mögen. Das ist der Grund, warum solche Ansätze der technischen Effizienz bisher noch nicht wirklich umgesetzt wurden. Auch wenn einige Verbesserungen möglich sind, so werden solche Fortschritte doch stets grundlegend und zunehmend begrenzt sein. Das ist die traurige Realität, da die strukturelle Grundlage der Funktionsweise der kapitalistischen Marktwirtschaft grundsätzlich unvereinbar mit der Effizienz aus Sicht der Naturgesetze ist. Die einzige logische Lösung ist, die gesamte Struktur zu überdenken, wenn man echte Effizienz, erhöhten Wohlstand und Problemlösungen auf lange Sicht erreichen will.

327

„Grüne Wirtschaft“ Referenz: http://www.mnn.com/green-tech/research-innovations/blogs/how-do-you-definethe-green-economy

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Wertesystem-Störung „Ich denke das Gier und Wettbewerb nicht das Ergebnis des unveränderlichen menschlichen Charakters sind; Ich bin zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Gier und Angst vor Knappheit tatsächlich fortlaufend als direktes Resultat unseres Geldsystems erzeugt und verstärkt werden [...]. Die direkte Folge ist, dass wir gegeneinander kämpfen müssen, um zu überleben.“328 -Bernard Lietaer

Gedankengene In Anbetracht der relativ langsamen Veränderungsrate der biologischen Evolution des Menschen erfolgten innerhalb der letzten 4000 Jahre gewaltige gesellschaftliche Veränderungen aufgrund der Entwicklung von Wissen - also aufgrund einer „kulturellen Evolution“. Bei der Suche nach einem Mechanismus für kulturelle Evolution, ist das Konzept des „Memes“329 nützlich. Es wird definiert als „Eine von Person zu Person übertragene Idee, Verhaltensweise, Art oder Brauch innerhalb einer Kultur.“ Meme werden soziologisch oder kulturell analog zu Genen gesehen330. Das sind „funktionelle (biologische) Einheiten, die die Übertragung und den Ausdruck von einer oder mehreren Eigenschaften kontrollieren.“ So wie Gene im Grunde biologische Informationen durch Vererbung von Person zu Person übertragen, so übertragen Meme kulturelle Informationen (Ideen) durch alle Formen der menschlichen Kommunikation.331 Wenn wir am Beispiel des technologischen Fortschritts mit der Zeit erkennen, welchen enormen Einfluss diese auf unsere Lebensstile und Werte haben, können wir diese allgemein emergenten Phänomene als eine Evolution von Ideen betrachten. Dabei vervielfachen und mutieren diese, sodass sich die Kultur mit der Zeit ebenfalls verändert. Mit diesem Wissen können wir den geistigen Zustand eines Menschen mit seinen Neigungen zu Handlungen als eine Art Programm ansehen. Gene kodieren bestimmte Instruktionen, die in Kombination mit anderen Genen und der Umwelt darauf folgende Resultate hervorrufen. In gleicher Weise verarbeiten die intellektuellen Prozesse eines Menschen Meme und erschaffen zusammen neue Verhaltensweisen. Das Thema der „Willensfreiheit“ ist sicherlich eine komplizierte, noch auszutragende Diskussion. Aber wenn es um die Auslöser und die Manifestierung von Entscheidungen geht, so ist dennoch grundlegend klar, dass die Ideen der Menschen durch den Input (Bildung) beschränkt sind. Wenn einer Person wenig Wissen über die Welt zur Verfügung steht, so werden ihre Entscheidungsprozesse ebenso dadurch beschränkt.332

328

Bernard Litaer ist ein Ökonom, Autor und Professor und erwähnenswert aufgrund seiner Arbeit das EU Währungssystem zu entwerfen. Zitat des YES! Magazins, Interview mit Bernard Lietaer, „Beyond Greed and Scarcity“, Sarah van Gelder [http://www.transaction.net/press/interviews/lietaer0497.html] 329 Definition Mem http://de.wikipedia.org/wiki/Mem 330 Definition Gen http://de.wikipedia.org/wiki/Gen 331 Richard Dawkins Buch „Das egoistische Gen“ führte den Begriff „Mem“ ein. Dawkins zitiert als inspiration die Arbeit des Genetikers L.L. Cavalli-Sforza, den Anthropologen F.T. Cloak und den Ethologen J.M. Cullen. 332 Die gegensätzliche Beziehung zwischen Bildung/Wissen und Aberglauben ist deutlich. Laut des UNO Berichts für menschliche Entwicklung in arabischen Ländern hatten weniger als 2% der Araber Zugang zum Internet. Araber repräsentieren 5% der Weltbevölkerung, produzieren jedoch nur 1% der Bücher in der Welt, von denen die meisten religiöse Texte sind. In den Worten von Sam Harris: „Spanien übersetzt jährlich mehr Bücher ins Spanische als die gesamte arabische Welt seit dem 9. Jahrhundert ins Arabische übersetzt hat". Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das Wachstum des islamischen Glaubens in arabischen Ländern durch den relativen Mangel an Informationen von außen hervorgerufen wurde.

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Genauso wie Gene in schädlicher Art und Weise für ihren Träger mutieren können (wie Krebszellen333), so können Meme im Kontext der ideologischen/soziologischen Übertragungen für den Träger (oder die Gesellschaft) schädliche Geisteshaltungen erzeugen. An diesem Punkt wird der Begriff „Krankheit“ eingeführt. Eine Krankheit wird wie folgt definiert: „Eine Störung oder Abweichung der Funktion“.334 Demnach ist innerhalb der gesellschaftlichen Funktionsweise eine Krankheit ein institutionalisiertes, ideologisches Rahmenkonzept, welches nicht im Einklang mit dem größeren, vorherrschenden Systemen ist. In anderen Worten: sie sind unpassend in dem Kontext, in dem sie versuchen fort zu bestehen, wodurch oft Ungleichgewichte und schädliche Destabilisierungen hervorgerufen werden. Unsere Geschichte ist selbstverständlich voll von anfänglich destabilisierenden Übergangsideen. Das liegt an der andauernden intellektuellen Entwicklung, die natürlich und notwendig für den Menschen ist, da es so etwas wie „absolute“ Erkenntnisse nicht gibt. Der Unterschied liegt in der Schaffung von emotionalen Verbindungen auf der Persönlichkeitsebene („Identität“) sowie in der Schaffung von institutionellen Einrichtungen auf der kulturellen Ebene, sofern diese Ideen lange genug Bestand haben. Diese neigen dazu, einen Zirkelschluss zu verstärken, wodurch sie generell Veränderungen und Anpassungen widerstehen. Wenn wir eine optimale nachhaltige Anpassung der kulturellen Entwicklung wünschen und erwarten, so müssen wir die intellektuelle Entwicklung als einen Prozess ohne Ende ansehen und offen gegenüber neuen Informationen sein. Dies muss auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene ein zentraler Wert werden. Leider gibt es heutzutage mächtige kulturelle Kräfte, die gegen dieses Interesse arbeiten. Ideologische und innerhalb der aktuellen Gesellschaftsstruktur eingebettete335 Strukturen arbeiten aktiv gegen die Notwendigkeit der kulturellen Anpassung. Eine Analogie wäre der Nährstoffmangel unserer biologischen Zellen durch das Entfernen von Sauerstoff aus der Umgebung - nur dass wir uns in diesem Fall unserer Lern- und Anpassungsfähigkeit entziehen. Dabei ist Wissen der „Sauerstoff", durch den wir als Spezies Probleme lösen und Fortschritte machen. Die hier beschriebene „Krankheit“ ist bezeichnend für die kapitalistische Tradition des freien Marktes. Es sind nicht nur die einzelnen Entscheidungen (wissentlich oder unwissentlich) gegen Anpassungen, die diese schädlichen Auswirkungen auf vielen Ebenen fortführen. Es ist ebenso das Wertesystem, die Festsetzung einer „Identität“ sowie ein normalisierter Gewohnheitssinn, der eine starke problematische Kraft darstellt. Dies wird noch weiter verstärkt, wenn der Zweck (oder scheinbare Zweck) solcher Absichten direkt mit unserem Überleben oder unserer Existenz in Verbindung steht. Es gibt nichts Persönlicheres als unsere Identität. Das Wirtschaftssystem ist letztendlich ein definierendes Merkmal für unsere Mentalitäten und Weltansichten. Wenn etwas mit dem System nicht stimmt, impliziert das, dass etwas mit uns selbst nicht stimmt, da wir es weiterhin fortführen. Wertesystem-Störung 333

Krebs ist ein Begriff, der für eine Krankheit benutzt wird, bei der anormale Zellen sich ohne Kontrolle teilen und in der Lage sind anderes Gewebe zu infizieren. [http://de.wikipedia.org/wiki/Krebs_(Medizin)] 334 Krankheit definiert http://de.wikipedia.org/wiki/Krankheit 335 Um hier „eingebettet“ zu definieren: Dies bezieht sich auf die strukturellen Eigenschaft wie die Notwendigkeit zu „konkurrieren“, um in der Marktwirtschaft Erfolg zu haben. Es ist in die Rahmenbedingungen des Systems eingebaut - eingebettet.

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Genauso wie der Krebs zum Teil eine Immunsystem-Störung ist, so können lang anhaltende soziologische Traditionen mit immer stärker werdender Problemerzeugung eine Wertesystem-Störung genannt werden.336 Diese Krankheit hat etwas mit einer Art strukturierten Psychologie zu tun, die bestimmte Annahmen mit der Zeit plausibel erscheinen lässt. Und dies lediglich aufgrund der kulturellen Beständigkeit, gekoppelt mit einer innewohnenden Verstärkung ihrer selbst durch ihre Funktion. Umso größer der gesellschaftliche Kontext der Krankheit, umso schwieriger ist die Lösung - ganz zu schweigen von der bloßen Erkenntnis an sich. Auf der Ebene des Gesellschaftssystems wird diese Erkenntnis sehr schwer, weil die gesamte Gesellschaft dauerhaft auf die Dynamiken seines eigenen Rahmenwerks konditioniert wird, wodurch oft mächtige Selbsterhaltungsreaktionen erzeugt werden, sobald die Integrität des Gesellschaftssystems angezweifelt wird. Diese könnte man „geschlossene intellektuelle Rückkopplungs-Mechanismen" nennen, die den größten Teil der Argumente für die Verteidigung des aktuellen sozioökonomischen Systems ausmachen - genauso wie es Generationen vorher gemacht haben. Tatsächlich scheint das ein genereller soziologischer Trend zu sein, da die Identität der Menschen selbst mit den vorherrschenden Glaubenssystemen und Institutionen assoziiert wird, in die sie hineingeboren werden. In den Worten von John McMurtry, emirierter Professor der Philosophie an der Universität von Guelph in Kanada: „Im Mittelalter konnte man alle Recherchen dieser Ära durchsuchen von Denkern wie Augustinus bis [...] Ockham und wird keine einzige kritische Seite über das etablierte gesellschaftliche Rahmenwerk finden, trotz des rational nicht unterstützbaren Feudalzwangs, absoluter Bevormundung, göttlichem Recht der Könige und dem Rest. Ist die aktuelle Ordnung wirklich so anders? Sehen wir heute irgendwo in den Medien oder gar in Universitäten Veröffentlichungen einer klaren Demaskierung des globalen Regimes, welches ein Drittel aller Kinder zu Unterernährung zwingt, während wir mehr als genug Nahrung zur Verfügung haben...? In so einer Gesellschaftsordnung werden Gedanken untrennbar von Propaganda. Nur eine Doktrin ist aussprechbar und die Priesterkaste der Experten schreiben die Notwendigkeiten und Verpflichtungen aller vor [...] Gesellschaftsbewusstsein wird innerhalb einer zeremoniellen Logik gefangen gehalten, die komplett innerhalb des übergestülpten Rahmenwerks einer vollständig vorgeschriebenen regulativen Apparatur liegen, die die Privilegien der Privilegierten schützt. Methodische Zensur triumphiert im Gewand der akademischen Rigorosität und der einzig übrig gebliebene Raum für Gedanken wird zu einem Spiel der konkurrierenden Rationalisierungen.“ 337 Solche Reaktionen sind ebenso geläufig bei etablierten Praktiken in speziellen Gebieten. Beispielsweise entdeckte der ungarische Doktor Ignaz P. Semmelweis (1818 - 1865) dass das Wochenbettfieber durch einfaches Händewasch-Standards in Geburtshilfe-Kliniken drastisch reduziert wurde. Das war eine Vorahnung der heute vollständig akzeptierten Keimtheorie, welche damals ausgestoßen, abgelehnt und lächerlich gemacht wurde. Kurz nach seinem Tod wurde diese grundlegende Entdeckung anerkannt. Heute benutzen einige den Ausdruck „Semmelweis-Reflex“ 336

Um den Begriff „Wert“ deutlicher zu beschreiben: Eine ethische Präferenz im persönlichem oder kulturellem Sinne, generell als subjektiv angesehen. Sie stellen die Grundlage für Handlungen dar. Beispielsweise würde eine Person, die an bestimmte religiösen Philosophien glaubt, Werte etablierten, die bestimmte Verhaltensweisen begünstigen. Ein Wertesystem ist eine Menge von übereinstimmenden Werten und Maßnahmen. 337 The Cancer Stage of Capitalism, John McMurtry, Pluto Press, 1999, p.6

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als Vergleich für eine reflexähnliche Ablehnung neuer Beweise oder neues Wissens, welche etablierten Normen, Glauben oder Paradigmen widersprechen.338 Sobald eine bestimmte Idee vielen Menschen vertraut ist, wird sie zu einer „Institution“ - und sobald diese Institution in irgendeiner Weise verstärkt wird , z.B. durch die Existenz über einen längeren Zeitraum, so kann diese Instition dann als „Establishment“ angesehen werden. „Institionelle Establishments“ sind einfach gesellschaftliche Traditionen, die die Illusion der Dauerhaftigkeit erzeugen und um so länger sie anhalten, um so stärker werden die Verteidigungen für deren Existenzrecht durch den Großteil der Kultur. Wenn wir die heute selbstverständlichen institionellen Establishments betrachten von makrosystematischen Eigenschaften wie dem Finanzsystem, Rechtssystem, dem politischen System und den größeren religiösen Systemen - bis hin zu mikrosystematischen Eigenschaften wie Materialismus, Ehen, Riten und Gebräuchen, etc. - so müssen wir uns daran erinnern, dass keines dieser Konzepte im physischen Sinne real ist. Dies sind temporäre Memstrukturen, die wir zu bestimmten Zeitpunkten zu bestimmten Bedingungen zu unseren Zwecken erfunden haben. Ganz gleich, wie sehr wir emotional an solchen Ideen hängen - ganz gleich, wie groß die Institutionen werden - ganz gleich, wie viele Menschen an solche Institutionen glauben - sie alle sind auferlegte Gedanken und vergänglich. Um hier auf die Thematik der Wertesystem-Störung zurückzukommen: Obwohl das kapitalistische System des freien Marktes stark von der physischen Realität entfernt ist und die Ursache für enorme gesellschaftliche Leiden ist, wird es durch kulturell verstärkte Werte und Macht-Establishments aufrecht erhalten und konditioniert die Gesellschaft bis zur Verteidigung dieses Systems. Diese wurde immer stärker an Überzeugungskraft, da die heutige Wertesystemstörung aus Überlegungen hervorgeht, die menschliches Überleben selbst betreffen. Eigenschaften der Krankheit Um das existierende Rahmenwerk solcher Gedanken kritisch zu bewerten, muss ein grundlegender, gemeinsam akzeptierter Bezugspunkt hergestellt werden. „KulturRelativismus“339 beschreibt die anthropologische Vorstellung, dass verschiedene kulturelle Gruppen verschiedene Wahrnehmungen der „Wahrheit" oder „Realität" erzeugen. „Moralrelativismus“340 ist eine ähnliche Ansicht, welche sich damit auseinandersetzt, was „richtig“ oder „ethisch“ ist. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte wurden diese Begriffe immer beschränkter (eingeschränkter), da die wissenschaftliche Revolution des kausalen Denkens von der Renaissance (seit Beginn der Renaissance) die „relative Integrität" von verschiedenen Glaubenssystemen immer mehr reduzierte. Tatsache ist, das Glaubenssysteme in ihrem Wert nicht gleich sind. Einige sind mehr wahr als andere und demnach sind einige im Kontext des realen Lebens 338

Allgemeine Biographie von Ignaz P. Semmelweis: (englisch) http://semmelweis.org/about/dr-semmelweisbiography/ (deutsch) http://www.whoswho.de/templ/te_bio.php?PID=572&RID=1 339 „Kulturrelativismus“ ist eine Idee, die in anthropologischen Forschungen von Franz Boas innerhalb der ersten Jahrzente im 20. Jahrhundert als unumstößlich galt. 340 Ähnlich wie der „Kulturrelativismus“ wird der „Moralrelativismus“ generell wie folgt definiert: „Jede verschiedene philosophischen Position, die sich mit den Unterschieden von moralischen Bewertungen über verschiedene Menschen und Kulturen hinweg beschäftigt.“

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dysfunktionaler als andere. Die wissenschaftliche Methode der Schlussfolgerung ist der ultimative Bezugspunkt, durch den die Integrität menschlicher Werte gemessen werden kann. Diese moderne Realität entmystifiziert die häufige Verteidigung des subjektiven menschlichen Glaubens durch den „Relativismus". Es geht nicht um „richtig“ oder „falsch“, sondern um was funktioniert und was nicht. Die Integrität unserer Werte und Glaubenssysteme ist nur so gut wie sie sich an der natürlichen Welt ausrichten. Das ist der gemeinsame Boden, den wir alle teilen. Dieses Konzept steht in direkter Verbindung mit Nachhaltigkeit im weiten Kontext des menschlichen Überlebens selbst, weil ein nachhaltiges Gesellschaftssystem nur durch nachhaltige Werte ermöglicht und fortgeführt werden kann. Unglücklicherweise hat der evolutionäre Ballast unserer kulturellen Geschichte mächtige realitätsfremde Wertestrukturen erhalten, welche unsere Auffassung von Glück, Erfolg und Fortschritt zutiefst pervertiert und zudem im Ungleichgewicht mit den herrschenden Gesetzen unseres Lebensraums sowie der menschlichen Natur sind. Der Mensch hat tatsächlich eine gemeinsame Natur und auch wenn wir unterschiedlich sind, können bestimmte Drücke und Stressfaktoren im Durchschnitt ernsthafte Volksgesundheitsprobleme auslösen.341 Gleichermaßen können wir UmweltProbleme erwarten, wenn unsere Verhaltensweisen aufgrund unserer realitätsfremden Wertevorstellung die physische Nachhaltigkeit der Erde nicht berücksichtigen.342 Das vorherrschende kapitalistische sozioökonomische Wertesystem ist tiefgründig pathologisch für das menschliche Dasein. Da die Mechanismen des Überlebens und der generellen Belohnung das emotionale Festhalten sowie bestimmte Formen der Selbsterhaltung verstärken, welche im Grunde in einer Art primitiver Verzweiflung und Angst begründet sind. Das fundamentale Ethos ist ein anti-sozialer, knappheitsgetriebener Druck, der alle Spieler dieses Spiels dazu zwingt, generell ausnutzend und feindseelig gegenüber anderen und dem Lebensraum zu handeln. Dieses Ethos hat auch eingebaute Zwänge gesellschaftlich förderliche Interessen zu vermeiden, da dies in einem Verlust von Profit resultieren würde.343 Dadurch wird die stressinduzierte emotionale Ungleichheit fortgeführt. Das Ergebnis ist ein Teufelskreis der Ausnutzung, des engstirnigen Eigennutzes und der Gleichgültigkeit gegenüber der Gesellschaft und unserer Umwelt. Natürlich wurden in der Vergangenheit diese Eigenschaften für gewöhnlich mit „So ist das nun mal“ verteidigt - als wäre unsere evolutionäre Psychologie in diesem Stadium stecken geblieben. Wenn die angepriesenen psychologischen Doktrinen der traditionellen Markt-Theorie („neoklassicher Utilitarismus“) bezüglich unserer scheinbaren Beschränkungen einer „funktionierenden“ Gesellschaftsstruktur wahr 341

Bitte siehe vorheriges Kapitel: „Definieren der Volksgesundheit“ Ein generelles Beispiel wären die vorherrschenden Werte der Konsumenten in der Welt heute. Das Anhäufen von Eigentum ist üblich, da mehr Besitz mit erhöhtem Erfolg gleichgestellt ist, und mehr Konsum mit wirschaftlichem Wachstum zusammenhängt. Dennoch kann man solch unkonservative Ethik als nicht nachhaltig betrachten, wenn man davon ausgeht, dass wir auf einem endlichen Planeten mit endlichen Resourcen leben. Tatsächlich wurde von vielen erörtert, dass es technisch unmöglich wäre, den „Lebenstandard“ der Vereinigten Staaten unter den derzeitigen Gegebenheiten auf den Rest der Welt auszudehnen. Einigen Untersuchungen zufolge: "Die Menschheit verbraucht Ressourcen und produziert Kohlenstoffdioxid 50 Prozent schneller als es die Erde ertragen kann..." [ Mehr: http://www.business-biodiversity.eu/default.asp?Menue=49&News=233 & http://www.nytimes.com/2011/06/08/opinion/08friedman.html ] 343 Es sollte verstanden werden, dass, je mehr Probleme es auf der Welt gibt, desto mehr Probleme gibt es zu bedienen und zu vermarkten. Je mehr wahre Problemlösungen es gibt, desto weniger gibt es die Möglichkeit zur Vermarktung und folglich keine Erhaltung oder geringe Erhöhung des Wirtschaftswachstums. 342

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sind, dann sind Ungleichgewicht, Umweltzerstörung, Unterdrückung, Gewalt, Tyrannei, Persönlichkeitsstörungen, Kriegsführung, Ausnutzung, eigennützige Gier, sinnloser Materialismus, Wettbewerb und weitere trennende, unmenschliche und destabilisierende Realitäten einfach unveränderbar. Demnach muss die gesamte Gesellschaft verschiedene „Kontrollmittel“ um solche „Unvermeidbarkeiten“ herum einrichten, damit diese Realitäten unseres menschlichen Daseins verwaltet werden können. Es ist als würde man dem Menschen eine gravierenden, unheilbare Geisteskrankheit vorwerfen - eine starke Retardierung - die einfach nicht überwunden werden kann und so muss alles in der Gesellschaft darumherum geändert werden, um damit klar zu kommen. Umso mehr wir jedoch über den Menschen lernen, um so mehr Vergangenheit wir von uns selbst über Generationen sehen - umso eher sind wir in der Lage, die Verhaltensweisen von Kulturen der gesamten Welt und Vergangenheit zu vergleichen - umso klarer wird es, dass unsere menschlichen Möglichkeiten direkt durch eine veraltete Belohnungs- und Überlebensstruktur gehemmt werden, die fortlaufend primitive, erbitterte Werte verstärken. Auch wenn solche Werte in der Vergangenheit eine positive evolutionäre Rolle spielten, so zeigt die Gegenwart und geahnte Zukunft, dass diese Verhaltensmuster schädlich und unnachhaltig sind, wie dieser gesamte Text zur Genüge aufgezeigt hat. Selbsterhaltungs-Paralyse Generell zu Überleben oder gesund zu leben sind grundsätzliche Selbsterhaltungstendenzen. Diese werden jedoch durch unsere aktuellen sozioökonomischen Bedingungen in einer Weise erweitert, die den gesellschaftlichen Fortschritt sowie Problemlösungen enorm hemmen. Tatsächlich könnte man sagen, dass diese kurzzeitige Selbsterhaltung auf Kosten der langfristigen Stabilität erfolgt. Das offensichtlichste Beispiel ist die fundamentale Natur des Suchens und Aufrechterhaltens von Einkommen - dem Lebensblut des Marktsystems - und infolgedessen dem menschlichen Überleben. Sobald ein Unternehmen Erfolg in der Aneignung von Marktanteilen hat und dadurch typischerweise Arbeitnehmer und Eigentümer versorgt, neigt es natürlich dazu, diese einkommensgenerierenden Marktanteile um jeden Preis zu erhalten. Dieses Unternehmen ist durch die Warenproduktion oder das Dienstleistungsangebot nicht einfach eine willkürliche Einheit, sondern erzeugt tiefe Werteassoziationen und ist nun ein lebensunterstützendes Mittel für alle Involvierten. Das Ergebnis ist eine dauerhafter, gesellschaftlich destabilisierender Kampf nicht nur gegen die Konkurrenten, die ebenso den selben Konsumentenmarkt suchen, sondern auch gegen Innovation und Veränderung selbst. Der technologische Fortschritt ist eine dauerhafte, fließende Entwicklung auf wissenschaftlicher Ebene; Die Marktwirtschaft jedoch sieht diese Emergenz als eine Bedrohung im Kontext der existierenden, aktuell profitablen Ideen. Sehr viele Beispiele von „Korruption“, Kartellund Monopolerzeugung und weiterer Verteidigungshandlungen der existierenden Unternehmen können in der Geschichte gefunden werden. Jede Handlung ist darauf aus, die Einkommensproduktion sicherzustellen - unabhängig von den gesellschaftlichen Kosten.344 344

Die erfolgreiche Bemühung der Ölindustrie, und im weiteren Sinne der US Regierung, den Fortschritt bezüglich vollständig elektrischer Fahrzeuge in den 1990er zu verlangsamen, ist ein gut bekanntes Beispiel für

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Ein weiteres Beispiel hat mit der psychologischen Neurose des Belohnungsanreizes durch Anerkennung innerhalb des Marktsystems zu tun. Intellektuell ist es klar, dass keine einzelne Person etwas erfindet, weil Wissen aufeinander aufbauend fortlaufend erzeugt wird und sich letztendlich mit der Zeit ergibt. Die Marktwirtschaft reduziert jedoch mit dem Mechanismus des „Eigentums“, also Patente und „Geschäftsgeheimnisse“, den Informationsfluss und verstärkt auch die Idee des „geistigen Eigentums“, obwohl diese ein Trugschluss ist. Auf der Ebene des Wertesystems mutierte dies zu der Auffassung eines „Anspruchs auf Anerkennung“ und zu „Ego“-Assoziationen bezüglich präsentierter Ideen oder „Erfindungen“. Heute hat dieses Phänomen ein eigenes Leben angenommen, mit der Tendenz vieler Beitragsleistender status-erhöhende „Anerkennung" für eine Idee zu verlangen, auch wenn sie selbst klarerweise Teil eines Kontinuums sind, welches größer ist als sie selbst. Während Anerkennung für die Zeit und Arbeit, die eine Person für den Fortschritts einer Idee geleistet hat, einen produktiven gesellschaftlichen Anreiz darstellt und fundamental für unser Gefühl der Sinnhaftigkeit von Handlungen ist, so verzerrt die Verdrehung von geistigen Eigentum und all seinen erfundenen Eigenschaften diese Befriedigung. Auf der größten Ebene der Erschaffung von Wissen werden solche Handlungen der „Anerkennung“ letztendlich in Anbetracht der Geschichte irrelevant. Heute denken wir beispielsweise bei der Benutzung eines modernen Computers selten an die tausende von Jahren der intellektuellen Entwicklung, die diese grundlegenden wissenschaftlichen Dynamiken gefunden haben, noch denken wir an den enormen Beitrag an Zeit von unzähligen Menschen, die die „Erfindung" dieses Werkzeugs in der heutigen Form ermöglicht haben. Nur im Kontext des manifestierten Egos und der Sicherheit durch monetäre Entlohnung wird dies ein „natürliches“ Werteproblem im Marktsystem. Wenn Menschen keine „Anerkennung“ fordern, werden sie nicht entlohnt und demnach können sie durch diesen Beitrag im Markt nicht überleben. Die MarktsystemBedingungen haben diese Neurose erschaffen, welche letztendlich Fortschritt durch das Teilen von Wissen abschwächt. Weiterhin können diese Störungen der „Selbsterhaltung“ im Markt viele weitere Formen annehmen, mitunter die Benutzung der Regierung als Werkzeug,345 die Verseuchung der akademischen Welt und der Informationen selbst,346 und sogar gewöhnliche zwischenmenschliche Beziehungen.347 Die Angst vor dem Verlust der die Hemmung des Fortschritts, um die existierenden Profitinstitutionen aufrecht zu erhalten. [Empfohlenes Video: “Who Killed the Electric Car?“: http://www.imdb.com/title/tt0489037/synopsis] 345 Firmenlobbyismus bedeutet im wesentlichen die Benutzung von Geld für die Beeinflussung von politischen Entscheidungen. Literaturempfehlung: "Corporate Lobbyists Threaten Democracy“, Julio Godoy, IPS: [http://www.ipsnews.net/2012/08/corporate-lobbyists- threaten-democracy/] 346 Ein interessantes Beispiel dafür war der Fall im Jahr 2007, in dem Microsoft, unzufrieden mit den Informationen der öffentlichen Enzyklopädie „Wikipedia", daran arbeitete, einen Bearbeiter anzustellen, der die Informationen in ihrem Interesse änderte. [Microsoft Offers Cash for Wikipedia Edit: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2007/01/23/AR2007012301025.html] 347 Eine Studie einer Vermögensverwaltung aus Connecticut zeigte, dass viele nur für Geld heriaten würden. Der durchschnittliche „Preis" für den die Menschen heiraten würden beträgt $1.5 Millionen. [http://www.yourtango.com/20072778/survey- most-people-would-marry-for-money]

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Lebensgrundlagen überschreibt nahezu alles und sogar die „ethischsten“ oder „moralischsten“ Menschen können - wenn sie dem Risiko des Nicht-Überlebens gegenüberstehen - Taten rechtfertigen, die sonst traditionell als „korrupt“ bezeichnet werden würden. Dieser Druck ist konstant und zum Teil die Quelle für das enorme Maß an so genannter „Kriminalität“ und an gesellschaftlicher Paralyse, die wir heute beobachten können. Wettbewerb, Ausbeutung und Klassenkrieg Aufbauend auf dem letzten Punkt: Die Ausbeutung, die dem wettbewerbsbetonten Gedanken innewohnt, hat die Bedeutung „Erfolg zu haben“ durchdrungen. Wir sehen die „Vorteils“-Rhetorik in vielen Facetten unserer Leben. Die Manipulation und Ausbeutung für einen Wettbewerbsvorteil wurde die zugrunde liegende Kraft in der modernen Kultur. Diese hat sich weit über den Kontext des Marktsystems ausgedehnt. Andere und die Welt lediglich als Mittel zum Selbstzweck oder zum Vorteil einer isolierten Gruppe zu sehen, ist nun die treibende psychologische Verwerfung, die sich in Liebesbeziehungen, Freundschaften, Familienstrukturen, Nationalismus wiederfindet und sogar unser Verhältnis zu unserem Lebensraum beeinflusst/beeinträchtigt. Dabei versuchen wir auszubeuten und vernachlässigen die physischen Ressourcen der Umwelt für kurzzeitigen persönlichen Gewinn und Vorteil. Alle Bereiche unseres Lebens werden nun notwendigerweise aus der Perspektive des „Was kann ich daraus persönlich bekommen?“ gesehen. In einer Studie, die 2011 in der Abteilung für Psychologie an der Universität von Californien, Berkeley, durchgeführt wurde, fanden die Wissenschaftler heraus, dass: „...Angehörige der höheren Gesellschaftsschichten wesentlich unethischer handeln als Menschen, die aus den niedrigeren Schichten stammen. [...] So brachen in der Statistik wesentlich mehr Angehörige der Oberschicht die Gesetze beim Autofahren, als es Menschen der niedrigeren Schichten taten. In nachfolgenden Labortests und Studien hatten Angehörige der Oberschicht die eindeutige Tendenz zu unethischen Handlungen, wie das Entwenden wertvoller Güter von anderen, das Lügen in Verhandlungen, das Betrügen für die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines Preisgewinnes oder die Billigung unethischen Handelns am Arbeitsplatz, ganz im Gegensatz zu Angehörigen der niedrigeren Schichten. Die Mediator- und Moderatordaten zeigen, dass diese Tendenzen teilweise durch ihre wohlwollendere Einstellung der Gier gegenüber, erklärt werden können.“348 Diese Studien sind höchstinteressant und widerlegen, dass die menschliche Natur in ihren extremen Auslegungen von Grund auf „konkurrenzsuchend und ausbeuterisch“ wäre. Eigenschaften bestimmter Gesellschaftsschichten sind keine genetischen Eigenschaften. Über die Ausprägung bestimmter individueller Neigungen kann allerdings diskutiert werden. Diese Studie zeigt dennoch ein ausschließlich kulturelles Phänomen auf: Das Ignorieren negativer Konsequenzen oder anders ausgedrückt das „unethische Handeln“ der Oberschicht ist ein direktes Resultat der

348

Siehe die Studie: Higher social class predicts increased unethical behavior, Piffa, Stancatoa, Co?te?b, Mendoza-Dentona, Dacher Keltnera, University of Michigan, 2012 [http://www.pnas.org/content/early/2012/02/21/1118373109]

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Wertevorstellungen, die benötigt werden, um überhaupt erst eine „Oberschicht“ zu bilden.349 In der klassischen poetischen Redekunst wurde schon seit Jahrhunderten die Behauptung für wahr gehalten, dass jene Menschen, die ausschließlich auf Erfolg im wirtschaftlichen Sinne fokussiert sind, häufig unsensibler und skrupelloser sind. Es scheint tatsächlich einen Mangel an Empathie bei Menschen zu geben, die direkt „Erfolg“ anstreben und der Grund dafür ist mehr als offensichtlich unter Betrachtung des gestörten Wertesystems der gegenseitigen wettbewerbsbetonten Missachtung in dieser Denkweise der Marktwirtschaft. Zusammengefasst, je mitfühlender und empathischer man ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit finanziell erfolgreich zu wirtschaften. Dies unterscheidet sich im Übrigen nicht im Geringsten vom allgemeinen Sport, in welchem man seinen Gegenspieler ebenfalls nicht bei dem Erreichen seiner Ziele hilft, weil sich die Wahrscheinlichkeit selbst zu verlieren drastisch erhöht. Allgemein scheinen untere Gesellschaftsschichten in vielen Situationen wesentlich sozialer und humanitärer zu handeln. Zum Beispiel wurde herausgefunden, dass ärmere Menschen einen höheren Prozentsatz ihres Einkommens (4,3%) für wohltätige Zwecken spenden, als reichere Menschen (2,1%). Eine Studie aus dem Jahre 2010 bestätigt, dass: „...Mitglieder der unteren Gesellschaftsschichten sich wesentlich großzügiger,[...]wohltätiger,[...]vertrauenswürdiger,[...]und hilfsbereiter verhalten im Vergleich zu Angehörigen der Oberschicht. Mediator- und Moderatordaten zeigten, dass sich Menschen der niedrigeren Schichten deshalb sozialer verhalten, weil ihr Sinn für Gleichheit und Mitgefühl wesentlich ausgeprägter ist. Direkte Zusammenhänge zwischen der sozialen Schicht, sozialem Verhalten und ökonomischer Ungleichheit werden zur Zeit diskutiert.“350, 351 Ein Vergleich von Steuererklärungen in einer Studie der Chronicle of Philanthropy (eine non-profit Zeitung, die in Washington gedruckt wird) ist hier erwähnenswert. Demnach spenden Haushalte, die zwischen 50.000 und 75.000 US-Dollar im Jahr verdienen, durchschnittlich 7,8% ihres Einkommens für wohltätige Zwecke. Dies steht im absoluten Gegensatz zu den 4,2%, die von Menschen mit jährlichen Einkommen von 100.000 US-Dollar, gespendet werden. In manchen der reichsten Gegenden, in denen ein Großteil der Menschen 200.000 US-Dollar oder mehr im Jahr verdienen, betrug die Rate an gespendetem Geld sogar nur 2,8%.352, 353 Erfolg & soziale Stellung Dem Modell des Kapitalismus zufolge bekommen diejenigen das meiste, welche am meisten zur Gesellschaft beitragen. Wolle man beispielsweise Milliardär werden, so muss man viele nützliche und sinnvolle Dinge zur Gesellschaft beigetragen haben. Natürlich entspricht dies in keinster Weise der Wahrheit. Die Mehrheit der reichen Menschen beziehen ihr Vermögen aus Mechanismen, die bei einer genaueren 349

Referenz: “How Wealth Reduces Compassion“, Daisy Grewal, Scientific American, 2012 [http://www.scientificamerican.com/article.cfm?id=how-wealth-reduces-compassion] 350 “Having Less, Giving More: The Influence of Social Class on Prosocial Behavior“, Journal of Personality and Social Psychology, 2010, Vol. 99, No. 5, 771–784, 2012 [http://www.rotman.utoronto.ca/phd/file/Piffetal.pdf] 351 Referenz: Study: Poor Are More Charitable Than The Wealthy, NPR, 2012 [http://www.npr.org/templates/story/story.php? storyId=129068241] 352 Referenz: The Rich Are Less Charitable Than the Middle Class: Study, CNBC, 2012 [http://www.cnbc.com/id/48725147] 353 Referenz: “America's poor are its most generous givers“, Frank Greve/McCLatchy analysis, 2009 [http://www.mcclatchydc.com/2009/05/19/68456/americas-poor-are-its-most-generous.html]

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Betrachtung in keiner Form (egal ob direkt oder auf eine kreative Art) sozial nützlich und sozial förderlich sind.354 Der Ingenieursberuf, Problemlösungsansätze und kreative Innovationen sind fast immer nur im Komplex der Arbeiterklassen zu finden, wo sie ausschließlich dem Profitstreben der Personen an der Spitze (den Besitzern) dienen, nur weil sich diese mit den „Vermarktungsstrategien“ im künstlichen Spiel der Marktwirtschaft besser auskennen. Dies demonstriert nicht die hohe Intelligenz oder die harte Arbeit derjenigen, die am reichsten sind, sondern zeigt vielmehr, dass die Belohnungen dieses Systems denen zugutekommen, die die Mechanismen der Marktwirtschaft ausnutzen und nicht etwa denjenigen, die sich tatsächlich etwas kreatives haben einfallen lassen. So ist einer der profitabelsten Sektoren der globalen Ökonomie heutzutage das Investment und Finanzwesen.355 Beispielsweise leistet ein „Hedge Fund“-Manager keinerlei Beitrag zur kreativen realen Entwicklung356 und bewegt lediglich zur Geldvermehrung Geldbeträge hin und her. Dennoch gehört dieser zu den bestbezahltesten Berufen der Welt. Gleichzeitig wird diese Vorstellung von „Erfolg“ in unserer Kultur lediglich an materiellen Werten allein gemessen. Ruhm, Macht und weitere Aufmerksamkeitsattitüden gehen Hand in Hand mit materiellem Reichtum. Arm zu sein wird verabscheut, während reich zu sein bewundert wird. Nahezu über das gesamte gesellschaftliche Spektrum wird Reichen mit immensem Respekt begegnet. Das hat teilweise etwas mit einem systemorientierten Überlebensmechanismus zu tun, also mit dem persönlichen Interesse herauszufinden wie man auch selbst zu so einem „Erfolg“ werden kann. Jedoch hat sich dies in einen seltsamen Fetisch verwandelt, wobei die Idee, reich, mächtig und berühmt zu sein - egal durch welches Mittel - die leitende Kraft ist. Die Wertesystemstörung der Belohnung (sowohl finanziell als auch durch öffentliche Verehrung und Respekt) von rücksichtslosen und egoistischen Menschen unserer Gesellschaft, ist eine der am weitesten verbreiteten und heimtückischsten Folgen des kapitalistischen Anreizsystems. Nicht nur, dass dadurch das echte Interesse an Innovationen und Problemlösungen (die selbst keinen direkten monetären Ausgleich geben) verloren geht, es fördert ebenso die Existenz des Marktsystems selbst. Es rechtfertigt sich selbst durch das Zuschreiben des hohen Status derjenigen, die innerhalb dieses Systems gewinnen, unabhängig von den wahren Beiträgen oder den sozialen oder Umweltkosten. Der Soziologe Thorstein Veblen schrieb ausgiebig zu diesem Thema. Er beschrieb diese „Tugend" als räuberisch: „Mit der fortschreitenden Entwicklung der räuberischen Kultur kommt es zu einer Trennung zwischen Arbeitsverhältnissen [...] Der „ehrenhafte“ Mensch muss nicht nur die Fähigkeit räuberisch auszubeuten zeigen, er muss ebenso Verbindung zu Beschäftigungen vermeiden, die nicht 354

Literaturempfehlung: The Engineers and the Price System, Thorstein Veblen, 1921 Referenz: “The 40 Highest-Earning Hedge Fund Managers“, Nathan Vardi, Forbes [http://www.forbes.com/sites/nathanvardi/2012/03/01/the-40-highest-earning-hedge-fund-managers-3/ ] 356 Das häufige Argument ist, dass der Finanzsektor wichtig für die industrielle Produktion ist, da er Kapital bereitstellt durch welches die Produktion durch Investition beginnen kann. Das ist jedoch eine künstliche Erfindung, da die Produktion in der physischen Realität (abseits des kapitalistischen Modells) nichts mit Geld oder Investition zu tun hat. Die Produktion hat etwas mit Bildung, Ressourcen und Ingenieurskunst zu tun. Investitionen und Finanzen sind nicht real, da sie nicht produzieren - es sind keine realen Bestandteile der Produktion. 355

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ausbeuten. Die friedlichen Angestellten, die nicht offensichtlich Leben zerstören und keine Zwänge auf aufsässige Widersacher ausüben, verfallen einem schlechten Ruf und werden den Teilen der Gemeinschaft zugeordnet, die keine räuberischen Züge aufweisen; das heißt: Denen, denen es an Größe, Geschicklichkeit oder Wildheit fehlt [...] Demnach kann der fähige Barbar der räuberischen Kultur, welcher sich seines guten Rufes bewusst ist [...], seine Zeit in der männlichen Kriegskunst einsetzen und seine Talente für Wege und Mittel einsetzen, um den Frieden zu stören. Denn nur dies ist ehrenhaft.“357 William Thompson beschreibt diese Realität des assoziativen Einflusses in seiner Untersuchung über die Grundlagen der fürs menschliche Glück förderlichsten Verteilung des Wohlstands: „Der nächste Punkt ist, dass der exzessive Reichtum die Bewunderung und Nachahmung erregt. Auf diese Weise werden die Laster der Reichen für den Rest der Gemeinschaft unklar gemacht; oder erzeugt in diesen weitere Laster aufgrund der Beziehung zu den überaus Reichen. Zu diesem Thema ist nichts offensichtlicher, als die allgemeingültige Wirkungsweise der üblichsten Gesetze unserer Natur -- die der Assoziation. Der Reichtum, als ein Mittel zum Glück [...] wird von allen bewundert und beneidet; das Verhalten und der Charakter derer, die mit dem Reichtum dieser schönen Dinge verbunden sind, werden immer in Verbindung betrachtet [...]“.358 Klassen und Kämpfe zwischen ihnen sind logische Konsequenzen daraus. Ebenso Reichtum und Macht, die als fundamentale Werte angesehen werden und sich mit der Zeit zu einer emotionalen Identität unserer selbst entwickeln. Diese Statusinteressen beginnen unser Leben zu bestimmen und führen zu einem Zwang zur Selbsterhaltung. Angehörige höherer Gesellschaftsschichten versuchen daher mit Mitteln, die häufig sogar jenseits von Geld und materiellen Werten liegen, ihren Status zu erhalten oder gar zu erhöhen. Dieser Drang zur Selbsterhaltung artet hier in eine Form aus, die mit einer Drogensucht gleichzusetzen ist. Ein chronischer Glücksspieler braucht den Endorphinrausch, den er beim Gewinnen hat, um sich gut zu fühlen. Ein ähnliches Verhalten entwickeln Menschen der Oberschicht zu ihrem wahrgenommen Status und Reichtum. Der Begriff „Gier“ wird häufig zur Differenzierung von gemäßigtem Ausnutzen und exzessivem Ausbeuten verwendet. Gier ist daher eine relative Bezeichnung, ähnlich wie „reich“ ein relatives Wort darstellt. Die Bezeichnung „relativer Mangel“359 wird verwendet, um die Unzufriedenheit einer Person zu beschreiben, die im Vergleich mit anderen glaubt, dass ihr eigentlich mehr zusteht. Dieses psychologische Phänomen endet durch den stetigen Anreiz an materiellem Erfolg im Kapitalismus in einem Teufelskreis. Es stellt damit eine ernste Wertesystem-Störung dar, was sich obendrein negativ auf unsere mentale Gesundheit auswirkt. Unser Lebensstandard und unsere Lebensqualität spielen eine wichtige Rolle für unsere physische und mentale Gesundheit. Alles, was über diesen Kontext sozialer Vergleiche hinausgeht, schafft lediglich ernsthafte Neurosen und soziale Verzerrungen. Nicht nur die Tatsache, dass es kein „Gewinnen“ im Streben nach 357

“The Instinct of Workmanship and the Irksomeness of Labor,“ in Essays in Our Changing Order, Thorstein Veblen, pp. 93-94 358 An Inquiry into the Principles of the Distribution of Wealth Most Conducive to Human Happiness, William Thompson, London, William S. Orr, 1850, p.147 359 Relative Deprivation: Specification, Development, and Integration, Iain Walker, Heather J. Smith, Cambridge University Press, 2001, ISBN 0-521-80132-X, Google Print

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Status und Reichtum gibt - Karrieristen heben sich stark von ihren Mitmenschen ab, was nur zur Entfremdung und Entmenschlichung führt. Der damit verbundene Verlust von Empathie hat keinen positiven Effekt auf sozialer Ebene. Die räuberischen Vergütungen, die uns von der Marktwirtschaft versprochen werden, garantieren endlose Konflikte und Missbrauch.360 Dass die Neurose vom „mehr und mehr“ Habenwollen der fundamentale Antrieb sozialer Entwicklungen und Innovationen sei, ist ein Mythos. Ein wenig Wahrheit mag tatsächlich in dieser intuitiven Vermutung stecken. Die Intention für diesen Fortschritt war allerdings nicht soziales Engagement, sondern finanzielle Anreize und das Streben nach Überlegenheit. Vergleichbar ist das mit der Feststellung, dass eine vor Wölfen fliehende Person ja etwas für ihre Gesundheit tut, da sie rennen muss. Während positive Effekte durchaus auftreten können, so haben die eigentlichen Beweggründe in erster Linie rein gar nichts mit besagten Effekten zu tun. Hinzu kommt, dass schädliche Nebeneffekte und großflächige Lähmungen, die aus der Idee des Wettbewerbs, dem Auftreten materieller Gier und dem eingebildeten (sinnlosem) Status entstehen, die Quellen gesellschaftlichen Fortschritts gänzlich zum Erliegen bringen. Tatsächlich fand der Wissenschaftler Richard Wilkinson in einem umfassenden Vergleich der Einkommensungleichheit verschiedener wohlhabender Nationen heraus, dass Nationen mit geringeren Einkommensunterschieden wesentlich innovativer sind.361 Zieht man nun noch die Tatsache in Betracht, wie sehr das Wettbewerbsstreben die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, so ist es offensichtlich, dass die Werte von Gleichheit und Zusammenarbeit zu mehr Kreativität führen, als von der marktwirtschaftlichen Rhetorik traditionell proklamiert wird. Als letzten Punkt zu diesem Abschnitt über die negativen Auswirkungen von Materialismus und der Statuserhaltung wäre die Eitelkeit anzubringen. Mit kleinsten Ausnahmen rührt unsere heutige auf Eitelkeit basierende Gesellschaft direkt aus den psychologischen Werten des Kapitalismus und seiner Vorstellung von „Erfolg“. Im Hinblick auf eine funktionierende Konsumgesellschaft mit der Notwendigkeit eines „stetigem Kauf“-Wertesystems, ist es nur logisch, dass Marketingstrategien und Werbung permanent Unzufriedenheit bei uns über uns selbst und unser Aussehen auslösen. Eine Studie, die vor einiger Zeit auf den Fiji Inseln durchgeführt wurde, bestätigt dies. Das Fernsehen wurde zu dieser Zeit dort neu eingeführt; die Bevölkerung ist also vorher nie in Kontakt mit diesem Medium gekommen. Am Ende der Betrachtungsperiode zeigte sich deutlich der Einfluss von materiellen Werten und Eitelkeit. Eine anschauliche Prozentzahl junger Frauen mit völlig gesundem Aussehen und Gewicht wurde von dem Gedanken beherrscht, dünner zu werden. Besonders unter Frauen breiteten sich Essstörungen, die es vorher in dieser Kultur nicht gegeben hat, aus.362

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Mehr in dem Kapitel: „Struktureller Klassismus und Krieg" Referenz: The Importance of Economic Equality, Eben Harrell, Time, 2009 | Also See: The Spirit Level by Richard Wilkinson and Kate Pickett, Penguin, March 2009 362 “Study Finds TV Alters Fiji Girls' View of Body“, Erica Goode, The New York Times, 1999 [http://www.nytimes.com/1999/05/20/world/study-finds-tv-alters-fiji-girls-view-of-body.html] 361

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Ideologische Polarisierung und Schuldzuweisung Wenn die Frage aufgeworfen wird, was denn nun mit unserer Welt schief gelaufen ist (in Anspielung auf Armut, ökologische Ungleichgewichte, Unmenschlichkeit, wirtschaftliche Destabilisierung allgemein u.ä.) schließen sich zumeist polarisierende Debatten an. Dualitäten, wie „die Rechten und die Linken“ oder „die Liberalen und die Konservativen“, tauchen auf, die zeigen, dass die menschliche Auffassungsgabe anscheinend nur starre Einteilungen aller bekannten Möglichkeiten zulässt. Damit einhergehend finden wir die alte, aber immer noch aktuelle Dualität von „Kollektivismus gegen freie Marktwirtschaft". Diese Dualität besagt, dass alle wirtschaftlichen Optionen auf dem scheinbaren demokratischen Willen aller Menschen in Form des „freien Handels“ basieren sollten - oder, dass eine kleine Gruppe von Menschen an der Macht sein sollte, die jedem sagt, was er oder sie zu tun hat. Aufgrund der dunklen Vergangenheit des Totalitarismus im 20. Jahrhundert kam es zu einer angstbasierten Werteorientierung, die alles ablehnt, was auch nur ansatzweise den Anschein des „Kollektivismus“ hat. Dies ist heute sehr geläufig und geht oft mit dem Wort „Sozialismus“ einher, welches häufig in abwertender Weise benutzt wird.363 Wie zuvor in diesem Kapitel erwähnt, stehen die Möglichkeiten der Menschen in direkter Beziehung zu dem verfügbaren Wissen - also dem, was sie gelernt haben. Wenn traditionelle Bildungs- und Gesellschaftsinstitutionen jegliche sozioökonomische Möglichkeiten innerhalb dieses eingegrenzten Bezugsrahmens vorgeben, so werden die Menschen diese Annahmen (Meme) wahrscheinlich widerspiegeln und in Gedanken und Taten fortführen. Wenn du nicht „abc“ bist, musst du „xyz“ sein - das ist das geläufige Mem. Selbst die politischen Parteien der Vereinigten Staaten sind nach diesem Dualismus aufgebaut: Wenn du kein „Republikaner“ bist, musst du ein „Demokrat“ sein usw. In anderen Worten gibt es eine direkte Hemmung der Möglichkeiten und in diesem Kontext manifestiert sich oft eine Wertestruktur, welche emotionale Bindung an falsche Dualitäten aufbaut. Diese Werte sind heutzutage auf vielen Ebenen extrem fortschrittshemmend. Nebenbei gesagt: Wenn die herrschende Klasse die unteren Klassen in ihrer Fähigkeit der Einmischung behindern will, so würde sie vorausschauend daran arbeiten, die wahrgenommenen Möglichkeiten der Menschen einzuschränken.364 Beispielsweise ist das so genannte „Problem“ der Staatsintervention im freien Markt ein dauerhaftes Thema der Befürworter des Kapitalismus. Dieses besagt, dass die Quelle für die problemerzeugende Ineffizienz des Marktes verschiedene Richtlinien und Handlungen der Regierung sind, die den freien Handel in irgendeiner Weise stören.365 Dies ist ein Schuldzuweisungsspiel, welches hin und her zwischen denen

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Beispiel: “Pat Robertson: Obama der 'Sozialist,' möchte die Vereinigten Staaten von Amerika zerstören“, Paige Lavender, The Huffington Post, 2012, [http://www.huffingtonpost.com/2012/12/14/pat-robertsonobaman2301228.html] 364 Es gibt eine große Kontroverse hinsichtlich des fortlaufenden Niedergangs der westlichen Bildung, speziell in Amerika. 365 Beispiel: Ronald Reagan: Protectionist, Sheldon L. Richman, 1988 [https://mises.org/freemarket_detail.aspx? control=489]

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geht, die behaupten, der Markt ist das Problem und denjenigen, die behaupten, die Einmischung des Staats im Markt ist das Problem.366 Worüber jedoch nie geredet wird, ist die dualität-zerschlagende Realität, dass der Staat - in seiner historischen Form - eine Erweiterung des kapitalistischen Systems selbst ist. Die Regierung hat nicht das System geschaffen - das System hat die Regierung geschaffen. Alle sozioökonomischen Systeme gründen sich auf der Grundlage der industriellen Prozesse und des grundlegenden Überlebens. Genauso, wie die Klassenstrukturen im Feudalismus eine Beziehung zu lebensunterhaltendem Land hatten, machen es heute die so genannten „Demokratien“. Demnach ist die bloße Idee, dass die Regierung entkoppelt oder ohne Einfluss durch den Kapitalismus existiert, eine absolut abstrakte Theorie ohne Basis in der Realität. Der Kapitalismus hat im Endeffekt die Art des Regierungsapparats und dessen Funktion geformt - nicht anders herum. Wenn nun von jemandem behauptet wird, dass die staatlichen Regulationen des Marktes die Ursache aller Probleme seien und dass der Markt besser daran täte, vollständig „frei“ ohne Beschränkungen struktureller oder gesetzlicher Natur zu sein, dann ist ihre assoziative Denkfähigkeit gestört. Das gesamte Gesetzsystem als zentrales Werkzeug von Staaten wird immer unterlaufen und für Taktiken zum Erhalten von Wettbewerbsvorteilen von Unternehmen missbraucht werden, da dies eben die grundsätzliche Natur dieses Systems ist. Jeder, der etwas anderes erwartet, setzt moralische Beschränkungen im Wettbewerb voraus. Dies ist allerdings absolut unsachlich. Solche moralischen und ethischen Annahmen beruhen auf keiner Grundlage, besonders wenn das sozioökonomische System auf Macht, Ausbeutung und Wettbewerb (welche sogar als Tugenden eines „guten Geschäftsmannes“ angesehen werden) basiert. Wenn eine gewinnstrebende Institution Macht innerhalb der Regierung erlangen kann (was ja das Ziel des Lobbyismus ist) und den Regierungsapparat zugunsten ihres Unternehmens oder Industrie manipulieren kann, dann ist das einfach ein gutes Geschäft. Nur wenn der Wettbewerb in extreme Maße der Unfairness ausartet, wird gehandelt, um die Illusion eines „Gleichgewichts“ zu erhalten. Das ist zum Beispiel bei Anti-Kartell-Gesetzen der Fall.367 Diese Gesetze existieren in Wirklichkeit nicht, um den „freien Handel“ oder Ähnliches zu schützen, sondern um extreme Wettbewerbsabsichten innerhalb des Marktes abzuschwächen - wobei jede Partei, egal durch welches Mittel, auf ihren Vorteil aus ist.368

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Eine passende Aussage des berühmten Ökonomen Milton Friedman zu dem Thema: „Die Regierung hat drei Hauptaufgaben. Sie sollte die militärische Verteidigung der Nation bereitstellen. Sie sollte die Verträge zwischen Individuen durchsetzen. Sie sollte die Bürger vor Kriminalität gegen sie selbst oder gegen ihr Eigentum schützen. Wenn die Regierung mit ihren guten Absichten versucht die Wirtschaft zu dirigieren, Moralität zu legitimieren oder speziellen Interessen hilft, geht das nur auf Kosten von Ineffizienz, Motivationsverlust und der Verlust der Freiheit. Die Regierung sollte ein Schiedsrichter sein, kein aktiver Spieler." 367 Selbst Adam Smith implizierte in seinen Schriften, dass der Geschäftsmann jedes zur Verfügung stehende Mittel benutzt, um Wettbewerb zu vermeiden und Monopole sicherzustellen: „Die Menschen der gleichen Branche treffen sich nur selten, selbst nicht für Belustigung und Ablenkung. Die Gespräche jedoch enden in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit oder in irgendeiner Absprache, um die Preise zu erhöhen." [An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Adam Smith, New York, Modern Library, 1937 p. 128] 368 Der Ökonom Thomas Hodgskin schrieb im frühen 19. Jahrhundert: „Es ist in den Augen der Gesetzgeber nicht genug, dass der Reichtum selbst tausende von Reizen hat. Sie haben ihm zusätzlich eine Vielzahl an Privilegien gegeben." [Travels in the North of Germany, Describing the Present State of Social and Political Institutions, the Agriculture, Manufactures, Commerce, Education, Arts and Manners in That Country, Particularly in the Kingdom of Hanover, Thomas Hodgskin, T. Edinburgh, Archibald Constable, 1820, vol. 2, p. 228]

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Die Abgeordneten aller Regierungen in der Welt sind selbst nahezu ausnahmslos aus der Unternehmerschicht. Demnach sind Geschäfts-Wertesysteme tief in den Köpfen der Machthabenden verankert. Thorstein Veblen schrieb zu dieser Tatsache im 20. Jahrhundert: „Die verantwortungsbewussten Offiziellen und deren administrative Offiziere - insofern sie überhaupt noch mit Recht die „Regierenden“ oder die „Administratoren“ genannt werden können - stammen ausnahmslos und typischerweise von diesen begünstigten Klassen; Adlige, vornehme Herren oder Geschäftsleute, die alle für den selben Zweck zum selben Schluss kommen. Der springende Punkt ist, dass der gewöhnliche Mensch nicht in diese Kreise kommt und nicht bei den Beratungen teilnimmt, die vermeintlich das Schicksal der Nation wegweisen.“369 Wer nun damit argumentiert, dass der freie Markt gar nicht „frei“ ist (da er ja so stark von staatlicher Seite reguliert wird), hat überhaupt nicht verstanden, was „frei“ im Zusammenhang mit unserem System bedeutet. Es ist eben nicht die „Freiheit“ aller, sich auf „faire“ Art und Weise im offenen Marktgeschehen zu beteiligen (oder was überzeugte Kapitalisten uns sonst noch weismachen wollen); nein, die wahre Freiheit liegt nur darin alle erdenklichen Mittel zur Dominanz, Unterdrückung und Ausschaltung anderer im Wettbewerb nutzen zu dürfen. Das bedeutet, dass eine wirkliche „Chancengleichheit“ nicht möglich ist. Tatsächlich ist es so, dass sich ohne den Eingriff der Politik in den Markt mit Maßnahmen, wie den Anti-Kartell-Gesetzen oder den großen Rettungsschirmen für die Banken, das gesamte System der Marktwirtschaft schon lange selbst vernichtet hätte. Ökonomen, wie John Maynard Keynes, haben diese in das System integrierte Instabilität zwar grundsätzlich verstanden und vorhergesehen, den wahren Umfang davon haben sie aber gewaltig unterschätzt.370 Individualismus & Freiheit Allzu oft sprechen Leute über „Freiheit“ als wäre es eher eine unbeschreibliche Einstellung/Attitüde/Haltung, als eine greifbare Tatsache. Man hört diese Rhetorik heute ständig in den politischen und wirtschaftlichen Instituten, in denen man Assoziationen zwischen „Demokratie“ und dieser „Freiheit“ macht, beide auf der Ebene des traditionellen Wählens und der Bewegung des Geldes an sich durch unabhängigen freien Handel. Diese soziopolitischen Meme werden durch angeführte Beispiele von Unterdrückung sowie den Verlust der Ungebundenheit und Freiheit in ehemaligen Gesellschaftssystemen polarisierend verstärkt, um die derzeitige Situation zu verteidigen. Ferner wurden diese Werte von den kreativen Arbeiten der Philosophen, Künstler und Schriftsteller verstärkt, die einflussreich beim Vorantreiben von verschiedenen ideologischen Begriffen dieser „Freiheit“ waren. Oftmals geschah dies auf Kosten gesellschaftlicher Verwundbarkeit, welche zur Erhöhung dieser dogmatischen

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An Inquiry into the Nature of Peace and the terms of its Perpetuation, Thorstein Veblen, Harvard Law, pp.326327 370 Die keynesianische Schule sieht, anders als die mehr libertären, freie Marktwirtschaft-Schulen des wirtschaftlichen Denkens (wie die österreichische Schule), den regelmäßigen Eingriff durch die Regierung als notwendig an, um bestimmte Probleme zu vermeiden. In den Worten des online Business Wörterbuchs: „Diese Theorie führt weiter aus, dass die freie Marktwirtschaft keine selbstregulierenden Mechanismen besitzt, die zu Vollbeschäftigung führen. Keynsianische Ökonomen drängen zu und rechtfertigen eine Intervention der Regierung in der Wirtschaft durch die Politik, deren Ziel es ist Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu erreichen." [http://www.businessdictionary.com/definition/Keynesian-economics.html]

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Polarisierung führte.371 Kurzgefasst, viel Angst und emotionale Macht beinhaltet die Vorstellung einer sozialen Veränderung und wie sie sich vielleicht auf unser Leben im Hinblick auf Freiheit und Individualität auswirkt. Wenn wir jedoch einen Schritt zurücktreten und darüber nachdenken, was Freiheit abseits dieser kulturellen Memen heißt, so stellen wir fest, dass Freiheit relativ ist, wenn wir die menschliche Geschichte mit den verschiedenen Lebensstandards und auch die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung betrachten. Um nun zu entscheiden, was Freiheit ist und wie wir sie bewerten können, müssen wir sie einerseits aus einer historischen Perspektive (a) und andererseits aus der Perspektive der Möglichkeiten in der Zukunft (b) betrachten. (a) Historisch gesehen ist die grundlegende Sorge eine Angst vor Macht und der Ausnutzung von Macht. Die menschliche Geschichte besteht sicherlich zu einem beachtlichen Teil aus Machtkämpfen. Diese wurden durch tief religiöse und philosophische Glaubenssysteme und Werte angetrieben, die sich als Sklaverei, die Unterdrückung der Frauen, immer wieder auftretende Völkermorde, Strafverfolgung wegen Ketzerei (freie Meinungsäußerung, oder was als „freies Denken“ bekannt war und ist), das göttliche Recht der Könige und Ähnliches manifestierten. In diesem Kontext könnte man argumentieren, dass die menschliche Geschichte voll von gefährlichem, unbegründeten Aberglauben war. Dieser Aberglaube galt aufgrund der damaligen primitiven Werte/Erkenntnisse als unantastbar - auf Kosten des menschlichen Wohlergehens und des gesellschaftlichen Gleichgewichts. Die Angst und Knappheit der früheren Zeit scheint das schrecklichste Verhalten aus der „menschlichen Natur“ hervorgebracht zu haben. Oft suchten Menschen nach Macht als ein Mittel, um der Ausnutzung von Macht zu entgehen - ein Teufelskreis. Jedoch ist es von höchster Wichtigkeit zu erkennen, dass wir uns in einem Übergangsprozess befinden und altertümliche Werte und Annahmen ablegen. Dabei erkennt die weltweite Kultur und deren Institutionen langsam die wissenschaftliche Kausalität sowie dessen Nutzen bei der Frage nach dem Realen. Demnach sieht man deutlich einige positive Entwicklungen. Wir bewegten uns in den meisten Ländern der Welt von der „göttlichen“ ultimativen Macht der genetisch vorbestimmten Könige und Pharaos zu einem System der sehr begrenzten aber generellen öffentlichen Teilhabe durch einen so genannten „demokratischen Prozess“. Ausbeutung von Menschen, Unterdrückung und Sklaverei haben ihre gewöhnlich religiösen, rassenbedingten oder geschlechtsbedingten Begründungen verloren und sich zumindest dahingehend verbessert, dass Sklaverei in der Welt heute in der weniger drastischen Form der „Lohnsklaverei“ - durch den Platz in der wirtschaftlichen Hierarchie bestimmt - auftritt. Die Marktwirtschaft hat auch - über all ihre historischen Formen - die rassenähnlichen „Kasten“ überwunden, da man heute einen gewissen Grad an (beschränkter) sozialen Mobilität hat und weil Einkommen generell mehr „Freiheit“ bedeutet.372 371

Ayn Rands berühmter Roman „Die Hymne des Menschen" ist ein erwähnenswertes und einflussreiches Beispiel dieser künstlerischen Entstehung dieser Werte. Sie spielt in einer dystopischen Zukunft, in der die Menschheit in ein weiteres Mittelalter mit Irrationalität, Kollektivismus, und sozialistischem Denken und Wirtschaften eingetreten ist. Das Konzept der Individualität wurde eliminiert. Beispielsweise wird der Gebrauch des Wortes „Ich" mit dem Tod bestraft. 372 Soziale Mobilität wird strukturell durch das kapitalistische System gehemmt. Dabei erhält ein kleiner Prozentsatz statistisch gesehen zusätzlich eine Aufwärtsmobilität. Die soziale Mobilität in den USA (Heimat des „amerikanischen Traums) fiel auch stetig. Siehe: “Exceptional Upward Mobility in the US Is a Myth, International

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Solche fortschrittlichen Tatsachen müssen erwähnt werden, da der Kapitalismus trotz all seiner Schwächen - auch bestimmte gesellschaftliche Bedingungen verbessert hat. Die immer noch elitäre und voreingenommene grundlegende Prämisse, eine Gruppe strukturell und soziologisch über andere Menschen zu stellen, hat sich jedoch nicht verändert. Diese Bevorzugung einer „Gruppe“ basiert zwar nicht mehr auf Geschlecht, Rasse oder Religion, aber dafür auf zwanghafte Zweckmäßigkeit und Wettbewerbsmentalität, um sich auf Kosten anderer an die oberste Stelle der Klassenhierarchie zu stellen. Man könnte sehr gut argumentieren, dass der Kapitalismus das Sklaverei-System der Postmoderne ist. Mit einer neuen Werteausrichtung der „Wettbewerbsfreiheit“, wodurch es erhalten wird. Diese neu erfundene Vorstellung der „Freiheit“ sagt im Grunde genommen, dass wir alle „frei“ sind zu konkurrieren und uns nehmen dürfen, was wir können. Jedoch gibt es - wie zuvor erwähnt - so einen Zustand der „absoluten Freiheit“ ohne Ausbeutung, Unterdrückung und strukturelle Vorteile zu erschaffen, nicht. Das ist klarerweise unmöglich. Wenn also Befürworter des Kapitalismus die erbrachten gesellschaftlichen Verbesserungen als Beweis für die gesellschaftliche Wirksamkeit heranziehen, so müssen wir auch erkennen, dass der Ursprung nicht in dem Interesse der menschlichen Freiheit lag, sondern ein Echo sozialer Engstirnigkeit ist, die die Kultur für Jahrtausende verschmutzte und sich aus einer allgemeinen Psychologie des Elitismus und der Knappheit begründet. Heute steht echte Freiheit in direkter Korrelation zu der persönlich verfügbaren Menge an Geld. Die unter der Armutsgrenze Lebenden haben gegenüber den Wohlhabenden enorme Beschränkungen der persönlichen Freiheit. So reden Befürworter der freien Marktwirtschaft oft von den „Zwängen" im Zusammenhang mit der Staatsgewalt; Die Realität der wirtschaftlichen Zwänge wird jedoch ignoriert. Traditionelle Wirtschaftstheoretiker benutzen dauerhaft Rhetorik, die vermuten lässt, alles basiere auf der freien Wahl innerhalb der freien Marktwirtschaft: ob eine Person einen Arbeitsplatz annehme oder nicht sei ihre Wahl. Jedoch haben diejenigen, die in Armut leben (was übrigens die meisten sind)373 eine starke Beschränkung ihrer Wahlfreiheit. Die Drücke ihres beschränkten wirtschaftlichen Spielraums erzeugt einen Zustand außerordentlicher Nötigung durch den sie Arbeitsplätze annehmen müssen, die noch nicht einmal das Überleben sichern, sondern zudem oft Opfer einer enormen Ausbeutung durch geringe Löhne sind. Tatsächlich ist allgemeine Armut in diesem Zusammenhang eine positive Bedingung für die kapitalistische Klasse, da es Kosteneffizienz in der Form von billiger Arbeit gewährleistet. Also auch wenn wir mit der Zeit einige gesellschaftliche Verbesserungen erreicht haben, so sind diese Verbesserungen nur eine Variation der geläufigen Themen von generellem Elitismus, Ausbeutung und Fanatismus. Die lange Vergangenheit von angenommener Ressourcenknappheit und Beschränkungen in Produktionsmethoden Studies Show“, Science Daily [http://www.sciencedaily.com/releases/2012/09/120905141920.htm] Also See: “Harder for Americans to Rise From Lower Rungs“, New York Times, 2012 [http://www.nytimes.com/2012/01/05/us/harder-for-americans-to-rise-from- lower-rungs.html?pagewanted=all] 373 Auch wenn der Armutsstandard je nach Region relativ ist, leben über 50% der Welt laut einer 2005 durchgeführten Weltbank Studie von weniger als 2.50$ pro Tag (oder 912$ pro Jahr) [http://www.globalissues.org/article/26/poverty-facts-and-stats]

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hat diese Idee im malthusianischen Sinne verstärkt.374 Dabei wird die Idee der nahezu wirtschaftlichen Gleichheit aller einfach als unmöglich angesehen. (b) Jedoch hat die moderne Wissenschaft und die exponentielle Entwicklung von technologischen Anwendungen, zusätzlich zum tieferen Einblick in unser Menschsein,375 die Tür für zukünftige Möglichkeiten des gesellschaftlichen Fortschritts geöffnet und demnach auch die Erweiterungsmöglichkeiten unserer Freiheit, wie wir sie noch nie gesehen haben. Dieses Bewusstsein erschafft ein Problem, da die Möglichkeit des Erreichens dieser Freiheit stark durch die Werte und etablierten Institutionen der traditionellen kapitalistischen Ordnung gehemmt wird. In anderen Worten: Das Marktsystem kann diese Verbesserungen einfach nicht fördern, da diese Verbesserungen in letzter Konsequenz gegen die Mechanismen des Systems selbst gehen würden. Beispielsweise würde die korrekt angewandte Effizienz auf technischer, wissenschaftlicher Ebene heute einen hohen Lebensstandard für jeden Menschen auf der Erde bieten,376 einhergehend mit der Eliminierung von gefährlicher und monotoner Arbeit durch die Anwendung von kybernetischer Mechanisierung.377 Heute verbringt der Großteil der Menschen die meiste Zeit entweder am Arbeitsplatz oder schlafend. Viele dieser Arbeitsplätze bereiten keine Freude378 und sind von zweifelhaftem Wert für die wahren persönlichen oder gesellschaftlichen Beiträge und Entwicklungen. Wenn wir also über grundlegende Freiheit nachdenken, so heißt das, in der Lage zu sein, sein Leben in der Weise zu führen, wie man es möchte - innerhalb der Vernunft.379 Der erste Schritt ist ein Leben ohne Sorgen über das grundsätzliche Überleben und die Gesundheit von einem selbst und der Familie. Jedoch ist das „Arbeit für Einkommen“-System eine der heute existenten „unfreiesten" Institutionen, nicht nur bezüglich der innewohnenden wirtschaftlichen Nötigung, sondern ebenso bezüglich der Unternehmensstruktur selbst, die strikt von oben nach unten eine auf Hierarchie basierende Diktatur ist. Traurigerweise, trotz dieser realen und existenten Möglichkeiten, bekämpfte und bekämpft die Wertesystem-Störung aus dem kapitalistischen Modell und dessen paranoider Angst vor allem außerhalb dieses Modells weiterhin diese Möglichkeiten der erhöhten Zustände von Freiheit. Tatsächlich wird die Idee von grundlegender gesellschaftlicher Unterstützung in Form von „Sozialhilfe“ oder ähnlichem bekämpft; sogar zum Teil mit dem Argument, sie behindere den offenen Markt - denselben Markt, der in der Realität diese Armutszustände erzeugt hat. 374

Siehe den Abschnitt zu Malthus und Ricardo in dem Kapitel „Wirtschaftsgeschichte". Klarstellung: Gesellschaftlich zusammenhängende oder psychosoziale Auswirkungen der Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft haben einige starke Tatsachen über die Ursprünge von fehlgeleitetem oder zerstörerischem Verhalten aufgezeigt. Siehe das Kapitel „Definieren der Volksgesundheit" für weitere Erklärungen. 376 Eine detallierte Hochrechnung davon wird in Teil III dieses Textes präsentiert. 377 Eine detallierte Hochrechnung davon wird in Teil III dieses Textes präsentiert. 378 Referenz: New Survey: Majority of Employees Dissatisfied, Forbes, Susan Adams 2012 [http://www.forbes.com/sites/susanadams/2012/05/18/new-survey-majority-of-employees-dissatisfied/] 379 Natürlich kann es weder „reine" Freiheit in der natürlichen Welt geben, da diese durch Naturgesetze beherrscht wird, noch kann unbegrenzte Freiheit in den gesellschaftlichen Bedingungen existieren, die sich mit Lebensstandards für soziale Stabilität beschäftigt. Beispielsweise kann niemand die „Freiheit" haben jemand anderen umzubringen. Solche Gesellschaftsverträge und Werte existieren, damit andere nicht misshandelt werden, weil das schnell zu Ungleichgewicht und Destabilisierung führt. 375

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Als letzte Bemerkung zu dem Thema der „Freiheit“: Die kapitalistische Theorie, sowohl in ihrer historischen als auch modernen Form, besteht ohne Beziehung zu den erdlichen Ressourcen und den herrschenden ökologischen Gesetzen. Neben der primitivsten Wahrnehmung von Knappheit, welches ein Indiz der häufigen „Angebot und Nachfrage“-Werttheorie ist, ist die wissenschaftliche Natur der Welt abseits dieses Modells - sie ist außerhalb. Diese Nichtberücksichtigung kombiniert mit der Ausnutzung und Kostenreduzierungs-Realität innerhalb des Anreizsystems des Marktes, ist das, was die gewaltigen Umweltprobleme erzeugt; Von Bodenverarmung, über Umweltverschmutzung, über Waldzerstörung, bis hin zu nahezu allem über was wir auf ökologischer Ebene denken können. Wenn wir die frühen Entwicklungen dieser Philosophie analysieren, können wir darüber spekulieren wie es logischerweise dazu kam. Aufgrund der größtenteils auf Landwirtschaft basierten Produktion und dem Minimalismus der frühen „Handwerks“Güterproduktion war unsere Möglichkeit zu dieser Zeit die Umwelt negativ zu beeinflussen beschränkt. Wir waren damals nicht so eine große Bedrohung, da sich die gewaltige Industrie, wie wir sie heute kennen, noch nicht entwickelt hatte. Diese Entwicklung zeigt, dass unter der Oberfläche des Kapitalismus eine alte Perspektive sitzt, die immer eher unzeitgemäßer wird mit immer mehr auftretenen Konsequenzen, während unsere technologischen Kapazitäten unsere Fähigkeit die Welt zu verändern erhöht. Eine Parallele dazu ist die Institution des Krieges. Wettbewerbsbetonte Werte und Kriegsführung waren eine tolerierbare Realität, als der Schaden durch einfache Musketen Jahrhunderte zuvor beschränkt war. Heute haben wir Nuklearwaffen, die alles zerstören können.380 Wenn wir nun eine evolutionäre Perspektive einnehmen, sehen wir, dass der Kapitalismus eine Praktik und Werteorientierung war, die uns in bestimmten Weisen geholfen hat, aber die Trends zeigen nun eine innewohnende Unreife des Systems, die zu immer mehr Problemen führen wird, wenn es weiter besteht. Die „Vermarktung" des Lebens Als letzter Punkt zu diesem Kapitel sei gesagt, dass der Trend einer immer stärker werdenden „Vermarktung" des Lebens eine tiefe Verzerrung unserer Werte hervorgerufen hat. Da „Freiheit" kulturell mit „Demokratie" assoziiert wird und Demokratie im wirtschaftlichen Sinne mit der Fähigkeit zu kaufen und verkaufen assoziiert wird, so kam es zu einer Kommerzialisierung und Kommodifizierung (d.h. für Ware halten und somit Käuflichkeit) von nahezu allem. Traditionelle Werte und Rhetorik früherer Generationen haben die Nutzung von Geld oft als eine „kalte" Notwendigkeit gesehen. Dabei wurden einige Elemente unseres Lebens als „heilig" angesehen und demnach nicht zum Verkauf gebracht. Bei Prostitution finden beispielsweise unsere kulturellen Werte oft ein Gefühl der Entfremdung. In den meisten Ländern ist diese Handlung illegal, auch wenn es wenig gesetzliche Rechtfertigung gibt, da Geschlechtsverkehr selbst legal ist. Nur wenn das Element des Kaufs ins Spiel kommt wird sie als verwerflich angesehen. Jedoch werden solche Heiligkeiten, die durch die Kultur fortgeführt wurden, immer mehr durch die Markt-Denkweise überdeckt. Heute kann - ob legal oder illegal 380

Albert Einstein wird oft zitiert als er sagte: „Ich weiß nicht mit welchen Waffen der 3. Weltkrieg geführt werden wird, aber ich weiß, dass der 4. Weltkrieg mit Stöcken und Steinen geführt werden wird." [The New Quotable Einstein, Alice Calaprice, Princeton University Press. 2005 p.173]

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nahezu alles gekauft oder verkauft werden.381 Man kann das Recht kaufen CO2Emissions Regulierungen zu umgehen,382 man kann seine Gefängniszelle gegen einen Beitrag verbessern,383 das Recht gefährdete Tierarten zu jagen kaufen384 und sich sogar in Prestigeuniverstitäten einkaufen, obwohl man den Aufnahmeanforderungen nicht entspricht.385 Es wird zu einem seltsamen Zustand, wenn die normalsten und natürlichsten Handlungen des menschlichen Lebens durch Geld als Anreiz bestimmt werden, wie das Ansp*rnen der Kinder zum Lesen,386 oder Gewichtsverlust zu fördern.387 Was bedeutet es psychologisch für ein Kind, wenn der Anreiz Geld für grundlegende Handlungen ist? Wie wird es deren zukünftigen Sinn für Belohnungen beeinflussen? Das sind wichtige Fragen in einer zum Verkauf stehenden Welt, wobei das WerteLeitbild daraus besteht nur etwas zu machen, wenn es auch Geld bringt. Solche Markt-Werte zeigen eine deutliche gesellschaftliche Verwerfung, da die Essenz der menschlichen Entscheidungen und ihre Existenz transformiert wird. Auch wenn wir uns nicht besonders um triviale Probleme scheren, wie die Tatsache, dass man Zugang zu der Fahrgemeinschaftsspur kaufen kann, wenn man alleine fährt388, so ist jedoch die größere Manifestierung einer Kultur, die darauf aufbaut alles zum Verkauf anzubieten eine Entmenschlichung der Gesellschaft, da jeder und alles auf eine Ware reduziert wird, die es auszunutzen gilt. So schockierend es klingen mag: Heute gibt es mehr Sklaven als je zuvor in der menschlichen Geschichte. Illegaler Menschenhandel war und ist eine gewaltige Industrie für den Profit, wobei Männer, Frauen und Kinder in verschiedenen Rollen verkauft werden. Das US Außenministerium veröffentlichte: „Es wird geschätzt, dass 27 Millionen Männer, Frauen und Kinder rund um den Globus Opfer des so genannten Oberbegriffs „Menschenhandel“ sind. Die Arbeit, die darin steckt diese Kriminalität zu bekämpfen, ist die Arbeit das Versprechen der Freiheit einzuhalten - Freiheit von Sklaverei für die Ausgebeuteten und die Freiheit für die Überlebenden um ihre Leben fortzuführen. “389 Am Ende des Tages würden die meisten Menschen, die an das freie MarktKapitalismus System glauben, in ethischer Hinsicht erzürnt über diese gewaltigen menschlichen Misshandlungen in der Welt sein, wobei sie oft Trennungen zwischen „moralischen“ und "unmoralischen“ Handlungen des Handels machen. Dennoch bleibt die Tatsache, dass es lediglich verschiedene Grade der Stärke in der Anwendung sind. Von einem komplett philosophischen Standpunkt aus gibt es 381

Suggested Reading: What Money Can't Buy: The Moral Limits of Markets, Michael J. Sandel, Farrar, Straus and Giroux, 2012 382 Bezüglich der EU kann dies online hier eingesehen werden: www.pointcarbon.com 383 “For $82 a Day, Booking a Cell in a 5-Star Jail“, New York Times, April 29, 2007 384 “Saving the Rhino Through Sacrifice“, Brendan Borrell, Bloomberg Businessweek, December 9, 2010 385 “At Many Colleges, the Rich Kids Get Affirmative Action: Seeking Donors“, Daniel Golden, Wall Street. Journal, February 20, 2003 386 “Is Cash the Answer“, Amanda Ripley, Time, April 19, 2010, pp.44-45 387 “Paying people to lose weight and stop smoking“, Kevin G. Volpp, Issue Brief, L.D. Institute of Health Economics, University of Pennsylvania, vol. 14, 2009 388 “Paying for VIP Treatment in a Traffic Jam“, Wall Street Journal, June 21 2007 389 Trafficking in Persons Report 2012, US Department of State [http://www.state.gov/j/tip/rls/tiprpt/2012/192351.htm]

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keinen technischen Unterschied zwischen verschiedenen Formen der Marktausbeutung. Die inhärente Psychologie - die Wertesystem-Störung - hat und wird weiterhin räuberische Gleichgültigkeit innerhalb der Kultur fortführen und nur wenn die strukturellen Mechanismen von unserem Ansatz für gesellschaftliche Organisation entfernt werden, so werden die vorher benannten Probleme gelöst werden können.

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Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg „Der Mensch ist der einzige Patriot. Er stellt sich selbst, sein Land und seine Flagge über alles andere, und spottet über andere Nationen und hält eine Vielzahl an kostenintensiven, uniformierten Kopfgeldjägern bereit, um Teile anderer Völker zu ergreifen, und sie davon abzuhalten, seine Teile zu ergreifen. Und in den Intervallen zwischen diesen Kampagnen wäscht er das Blut seiner Hände rein und arbeitet für 'die allgemeine Brüderlichkeit der Menschheit' - mit Worten.“390 - Mark Twain

Überblick Seit Beginn der aufgezeichneten Geschichte waren menschliche Konflikte eine beständige Charakteristik der Gesellschaft. Auch wenn Rechtfertigungen dafür auf Annahmen über unveränderbare menschliche Neigungen zu Aggressionen und Territorialverhalten bis hin zu den religiösen Ansichten von polarisierten metaphysischen Kräften wie „Gut und Böse“ beruhen, so hat die Geschichte gezeigt, dass Konfliktsituationen generell eine rationale Korrelation zu den Umgebungszuständen und/oder kulturellen Bedingungen haben. Von der direkten, angstvollen Stressreaktion der „Kampf oder Flucht“-Neigung391 bis zu ruhiger, berechneter Planung strategischer nationaler Kriegsführung gibt es immer einen Grund für solche Konflikte. Das generelle Interesse der Öffentlichkeit, Konflikte zu reduzieren, erfordert natürlich, dass wir die gesamte Kausalität erfassen, so tief wie wir nur können, um vernünftige Lösungen zu finden. Dieses Kapitel wird zwei Kategorien der „Kriegsführung“ untersuchen: Die „Imperialistische Kriegsführung“ und den „Klassenkrieg“. Auch wenn sie scheinbar verschieden sind, wird hier argumentiert, dass die Wurzel der psychologischen Mechanismen dieser zwei Kategorien, im Grunde genommen, dieselben sind. Weiterhin sind einige Mechanismen dieses „Kampfes“ in der Realität trügerischer und verdeckter, als viele meinen würden. Die zentrale These ist, dass die Quelle von all diesen scheinbar unveränderbaren Realitäten in der sozioökonomischen Prämisse selbst verankert ist - in diesem Kontext als eine bestimmte sich verstärkende Psychologie und demnach als ein soziologisches Schema - nicht in den Veranlagungen unserer Gene oder das Fehlen von einigen moralischen Fähigkeiten. Anders ausgedrückt, werden diese heutigen Tatsachen nicht von ideologisch isolierte Gruppen wie Beispielsweise Schattenregierungen eines Landes oder einige besonders „gierige“ Geschäftsmentalität angetrieben - sondern eher durch die zugrunde liegenden Werte von nahezu jedem in der aktuellen sozioökonomischen Situation, die wir kulturell als „normal“ erachten. Unterschiedlich ist nur der Grad in welchem diese Werte beansprucht werden und zu welchem Zweck. Imperialer Krieg: Der Aufstieg des Staates Die neolithische Revolution ungefähr vor 12.000 Jahren392 war ein wichtiger Scheidepunkt für die menschliche Gesellschaft. Lebten wir seinerzeit ausschließlich „von den Früchten der Natur“ - also den beschränkten natürlichen Regenerationen des Lebensraums - so haben wir uns hin zu beschleunigenden Trends der 390

What is Man? And other Irreverent Essays, “Man's place in the animal world“, Mark Twain, 1896, p.157 Die „Kampf oder Flucht“-Reaktion (oder Stressreaktion) wurde als erstes von dem physiologen Walter Bradford Cannon beschrieben. Seine Theorie besagt, dass Tiere gegenüber Bedrohungen mit einem Ausstoß des Sympathikus reagieren, wodurch das Tier auf Kampf oder Flucht vorbereitet wird. 392 Auch Agrarrevolution genannt. Diese war die erste historisch belegbare Revolution in der Landwirtschaft. Sie war ein großer Umbruch vieler menschlicher Kulturen von einer Lebensart des Sammelns und Jagens hin zu Landwirtschaft und Sesshaftigkeit, die eine immer größer werdende Bevölkerung ernähren konnte und die Grundlage für die modernen Gesellschaften heute legte. 391

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Umweltkontrolle und Ressourcenmanipulation bewegt. Diese Entwicklung der Landwirtschaft und die Erschaffung von arbeit-vereinfachenden Werkzeugen war der Anfang von dem, was wir heute beobachten können, wenn das Spektrum der menschlichen Möglichkeiten die Wissenschaft für die Veränderung der Welt, zu unserem Vorteil zu nutzen, nahezu unbegrenzt erscheint.393 Jedoch hat diese anfangs langsame technologische Anpassung bestimmte Muster und Veränderungen in Bewegung gesetzt, die viele der Probleme erzeugt haben, die wir heute für gewöhnlich halten. Ein Beispiel wäre, wie Ungleichgewichte durch relative Armut und wirtschaftliche Stratifizierung als Konsequenz dieser neuen Möglichkeiten zustande kamen. In den Worten des Neurowissenschaftlers und Anthropologen Dr. Rober Sapolsky: „Jäger und Sammler-Gesellschaften [hatten] tausende von natürlichen Quellen für Nahrung. Die Landwirtschaft veränderte all dies. Durch die Erzeugung von starker Abhängigkeit auf ein paar dutzend Nahrungsquellen [...] erlaubte die Landwirtschaft die Lagerbildung von überschüssigen Ressourcen und demnach unweigerlich die ungleiche Lagerung dieser, also die Stratifizierung der Gesellschaft und die Erfindung der Klassen. Dies erlaubte das Entstehen der Armut.“394 Gleichermaßen wurde der eher nomadische Lebensstil der Jäger und Sammler langsam durch sesshafte, protektionistische Stämme ersetzt und dann letztendlich durch regionale stadtähnliche Gesellschaften. In den Worten von Richard A. Gabriel in seinem Werk „Eine kurze Geschichte des Krieges“: „Die Erfindung und Verbreitung der Landwirtschaft in Verbindung zu der Domestizierung von Tieren im 5. Jahrtausend v. Chr wird als Entwicklung anerkannt, die den Weg für das Aufkommen der ersten großflächigen, komplexen städtischen Gesellschaften bahnte. Diese Gesellschaften, die nahezu zeitgleich, ungefähr 4000 v. Chr, sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien entstanden, benutzten Steinwerkzeuge. Jedoch bereiteten innerhalb von 500 Jahren die Steinwerkezeuge und Waffen den Weg für Bronze. Mit der Bronzeherstellung kam es zu einer Revolution in der Kriegsführung.“395 Zu dieser Zeit kam auch das Konzept des „Staats“ auf, wie wir es kennen, und die dauerhafte „Streitmacht“ entstand. Gabriel führt weiter aus: „Diese frühen Gesellschaften erschafften die ersten Beispiele der staatsregierten Institutionen; Zuerst als zentralisierte Stammesfürstentümer und später als Monarchien. [...] Zur selben Zeit verlangte die Zentralisierung die Erschaffung einer administrativen Struktur, die in der Lage war, die gesellschaftlichen Aktivitäten und Ressourcen im Sinne des Gemeinwohls zu dirigieren. [...] Die Entwicklung von zentralen Staatsinstitutionen und einem unterstützendem Regierungsapparat verleihte den Militärstrukturen unweigerlich Form und Stabilität. Das Ergebnis war die Expansion und Stabilisierung der früher ungebundenen und unsicheren Kriegerkaste. [...] 2700 v. Chr. gab es in Sumer eine vollständig erschaffene Militärstruktur und ein stehendes Heer, so wie es heute auf ähnliche Weise organisiert wird. Das stehende Heer entstand als ein dauerhafter Teil der Gesellschaftsstruktur und wurde seitdem

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Literaturempfehlung: Exponentially Accelerating Information Technologies Could Put an End to Corporations [http://scienceprogress.org/2011/06/exponentially-growing-information-technology-will-put-an-end-to-corporations/ ] 394 Why Zebras Don't Get Ulcers, Robert Sapolsky, W. H. Freeman, 1998, p.383 395 A Short History of War: The Evolution of Warfare and Weapons, Richard A Gabriel, Strategic Studies Institute, U.S. Army War College, Chapter 1, 1992

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durch viele Behauptungen gesellschaftliche legitimiert. Seitdem war es immer mit uns.“396 Imperialer Krieg: Illusionen Der „Imperialismus“ wird, wie folgt, definiert: „Als Imperialismus bezeichnet man das Bestreben eines Staatswesens oder dessen Anführers, seinen Einfluss auf andere Länder oder Völker auszudehnen, bis hin zu deren Unterwerfung und Eingliederung in das eigene Umfeld. Dazu gehört, eine ungleiche wirtschaftliche, kulturelle oder territoriale Beziehung aufzubauen und aufrechtzuerhalten.“397 Auch wenn die traditionelle Kultur generell den imperialen Krieg als eine Variation des Krieges ansieht (unter der Annahme, dass es andere Formen des bewaffneten nationalen Konflikts gibt), so wird hier argumentiert, dass die ursprüngliche Basis aller nationalen Kriege tatsächlich in ihrer Art imperialistisch ist. Die buchstäblich Tausende von Kriegen in der aufgezeichneten Menschheitsgeschichte haben größtenteils mit der Aneignung von Ressourcen oder Territorien zu tun. Dabei arbeitete eine Gruppe daran, ihre Macht und materiellen Wohlstand auszuweiten und die andere arbeitete daran, sich vor denen, die ihre Macht und Reichtum erobern wollten, zu schützen. Selbst die vielen historischen Konflikte, die oft, oberflächlich betrachtet, nur ideologisch motiviert erscheinen, sind in Wirklichkeit versteckte imperiale wirtschaftliche Handlungen. Beispielsweise werden die christlichen Kreuzzüge des elften Jahrhunderts oft als ausschließlich religiöse Konflikte oder als ideologischer Eifer betrachtet. Eine tiefere Recherche offenbart jedoch einen starken Unterton der Ausweitung des Handels und der Ressourcenaneignung - unter dem Deckmantel des „religiösen“ Krieges.398 Das soll nicht heißen, dass Religionen, historisch gesehen, nicht der Ursprung von enormen Konflikten waren, sondern, dass es oft eine starke Vereinfachung in Geschichtstexten gibt, bei denen die wirtschaftliche Relevanz oft missachtet oder ignoriert wird. Unabhängig davon hält die Idee des „moralischen“ Kreuzzugs als eine Art Rechtfertigung für nationalen, wirtschaftlichen Imperialismus bis heute an.399 Tatsächlich kann man tiefe „Zwang-Tendenzen“ durch die gesamte Geschichte beobachten, wenn es um den Gewinn der Unterstützung durch die Öffentlichkeit für Krieg geht. Beispielsweise reicht ein kurzer Blick in die Geschichte, um zu sehen, dass alle „offensiven“ Kriegshandlungen - also Krieg durch eine bestimmte Macht aus egal welchen Grund (keine Antwort auf eine direkte Invasion) - aus den Repräsentanten und Verantwortlichen des Regierungskörpers hervorgehen - nicht den Bürgern. Kriege tendieren, durch eine Art angekündigten Vorschlag, ausgehend 396

ebd. Quelle der Definition des Imperialismus http://de.wikipedia.org/wiki/Imperialismus 398 Referenz: Economic Development of the North Atlantic Community, Dudley Dillard, Prentice-Hall, New Jersey, 1967, pp.3- 178. 399 Religion als Mittel für politische Unterstützung der imperialen Kriegshandlungen zu benutzen, ist historisch gesehen geläufig. Selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es einen Unterton des religiösen Krieges oder im Willen „Gottes“ zu Handeln, der andauernd von Politikern für die kürzlichen militärischen Handlungen benutzt wird. Islamische und jüdische Staaten scheinen das selbe zu machen [ENGLISCHER TEIL FEHLT?]. Beispielsweise zeigt bei dem Israel-Palästina Konflikt (der generell als tief religiöser Konflikt um das „heilige“ Land angesehen wird) bei genauerem hinsehen, dass die Religion, auch wenn sie in der Öffentlichkeit tatsächlich ein wichtiger Faktor ist, nicht der Ursprung des Konfliktes ist. Die wahre Ursache ist ein elitärer Imperialismus und generell Ressourcendiebstahl. Dabei wird die Religion genutzt, um die Unterstützung der Öffentlichkeit zu erlangen. Leseempfehlung: http://www.thejakartaglobe.com/globebeyond/israel-palestine-not-a-religiousconflict/558353 397

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von der Staatsmacht, zu beginnen; Dieser wird dann durch die staatsunterstützten Medienunternehmen angetrieben;400 wodurch die Bürger langsam dazu gebracht werden, diesen Vorschlag anzuerkennen. Auch hilft es dem Staat sehr, wenn es eine Form der emotionalen starken Provokation gibt, die dann so manipuliert werden kann, um den beabsichtigten Krieg weiter zu rechtfertigen.401 Solche Taktiken der Manipulation der Bürger können viele Formen annehmen. Die Nutzung von Angst, Ehre, (Rache), patriotischem Paternalismus402 und Moralität und die „gemeinsame Verteidigung“ gehören heute zu den gewöhnlichsten Tricks. Tatsächlich werden alle Kriegshandlungen in der Öffentlichkeit als „Verteidigung“ gerechtfertigt, selbst wenn keine vernünftige, greifbare öffentliche Gefahr gefunden werden kann. Jedoch liegt im Kern tatsächlich eine Wahrheit, wenn es um diese Idee des „Verteidigungskrieges“ geht,403 da die Handlung der imperialen Mobilisierung auf einer sehr realen, aber dennoch versteckten Form der wirtschaftlichen und/oder politischen Angst basiert - die Angst vor dem Verlust von Kontrolle oder Macht. In anderen Worten: Auch wenn keine direkte, unmittelbare Gefahr von einer bestimmten Aggressornation ausgeht - so gibt es eine auf lange Sicht wettbewerbsbetonte Notwendigkeit, dauerhaft seine Macht vor zukünftigem Verlust zu sichern. Das ist eine sehr reale und begründete Angst. Die „Verteidigung“ ist also eine elitäre Selbsterhaltung der Oberschicht und demnach häufig moralisch in seiner wahren Form vor der Öffentlichkeit nicht rechtfertigbar, also werden stattdessen diese Tricks benutzt, um die öffentliche Einwilligung zu bekommen.404 Der Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen schrieb 1917 in seinem berühmten Werk „Eine Abhandlung über die Natur von Frieden und die Bedingungen der Fortführung“ zum Thema der öffentlichen Überzeugung: „Jede kriegsähnliche 400

Charakteristisch für staatskontrollierte Medien sind Medien, die durch die Finanzierung der Regierung produziert werden. Dies ist heute immer noch häufig in der Welt vorzufinden und oft mit Staatspropaganda verbunden. In den USA hat sich eine ähnliche jedoch subtilere Form entwickelt - etwas das wir UnternehmensStaatskontrollierte Medien nennen könnten. 401 Ehemaliger US Berater für Nationale Sicherheit Zbigniew Brzezinski hat das gut verstanden und hat in seinem berühmten Werk: „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ geschrieben: „Die Einstellung der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber der nach außen getragenen amerikanischen Macht wurde immer zwiespältiger. Die Öffentlichkeit unterstützte Amerikas Eingriff in den 2. Weltkrieg zum größten Teil aufgrund des Schock-Effekts nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor. „(Basic Books Publishing, 1998, pp. 24-5) “ ... während Amerika eine immer multi-kulturellere Gesellschaft wird, wird sie es schwierig finden einen Konsens in der Außenpolitik zu finden, außer in dem Fall, dass eine gewaltige und weitläufig wahrgenommene äußere Bedrohung wahrgenommen wird (Basic Books Publishing, 1998, p.211) 402 Der Begriff Paternalismus wird wie folgt definiert: „Mit Paternalismus (von lat. pater = „Vater“) wird eine Herrschaftsordnung beschrieben, die im außerfamiliären Bereich ihre Autorität und Herrschaftslegitimierung auf eine vormundschaftliche Beziehung zwischen Herrscher/Herrschern und den Herrschaftsunterworfenen begründet.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Paternalismus Der Begriff „staatlicher Paternalismus“ beschreibt das „Bestreben [eines Staates], andere [Staaten] zu bevormunden, zu gängeln“ http://www.duden.de/rechtschreibung/Paternalismus 403 In der modernen Welt wird der Begriff „Präventivkrieg“ oft benutzt, um eine aggressive Handlung zu rechtfertigen. Mit der Begründung, dass es ja eine Verteidigung gegen einen kommenden Angriff des Ziels ist. 404 Ehemaliger US Berater für Nationale Sicherheit Zbigniew Brzezinski drückt diese „paternalistische Verteidigung“ deutlich in seinem Werk „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ aus. Er schrieb über die Notwendigkeit die Welt in der Kontrolle Amerikas zu halten folgendes: „Amerika ist jetzt die einzige weltweite Supermacht und Eurasien die weltweit wichtigste Arena. Demnach wird das, was mit der Machtverteilung auf dem eurasischem Kontinent passiert von entscheidender Bedeutung für Amerikas weltweite Vorherschaft und historisches Erbe sein. “ (Basic Books Publishing, 1998, p.194) „Um es in die Terminologie der Imperien der brutaleren Vergangenheit zu setzen: Die drei großen Leitbilder der imperialen Geostrategie sind es Zusammenschlüsse zu vermeiden und Sicherheitsabhängigkeit unter den Vasallenstaaten aufrecht zu erhalten, Nachschübe zu schützen und flüssig zu halten, und die Barbaren daran hindern zusammen zu kommen.“ (ebd., p40) „Demnach müssen die Vereinigten Staaten von Amerika sich etwas einfallen lassen, wie sie mit den regionalen Koalitionen umgehen, die versuchen Amerika aus Eurasien zu vertreiben und demnach Amerikas Status als Supermacht gefährden.“ (ebd., p.55)

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Unternehmung, die unternommen werden soll, muss die moralische Befürwortung der Gemeinschaft oder einer effektiven Mehrheit in der Gemeinschaft haben. Es wird folglich das erste Anliegen des kriegsführenden Staatsmannes sein, diese moralische Kraft für das Abendteuer, zu welchem er neigt, in Bewegung zu setzen. Es gibt zwei Hauptmotivatoren: [...] Die Erhaltung oder Erweiterung des materiellen Interesses der Gemeinschaft (real oder künstlich) und die Verteidigung der Nationallehre. Zudem sollte vielleicht noch ein dritter erwähnt werden: Die Erweiterung und Fortführung der Kultur der Nation.“405 Der letzte Punkt „die Fortführung der Kultur der Nation“ wird am besten durch die häufige moderne westliche imperiale Behauptung der Verbreitung von „Freiheit und Demokratie“ dargestellt. Diese Behauptung nimmt eine paternale Position ein, mit der die Idee postuliert wird, dass das aktuelle politische Klima einer Zielregion einfach zu inhuman ist und die Intervention, um den Bürgern zu „helfen“, eine „moralische Notwendigkeit“ wird. Veblen führt weiter aus: „All der Patriotismus wird als Weg und Kriegstreiberei unter kompetenter Verwaltung dienen, auch wenn [die Menschen] für gewöhnlich nicht zu solch kriegerischer Stimmung neigen. Unter guter Verwaltung kann das gewöhnliche patriotische Gefühl für das Kriegsabendteuer durch jede vernünftige, geschickte und zielgerichtete Zusammenkunft von Staatsmännern mobilisiert werden. Davon gibt es zahlreiche Beispiele.“406 „ [...] Man kann [ebenso] ohne Probleme verallgemeinern, dass wenn die Feindseligkeiten schon stark durch den ambitionierten Staatsmann angefacht worden sind, so kann man sich auf die Nation verlassen, die Unternehmung zu unterstützen, unabhängig von dem Wert dieses Konflikts.“407 In den USA ist der Spruch „Ich bin gegen den Krieg aber unterstützte die Soldaten“408 häufig unter denen anzufinden, die den Konflikt selbst verabscheuen, aber immer noch als respektvoll gegenüber ihrem Land erscheinen möchten. Dieser Spruch ist interessant, da er eigentlich irrational ist. Um logischerweise die „Soldaten zu unterstützen“ würde bedeuten, die Rolle eines „Soldaten“ zu unterstützen, demnach auch die Handlungen, die von dieser Rolle verlangt werden. Die implizierte Andeutung ist hier natürlich, dass man die Notwendigkeit des Krieges unterstützt und demnach die Männer und Frauen in den Streitkräften unterstützt, die dieser Notwendigkeit nachkommen. Die Aussage selbst ist jedoch vollkommen widersprüchlich und existiert als eine Form des „Doppeldenkens“409, da die Ablehnung des Krieges heißt, man müsste die Handlungen derer ablehnen, die an ihm mitmachen. Es ist ähnlich so, als würde man sagen: „Ich bin gegen den Menschen tötenden Krebstumor, aber ich unterstütze das Recht des Krebstumors zu leben.“ Die bewaffneten Streitkräfte wurden historisch von der Öffentlichkeit immer hoch respektiert und das wird weiterhin von der Regierung glorifiziert bis zu dem Punkt, an 405

„Eine Abhandlung über die Natur von Frieden und die Bedingungen der Fortführung“, Thorstein Veblen, Echo Library, 1917 p.16 406 ebd. p.7 407 ebd. p.16 408 Referenz: Can You Support the Troops but Not the War? Troops Respond [http://www.huffingtonpost.com/paul-rieckhoff/can-you-support-the-troopb26192.html] 409 Doppeldenk (engl. doublethink; in älteren Übersetzungen: Zwiedenken) ist ein Neusprech-Begriff aus dem dystopischen Roman 1984 von George Orwell und beinhaltet die Fähigkeit, in seinem Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren. http://de.wikipedia.org/wiki/Doppeldenk

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dem die „Ehre“ ein irrationales Eigenleben entwickelt. Tatsächlich wird es sogar psychologisch durch eine eingebaute Zeremonialisierung verstärkt. Ehre wird durch Auszeichnungen, Medaillen, Paraden, Gesten des Respekts und weitere Lobpreisungen formalisiert, die die Öffentlichkeit beeindrucken sollen hinsichtlich des vermeintlichen Wertes der Handlungen der Soldaten und demnach der Institution des Krieges. Das verstärkt weiterhin das kulturelle Tabu, bei dem die Kritik an irgendeinem Element des Kriegsapparates als Respektlosigkeit gegenüber den Opfern der Streitkräfte gesehen wird. Vom Standpunkt des echten Schutzes und der Problemlösung aus, wie ein „ehrenhafter“ Feuerwehrmann, der ein Kind aus einem brennenden Gebäude rettet, ist die Bewunderung berechtigt. Die selbstlose, altruistische Handlung, sein eigenes Leben zu riskieren, um andere zu retten, ist natürlich eine ehrenhafte Tat. Im Kontext des historischen Krieges jedoch rechtfertigt der persönliche Altruismus des Soldaten nicht die seine vielen Handlungen nationaler und imperialer Aggression - egal wie gut die Absichten der Soldaten sein mögen. Weiterhin erzeugt diese angst-orientierte Machterhaltung durch den etablierten Regierungsapparat natürlich auch einen „Neben-Krieg“ gegen die einheimischen Bürger selbst, welcher in Zeiten des Krieges oft verstärkt wird. Diejenigen, die den nationalen Konflikt kritisieren oder sich diesem entgegenstellen, wurden in der Vergangenheit immer mit direkter Unterdrückung, kulturellen Ausschreitungen und auch mit öffentlicher Feindseligkeit begegnet. Die häufigen und unklaren Rechtsverstöße des „Verrats“410 und der „Aufhetzung“411 sind historische Beispiele dessen. Zusätzlich zu dem Trend der Einschränkung der Rechte der Bürger in Zeiten des Krieges, manchmal sogar auch der Meinungsfreiheit.412 Gesellschaftlich wird der Begriff „Patriotismus“ so oft eingesetzt, dass diejenigen, die den Krieg nicht unterstützen, oft abgewiesen werden, da sie demnach nicht die Bürger unterstützen, wodurch sie entfremdet werden. In letzter Zeit wurden die, die gegen den Krieg sind und vielleicht sogar bei Protestaktionen gegen ihn mitgemacht haben, durch den Staat als „Terroristen" bezeichnet.413 Eine starke Anschuldigung mit enormen gesetzlichen Konsequenzen, wenn die Autoritäten diese als wahr bestätigen. Dieser „Neben-krieg“ kann jedoch in einen noch tieferen Mechanismus zerlegt werden - etwas, das man eine Art Gesellschaftskontrolle in Unterstützung der imperialen Absicht nennen könnte. In vielen Ländern wird heute entweder durch Zwang von der Geburt an414 oder durch Überredungskunst hin zu gesetzlich 410

Definition von „(Hoch-)Verrat“: „Verbrechen gegen den inneren Bestand oder die verfassungsmäßige Ordnung eines Staates“ http://www.duden.de/rechtschreibung/Hochverrat 411 Definition von „Aufhetzung“: „das Aufhetzen des Volks durch demagogische Reden o. Ä.“ http://www.duden.de/rechtschreibung/Volksverhetzung 412 Von den japanisch-amerikanischen Internierungslagern, die über 127000 US Bürger gefangen nahmen, [http://www.ushistory.org/us/51e.asp] bis zu der Auflösung der Bürgerrechte wie dem „Habeas Corpus“, [http://www.salon.com/2009/04/11/bagram3/] bis hin zu der Verhaftung wegen freier Meinungsäußerung, [http://www.history.com/this-day-in-history/us-congress-passes-sedition-act] Rechteverletzungen zu Kriegszeiten waren die Norm. 413 Ein aktuelles Beispiel dessen war die „Occupy Bewegung“, die, wie später bekanntgegeben wurde, als eine mögliche Gruppe von Terroristen durch das FBI eingestuft wurde. [http://www.justiceonline.org/commentary/fbifiles-ows.html] 414 Beispielsweise Israel erzwingt eine nahezu vollständige Wehrpflicht seiner Bürger [http://www.aljazeera.com/news/middleeast/2012/07/20127853118591495.html]

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bindenden Verträgen415 auf vielen Ebenen manipulativer Druck bzw. die Motivation erzeugt, der Bundeswehr beizutreten. Werbestrategien wie „Geld für das Studium“ oder „persönliche Errungenschaften“ sind geläufig. Dadurch werden natürlich die unteren Ränge der wirtschaftlichen Hierarchie angesprochen.416 Die USA haben zu einigen Zeiten jährlich Milliarden ($4.7 Milliarden im Jahr 2009) für weltweite Öffentlichkeitsarbeit, um das Bild in der Öffentlichkeit über die Rekrutierung zu verbessern, ausgegeben.417 Imperialer Krieg: Ursprung Wenn die traditionellen, propagierten Illusionen zur Verteidigung des organisierten menschlichen Mordens und Ressourcendiebstahls überwunden worden sind und ihre oberflächlichen Rechtfertigungen wie bevormundender Patriotismus, Ehre und Protektionismus beiseite gelegt worden sind, so sehen wir, dass Krieg heute eine Eigenschaft des eigentumsorientierten und knappheitsgetriebenen Geschäftssystems ist. Es wäre falsch zu sagen, Krieg sei ein Produkt des Kapitalismus selbst, da es Krieg lange vor dem Kapitalismus gab. Wenn wir die Annahmen selbst jedoch auseinandernehmen, sehen wir, dass Krieg tatsächlich eine zentrale unveränderbare Eigenschaft des Kapitalismus ist, da es lediglich eine fortgeschrittene Manifestierung der selben trennenden, wettbewerbsbetonten, veralteten Werte und Praktiken ist. Genauso wie ein Unternehmen mit anderen Unternehmen derselben Branche um Einkommen zum Überleben konkurriert, wobei letztendlich das Monopol oder Kartell ersucht wird (wenn möglich), so sind alle Regierungen der Erde grundlegend in der selben Form des Überlebens verankert. Um die USA hier als Fallstudie zu nehmen: 2011 hat dieses Land ungefähr 2.3 Billionen US$ an Einkommenssteuern allein erhalten.418 Diese Einnahmen sind wichtig für die Funktion von dem, was man tatsächlich die Geschäftsinstitution „USA“ nennen kann. Genauso wie die jährlichen Gewinne von Microsoft dessen Funktion beeinflussen. Die USA sind in Wahrheit ein Unternehmen in ihrer Form und Funktion. Mit all ihren registrierten Unternehmen, die in ihrem heimischen gesetzlichen Netz existieren und als Töchterunternehmen dieser Mutterinstitution bezeichnet werden können, die wir traditionell die „US Regierung“ nennen. Demnach müssen alle Handlungen der US Regierung, ebenso die der konkurrierenden Regierungen in der Welt, natürlich einen starken Geschäftssinn in ihrer Funktion unterstützen. Was jedoch dieses „Mutterunternehmen“ (USA) von seinen Töchterunternehmen (Unternehmen) unterscheidet, ist das Maß der Möglichkeiten, in welchem sie sich selbst erhalten können und einen Wettbewerbsvorteil wahren. Die Notwendigkeit, die Hauptantriebe der Wirtschaft zu erhalten, ist wesentlich und ein kurzer Blick auf die Geschichte der USA bezüglich der Frage, wie sie in der Lage waren den Status als „Weltmacht“ zu erlangen und zu halten, zeigt diesen Geschäftssinn deutlich. Die Manifestierung davon ist im Prinzip kaum von einem bestimmten Unternehmen zu unterscheiden, welches ein Geschäftsmonopol errichten möchte. Nur dass in diesem Fall dieses weltweite 415

Referenz: Why Is Getting Out of the U.S. Army So Tough? [http://nation.time.com/2012/05/04/why-is-gettingout-of-the- u-s-army-so-tough/] 416 Referenz: Military recruiters target isolated, depressed areas [http://seattletimes.com/html/nationworld/2002612542recruits09.html] 417 Quelle: Pentagon Spending Billions on PR to Sway World Opinion [http://www.foxnews.com/politics/2009/02/05/pentagon-spending-billions-pr-sway-world-opinion/] 418 Quelle: Federal Revenues by Source [http://www.heritage.org/federalbudget/federal-revenue-sources]

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Monopol („Imperium" /Weltmacht) nicht durch gesetzliche Richtlinien beschränkt wird, wie das häufig bei inländischen gesetzlichen Richtlinien der Fall ist. Hier wird es mit Gewalt zum Schauplatz eines imperialen Krieges. Tatsächlich ist es interessant genug (aber nicht unerwartet), dass der Akt der Selbsterhaltung durch das Militär selbst zu einem starken lukrativen Geschäft geworden ist, welches oft den wirtschaftlichen Zustand der Nation und demnach die Profite der unternehmerischen Bestandteile verbessert. Heute können wir diese wirtschaftlichen Vorteile auf die massiven Militärausgaben419,420 zusätzlich zum Wiederaufbau der Kriegsgebiete durch die kommerziellen Töchterunternehmen des Eroberstaats ausweiten.421 Hinzu kommt das langsame Zerschreddern der Integrität eines Landes durch Handelstarife, Sanktionen und Schuldenauferlegung, um die Bevölkerung zum Vorteil der transnationalen Industrien zu unterdrücken422 423 und viele weitere moderne Konventionen dieses „Wirtschaftskriegs“. Diese Thematik wurde wahrscheinlich am besten von einem von Amerikas am meisten ausgezeichnetem Armeeoffiziere des 20. Jahrhunderts ausgedrückt: Major General Smedley D. Butler. Butler424 war der Autor seines berühmten, nach dem zweiten Weltkrieg veröffentlichten Buches „War is a Racket“ (zu dt. etwa „Der Krieg ist eine Gaunerei“). Er schrieb bezüglich dem Geschäft des Krieges folgendes: „Krieg ist Gaunerei. Er war es schon immer. Es ist wohl die älteste, locker die profitabelste und sicherlich die bösartigste. Es ist die einzige mit internationalem Ausmaß. Es ist die einzige in denen die Profite in Dollar und die Verluste in Leben gezählt werden.“425 Er schrieb 1935 ebenso: „Ich habe 33 Jahre und vier Monate im aktiven Militärdienst verbracht. Während dieser Zeit habe ich zum größten Teil als hohes Tier für das große Geschäft, für Wallstreet und die Bänker, gearbeitet. Kurz gesagt war ich ein Gauner, ein Gangster des Kapitalismus. 1914 habe ich daran mitgeholfen Mexiko und besonders Tampico sicher für amerikanische Ölinteressen zu machen. Ich habe geholfen, dass Haiti und Kuba gute Orte für die City-Bank Jungs werden, um Umsatz zu machen. Ich half bei der Vergewaltigung von einem halben Dutzend mittelamerikanischer Republiken zum Vorteil der Wall Street. Ich half 1902 bis 1912 bei der Säuberung Nicaraguas für das internationale Bankenhaus der Brüder Brown. Ich entdeckte 1916 die Dominikanische Republik für die amerikanischen Zuckerinteressen. Ich half 1903 dabei Honduras reif für amerikanische Obstunternehmen zu machen. 1927 half ich dabei, dass Standard Oil ungestört in China weitermachen konnte. Wenn ich es im Nachhinein betrachte, hätte ich Al

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Referenz: The 25 Most Vicious Iraq War Profiteers [http://www.businesspundit.com/the-25-most-vicious-iraqwar- profiteers] 420 Referenz: Ten Companies Profiting Most from War [http://247wallst.com/2012/02/28/ten-companies-profitingmost-from- war/] 421 Referenz: Advocates of War Now Profit From Iraq's Reconstruction [http://articles.latimes.com/2004/jul/14/nation/na- advocates14] 422 Referenz: Deadly Sanctions Regime: Economic Warfare against Iran [http://www.globalresearch.ca/deadlysanctions- regime-economic-warfare-against-iran/5305921] 423 Referenz: Confessions of an Economic Hit Man: How the U.S. Uses Globalization to Cheat Poor Countries Out of Trillions [http://www.democracynow.org/2004/11/9/confessionsofaneconomichitman] 424 Referenz: Banana Wars: Major General Smedley Butler [http://militaryhistory.about.com/od/1900s/p/BananaWars-Major-General-Smedley-Butler.htm] 425 War is a Racket, Smedley D. Butler, William H Huff Publishing, 1935, Chapter 1, p.1 425 (leer)***

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Capone ein paar Tipps geben sollen. Das beste was er konnte, war seine Gaunerei in 3 Distrikten durchzuführen. Ich führte sie auf 3 Kontinenten durch.“426 John A. Hobsons (1858-1940) monumentales Werk „Imperialismus: Eine Studie“ beschreibt die Tendenz als einen „gesellschaftlich parasitären Prozess, durch den die Finanzinteressen innerhalb eines Staats alle Zügel der Regierung an sich reißen, was zu einer imperialen Ausweitung führt, um wirtschaftliche Blutsauger schneller in ausländische Körper eindringen zu lassen, wodurch dessen Reichtum abgesaugt wird, um den heimischen Luxus zu unterhalten.“427 Viele würden solche Handlungen nun als Form der „Korruption“ ansehen, jedoch ist diese Begründung in weiter Perspektive schwierig zu rechtfertigen. Das ethische und moralische Argument der „Fairness“ und „Unfairness“ hat keine überzeugende Integrität innerhalb der systematischen Rahmenbedingungen des Kapitalismus. Das ist einer der unglücklichen Interpretationsfehler von denen, die aktiv am „Weltfrieden“ oder an „Anti-Kriegs“ Bewegungen arbeiten, aber dennoch das wettbewerbsbetonte Marktmodell verteidigen. In anderen Worten: Der „Weltfrieden“ scheint einfach keine Option im aktuell-akzeptierten Modell der Wirtschaftspraktik zu sein. Jeder Schritt in der Umsetzung des weltweiten Kapitalismus nach der europäischen Vorlage, war mit enormer Gewalt, Ausnutzung und Unterdrückung verbunden. Europäischer Kolonialismus,428 das Fangen von afrikanischen „Sklaven“ aus Eigennutzen und zum Handeln, die erzwungene Unterdrückung unzähliger Menschen in den Kolonien, die Einrichtung privilegierter Schutzgebieten und Macht für die vielen von der Regierung erschaffenen oder von ihr geschützten Unternehmen, beschreiben nur die Oberfläche des tatsächlichen Charakters dieses „Kriegssystems“ ab. Thorstein Veblen schrieb 1917 in direkter Verbindung mit dem, was er „pekuniäre“ oder monetäre Grundlage des Krieges nannte: „Im Verlauf der Argumentation zeigt sich, dass die Erhaltung des aktuellen monetären Gesetzes und der Ordnung, mit all seinen Fällen von Eigentum und Investition, inkompatibel mit einem nichtkriegsführendem Staat des Friedens und der Sicherheit ist. Dieses aktuelle Schema von Investitionen, Geschäften und [industrieller] Sabotage hat auf lange Sicht bessere Überlebenschancen, wenn heutige Bedingungen der Kriegsvorbereitung und nationaler „Unsicherheit“ erhalten werden oder wenn der prognostizierte Frieden in einem problematischen Zustand ist. Unsicher genug, um die nationalen Feinde wachsam zu halten [...]“.429 „Also wenn genügend der Prognostizierer dieses Friedens ebendiesen hoffentlich dauerhaft ermöglichen wollen, so sollte es unweigerlich Teil deren Bestrebens sein, von vorneherein Ereignisse in Kraft zu setzen, die die aktuellen Eigentumsrechte und Rechte des Preissystems unterdrücken und letztendlich aufheben.“430 Weitere Indizien dessen können in den modernen Formen der indirekten Gewalt gefunden werden. Diese beinhalten Ansätze „wirtschaftlicher Kriegsführungs“, die als 426

Originally in Common Sense, 1935. Reproduced in Hans Schmidt's Maverick Marine: General Smedley D. Butler and the Contradictions of American Military History. University Press of Kentucky, 1998 p.231 427 Imperialism: A Study, J.A. Hobson, University of Michigan Press, Ann Arbor, 1965, p.367 428 Referenz: Western Colonialism defined: [http://www.britannica.com/EBchecked/topic/126237/colonialismWestern] 429 „Eine Abhandlung über die Natur von Frieden und die Bedingungen der Fortführung“, Thorstein Veblen, B.W. Hubsch, 1917 pp.366- 367 430 ebd., p.367

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kompletter Gewaltakt selbst dienen können oder als Teil eines Einleitungsverfahrens für traditionelle Militärhandlungen. Beispiele beinhalten Handelstarife, Sanktionen, Schuldenauferlegung und viele weitere weniger bekannte, geheime Methoden, um ein Land zu schwächen.431 Internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der IMF werden von gewaltigen Staats- und demnach Geschäftsinteresse geleitet und haben die Macht Schulden zuzuweisen, um leidende Länder zu retten. Das passiert auf Kosten der Lebensqualität der Bürger, oft mit der Inbesitznahme der natürlichen Ressourcen oder Industrien durch ausgewählte Privatisierung oder weitere Mittel, die die Funktion eines Landes schwächen können, sodass es auf andere angewiesen ist - oft zum Vorteil der außenstehenden kommerziellen Interessen.432 Das ist einfach eine verdecktere Form der Unterdrückung, wie es beispielsweise bei der britischen Imperiumsausweitung durch die „East India Company“ geschehen ist die kommerzielle Macht, die die neu eroberten regionalen Ressourcen und Arbeitskräfte im 17. Jahrhundert in Asien ausgebeutet haben.433 Die amerikanische Imperiumsausweitung kam jedoch - anders als die Britische - nicht nur durch militärische Handlungen alleine zustande, auch wenn ihre Präsenz selbst heute immer noch enorm ist.434 Stattdessen kam diese Imperiumsausweitung durch die Nutzung komplexer Wirtschaftsstrategien zustande, die andere Länder in die Unterwerfung zu US Wirtschafts- und Geowirtschaftlichen Interessen neu positionierte.435 Klassenkrieg: tief-verwurzelte Psychologie Fahren wir mit dem „Klassenkrieg“ fort. Dieses Phänomen wurde jahrhundertelang in historischer Literatur beschrieben. Zum Teil basierend auf Annahmen der menschlichen Natur, zum Teil auf Annahmen der nicht vorhandenen Kapazität der Erde, Produktionsmittel jedermanns Bedürfnis zu stillen, und zum Teil durch die wichtigere Erkenntnis, dass das System des Marktkapitalismus unweigerlich Klassenteilung und Ungleichgewichte zur Folge hat, aufgrund der innewohnenden sowohl strukturellen als auch psychologischen Mechanismen. David Ricardos Aussage (einer der Mitwirker zur freien Marktwirtschaft), dass „Wenn Löhne steigen sollten [...] dann [...] würden Profite gezwungenermaßen sinken“,436 ist eine einfache Anerkennung der durch die Struktur bedingten, garantierten Klassenkonflikte, da die Löhne sich auf die untere „Arbeiterklasse“ beziehen und die Profite auf die obere „Kapitalistenklasse“. Wenn einer gewinnt, verliert der andere. Gleichermaßen hat selbst Adam Smith in seinem kanonischen „Wohlstand der 431

Referenz: Our Economic Warfare [http://www.foreignaffairs.com/articles/70162/percy-w-bidwell/our-economicwarfare] 432 Wie von den Untersuchungen des STWR über die Weltbank herausgefunden wurde: „In den meisten der Kunden-Länder ist dies nahezu der einzige Weg Zugang zu internationalen Handel, Finanzentwicklung und privatem Investitionskapital zu bekommen. Es leitet seine Macht und Richtlinien von den reichst Aktionären ab -Regierungen, die die G7 ausmachen ... die routinehaft die Bank nutzen, um lukrativen Handel und Investitionsdeals in Entwicklungsländern für die jeweiligen transnationalen Unternehmen sicher zu stellen.“ Referenz: IMF, World Bank & Trade [http://www.stwr.org/imf-world-bank-trade/corporate-power-and-influence-inthe-world-bank.html] 433 Referenz: East India Company [http://www.britannica.com/EBchecked/topic/176643/East-India-Company] 434 Seit 2011 ist das US Militär in über 140 Ländern stationiert. Mit ungefähr 660+ Basen. Referenz: http://www.politifact.com/truth-o-meter/statements/2011/sep/14/ron-paul/ron-paul-says-us-has-military-personnel130-nation/ 435 Referenz: Why the Developing World Hates the World Bank [http://tech.mit.edu/V122/N11/col11parek.11c.html] 436 „Principles of Political Economy and Taxation“ (dt. Politische Ökonomie und Besteuerung)

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Nationen“ die Art der Machterhaltung auf der Verhaltensebene (psychologisch) ausgedrückt: „Die Zivilregierung, so wie sie für die Sicherheit von Eigentum gegründet wurde, ist in der Realität die Verteidigung der Reichen gegen die Armen, oder von denen die einiges an Eigentum haben gegen die, die gar keins haben.“437 Jedoch scheint die tatsächliche Nutzung der Regierung zum Zweck der Ober- oder Geschäftsklasse sturer Weise von Smith, Ricardo und sogar vielen heutigen Ökonomen ignoriert zu werden, denen es scheinbar nicht möglich ist bzw. die unwillig sind, heutige Ereignisse in Betracht zu ziehen. Selbst die engagiertesten, laissez-faire Marktökonomen drücken immer noch die Notwendigkeit einer Regierung und seines Rechtsapparats aus mit der Funktion eines „Schiedsrichters“, um das Spiel „fair“ zu halten. Begriffe wie „Vetternwirtschaft“ (Crony Capitalism) werden oft unter der Annahme benutzt, dass eine „Kollusion“ (geheime Absprache) zwischen Regierungsabgeordneten und den scheinbar getrennten Unternehmensinstitutionen eine unethische oder „kriminelle“ Handlung wären. Jedoch ist es, wie zuvor erwähnt, unlogisch anzunehmen, dass die Art der Regierung im Kern etwas anderes ist als ein Mittel, um die Unternehmen zu unterstützen, die den Reichtum eines Landes ausmachen. Der Geschäftsapparat ist in Wirklichkeit die Nation in technischer Form, trotz der oberflächlichen Behauptung, dass ein „demokratisches“ Land auf den Interessen der Bürger selbst basiert. Tatsächlich könnte man sogar argumentieren, dass keine Regierung in der aufgezeichneten Geschichte jemals den Bürgern einen rechtmäßigen Platz in der Regierung oder Gesetzgebung gegeben hat. Innerhalb des Kontext des Kapitalismus, der immer noch eine Manifestierung von jahrhundertealten Werten und Annahmen ist mit klarer Tendenz zum Elitismus, so ist es interessant, wie der Mythos der „Demokratie“ sich selbst in der heutigen Welt erhält. Um diesen Punkt weiter auszubauen: Einer der Gründerväter der US amerikanischen Verfassung, James Madison, drückte seine Bedenken bezüglich der Notwendigkeit, die politische Macht der unteren Klassen zu unterdrücken, aus. Er schrieb: „Wenn heute in England die Wahlen für alle Klassen frei wären, so würde der Besitz der Landbesitzer unsicher sein. Ein Ackergesetz würde bald erlassen. Wenn diese Annahme korrekt ist, würde die Regierung nicht länger die Interessen der ländlichen gegen neue Innovationen schützen. Landbesitzer müssen einen Anteil in der Regierung haben, um ihre wertvollen Interessen zu unterhalten sowie zu schützen und um mit den anderen im Ausgleich zu sein, sowie sie zu kontrollieren. Sie müssen so konstituiert sein, dass sie die Minderheit der Reichen von der Mehrheit schützen. Der Senat müsste demnach dieser Aufgabe nachkommen; und, um diese Zwecke zu erfüllen, muss er Dauerhaftigkeit und Stabilität besitzen.“438 Wenn wir also mit dem Bewusstsein anfangen, dass die Idee der weltweiten „Demokratie“ stark durch das kapitalistische Anreizsystem gehemmt wird, dass versucht Macht auf der Staatsebene zu erhalten, um der Oberklasse politische und demnach finanzielle Macht zu erhalten, so zeigt sich ein deutlicheres Bild wie tief dieser Klassenkrieg eigentlich geht. Wahrscheinlich der bemerkenswerte Aspekte ist, dass die Mechanismen der Klassenteilung in unserem Alltagsleben zwar existieren, aber unentdeckt bleiben, da sie strukturell in den Finanz-, politischen- und Rechtsapparat eingebaut sind. 437 438

„Der Wohlstand der Nationen“, Adam Smith, 1776, par. V.1.2 Notes of the Secret Debates of the Federal Convention of 1787, Robert Yates, Alston Mygatt, p.183

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Klassenkrieg: Strukturelle Mechanismen In der modernen Welt, in der 1% der Weltbevölkerung 40% des weltweiten Reichtums besitzt,439 sehen wir, dass sowohl in der Systemstruktur als auch in der Anreizpsychologie starke Mechanismen existieren, die zu diesen extrem unverhältnismäßigen Reichtumsungleichgewichten führen, sie erhalten und sogar beschleunigen. Natürlich bedeutet es in einer Welt, in der alles auf einer finanziellen Basis aufbaut, dass großer Reichtum großer Macht entspricht. Demnach ermöglicht diese Macht eine robustere Strategie für wettbewerbsbetonten Gewinn und zur Selbsterhaltung und folglich hat sich diese Macht auch in die Struktur des Gesellschaftssystems selbst weiterentwickelt. Dadurch ist der Reichtum der Oberklasse ohne große Anstrengungen gesichert, während die unteren Klassen enorme strukturelle Barrieren überwinden müssen, um irgendeine Ebene der finanziellen Sicherheit erreichen zu können. Einige Mechanismen dieser Klassenkrieg-Unterdrückung sind ziemlich offensichtlich. Beispielsweise die Diskussion über die Besteuerung und wie es eine historische Bevorteilung der reichen Unternehmer gegenüber den armen Arbeitern gab.440 Dies kommt durch die Argumentation zustande, dass die Reichen zugleich die „Eigentumsklasse“ darstellen und daher mehr finanzielle Freiheiten zur Erzeugung von Arbeitsplätzen bekommen sollen.441 Nebenbei gesagt, ist es einfach zu sehen, wie wenig Wahrheit tatsächlich in diesem einseitigen Argument steckt, da durch den finanziellen Druck durch Steuern die Kaufkraft der Bevölkerung – und damit wirtschaftliches Wachstum – stärker beschränkt wird als die Beschneidung des exzessivem Reichtums der Reichen.442 Die einzige Ausnahme diesbezüglich, die das Argument der Reichen als „Arbeitsplätzeerzeuger" überschreitet, ist das Aufkommen einer Plutonomie, die am Ende dieses Kapitels erläutert wird. Abgesehen von den klassenbegünstigenden Besteuerungen existieren vier weitere wichtigere strukturelle Faktoren, die hier diskutiert werden müssen: (a) Schulden, (b) Zinsen, (c) Inflation und (d) Einkommensungleichheit. (a) Schulden sind eine falsch verstandene Gesellschaftspraktik, da die meisten annehmen, Schulden wären in der heutigen Gesellschaft lediglich eine von vielen Möglichkeiten oder Optionen. In Wirklichkeit basiert das gesamte Finanzsystem buchstäblich auf Schulden. Alles Geld wird in der modernen Wirtschaft durch Kredite erzeugt, die von Zentral- oder Geschäftsbanken herausgegeben werden, die Geld lediglich aus der Nachfrage selbst erzeugen.443 Dieser grundlegende Mechanismus der Gelderzeugung ist eine mächtige Kraft der wirtschaftlichen Unterdrückung. Die Schulden der Privathaushalte bestehen aus Krediten von Kreditkarten, Hauskrediten, Autokrediten und Studien-/Bildungskrediten. Dadurch stecken die niedrigeren Klassen von Natur aus in Verbraucherschulden als die höheren, da die Unfähigkeit, soziale Grundgüter (Auto oder Haus) zu bezahlen, sie dazu zwingt, Bankkredite aufzunehmen. 439

Referenz: One percent holds 39 percent of global wealth [http://www.rawstory.com/rs/2011/05/31/one-percentholds-39-percent-of-global-wealth/] 440 Referenz: Poor Americans Pay Double The State, Local Tax Rates Of Top One Percent [http://www.huffingtonpost.com/2012/09/21/poor-americans-state-local-taxesn1903993.html] 441 Referenz: Don't Tax the Job Creators [http://www.cnbc.com/id/48290347/Don039tTaxtheJobCreatorsRomney] 442 Referenz: Private Debt Kills the Economy [http://www.globalresearch.ca/private-debt-kills-theeconomy/5303842] 443 Für eine detallierte Beschreibung des Geldschöfungsprozesses siehe: Modern Money Mechanics, Federal Reserve Bank of Chicago, 1961

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Das Ergebnis ist, dass der Schuldendruck dauerhaft auf den Schultern der großen Mehrheit lastet. 444,445,446 Natürlich sind die Löhne und Einkommensraten allgemein so niedrig wie möglich, um das vorherrschende kapitalistische Ethos der Kosteneffizienz zu unterstützen, auf dem die gesamte Gesellschaft konstruiert wurde. So zeigt sich, dass die Löhne der durchschnittlichen Arbeiter nur die grundlegenden Kreditzahlungen ermöglichen, zur Deckung der Grund- und Überlebensbedürfnisse. Demnach ist ein „auf der Stelle treten“ nahezu allgegenwertig und die soziale Mobilität – speziell die Möglichkeit, in der Klassenhierarchie aufzusteigen - stark behindert, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten sich von allen Schulden jemals befreien zu können.447 (b) Zinsen: Verbunden mit den Schulden ist die Profiteigenschaft, die mit dem Verkauf von Geld selbst zusammenhängt. Da die kapitalistische Marktwirtschaft generell die Kommerzialisierung von nahezu allem unterstützt, ist es keine Überraschung, dass Geld selbst durch den Verkauf mit dem Zweck des Profites erzeugt wird. Das geschieht in Form des Zinses. Ob es nun eine Zentralbank ist, die Geld im Austausch gegen Sicherheiten der Regierung erschafft oder eine Geschäftsbank, die einem normalen Bürger ein Hypothekendarlehen gewährt, Zinsgebühren sind fast immer zu entrichten. Wie in vorherigen Kapiteln erwähnt, erschafft dies eine Situation, in denen mehr Schulden erzeugt werden, als Geld im Umlauf ist, um diese zu bezahlen. Wenn ein Kredit gewährt wird, wird nur die so genannte „Grundmenge“ erzeugt. Die Geldmenge eines Landes besteht aus dieser „Grundmenge“, die den zusammengenommenen Wert alles aus Krediten stammenden Geldes (Gelderzeugung) widerspiegelt. Die Zinsgebühr andererseits existiert nicht. Das heißt, dass auf gesellschaftlicher Ebene, all die, die zinsbehaftete Kredite aufnehmen, Geld in der existierenden Geldmenge finden müssen, um diese zurückzuzahlen. Da alle Zinszahlungen von der Grundmenge entzogen werden, ist es eine logische mathematische Konsequenz, dass bestimmte Kredite nicht zurückgezahlt werden können. Es gibt einfach zu keinem Zeitpunkt genug Geld im System.448 Das Ergebnis ist ein starker abwärtsgerichteter Klassendruck auf die Schuldner, da es immer diese grundlegende Knappheit in der Geldmenge selbst gibt. Zusätzlich muss jeder, der versucht, seine Kredite zurückzuzahlen, sich der unabwendbaren Realität stellen, dass es stets jemanden geben wird, der die Kreditrückzahlung nicht erbringen kann. Der Bankrott ist daher ein typisches Phänomen bei denen, die „den Kürzeren ziehen“. Noch verstörender ist die Art, auf welche mit denen umgegangen wird, die unfähig sind, ihre Kredite zu bezahlen. Die Kreditverträge und 444

Referenz: U.S. Credit Card Debt Grows, Fewer Americans Make Payments On Time [http://www.huffingtonpost.com/2012/11/19/us-credit-card-debt-growsn2158010.html] 445 Referenz: Drowning In Medical Debt? Filing For Bankruptcy Could Be Your Life Raft [http://articles.businessinsider.com/2012-01-27/news/306697141bankruptcy-filers-medical-debt-credit-score] 446 Referenz: The Debt That Won't Go Away [http://www.cnbc.com/id/40680905] 447 Literaturempfehlung: http://www.theatlantic.com/business/archive/2013/01/the-american-household-is-diggingout-of- debt-in-the-worst-possible-way/272657/ 448 Ein häufiger Einwand gegen diese Analyse ist die Annahme, dass die Zinseinkünfte wieder in die Geldmenge durch Sparkonnten, Geldmarkteinlagen und andere Investitionen gespeist wird. Dabei wird angenommen, dass Geld während der Rückzahlung erzeugt wird. Das stimmt jedoch nicht. Zahlungen durch Zinseinkünfte werden durch die Profite der Finanzinstitutionen erzeugt. Diese Annahme verändert die Gleichung also nicht. Die für die Zahlung benötigte Zinsgebühr existiert einfach nicht in der Geldmenge.

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Rechtssysteme unterstützen die Macht der Banken, sodass sie einfach in Besitz nehmen, was der Schuldner nicht zahlen konnte.449 Wenn wir über diese Fähigkeit des „in Besitz nehmens“ nachdenken, ist es eigentlich eine Form des Diebstahls. Wenn es unabwendbar ist, dass jemand die Kreditrückzahlungsforderungen aufgrund der Knappheit in der Geldmenge nicht erfüllen kann, dann ist das Anhäufen von realem, physischen Eigentum der Banken aufgrund dieser vertraglich bedingten Inbesitznahme ebenso unabwendbar im Laufe der Zeit. Das bedeutet, dass Banken (die immer der Oberschicht gehören) Häuser, Autos und sonstiges Eigentum den unteren Klassen wegnehmen können, da das Geld – was sie aus dem Nichts in der Form eines Kredits geschaffen haben – nicht an sie zurückgezahlt wird. Das ist im Wesentlichen eine versteckte Form des physischen Reichtumstransfers von den unteren an die oberen Schichten. Um auf das Thema des Zinses zurückzukommen: Solche Tatsachen betreffen die oberen Schichten nur geringfügig. Sie haben es für gewöhnlich durch ihren Überschuss an Reichtum überhaupt nicht nötig Kredite aufzunehmen. Die Knappheit in der Geldmenge aufgrund der Zinsen lastet daher immer auf den Schultern der unteren Schichten. Gleichzeitig werden die Reichen weiter abgesichert, da sie Geld aus den Zinsen auf ihre Spareinlagen, Einlagenzertifikaten und weiterem beziehen. Damit wandelt sich die soziale Unterdrückung der Armen direkt zur Bevorteilung der Reichen um.450 (c) Inflation wird generell wie folgt definiert: „Inflation bezeichnet in der Volkswirtschaftslehre eine allgemeine Erhöhung der Güterpreise, die entsprechend das Absinken der Kaufkraft zur Folge hat.“451 Leider gibt diese Definition wenig Einsicht in die tatsächliche Kausalität. Auch wenn es viele Diskussionen über die Ursache von Inflation in verschiedenen wirtschaftlichen Schulen gegeben hat,452 so hat sich die „Quantitätstheorie“453 als die relevanteste herausgestellt. Kurz gesagt, erkennt diese Theorie, dass umso mehr Geld es in Zirkulation gibt, umso mehr Inflation gibt es (also steigende Preise). In anderen Worten: Wenn alles gleich bleibt und wir die Geldmenge verdoppeln, so würden sich die Preise auch verdoppeln etc. Das neue Geld verdünnt den Wert des existierenden Geldes in einer Art AngebotNachfrage-Wertetheorie. Die Konsequenz hiervon ist, was wir eine „versteckte Steuer“ nennen können, welche auf die Ersparnisse und festen Einkommen der Menschen anfällt. Nehmen wir einmal an, dass die Inflationsrate 3,5% pro Jahr beträgt. Wenn man $30,000 besitzt, wird man in 10 Jahren damit nur noch Produkte im Wert von ungefähr $21,000 kaufen können.454 Während es so scheint, als ob dies einen einheitlichen Effekt auf die 449

Nebenbei ist es interessant zu wissen, dass Banken, durch die der Kredit für den Kauf (wie bei einem Haus) zustande kommt, in der Lage sind den gesamten Besitz zu beschlagnahmen - unabhängig davon, wie viel vorher gezahlt wurde. Selbst wenn 99% des Kredits gezahlt worden ist, so können sie immer noch 100% des Besitzes beschlagnahmen, wenn die letzte Zahlung nicht getilgt wurde. 450 Wenn eine Person beispielsweise 1 Millionen US$ in eine Geldmarkteinlage mit jährlich 3% Zinsen anlegt wird sie 30000 US$ pro Jahr erzeugen, lediglich für diese Einlage allein. Prozentual gesehen scheinen 3% nicht viel zu sein. In absolutem Wert jedoch, verglichen mit dem durchschnittlichen Einkommen, ist es ziemlich viel. 451 Inflation definiert http://de.wikipedia.org/wiki/Inflation 452 Literaturempfehlung: Macroeconomics: Theory and Policy, Robert J. Gordon, „Modern theories of inflation“ McGraw-Hill, 1988 453 Quantitätstheorie definiert: http://de.wikipedia.org/wiki/Quantit%C3%A4tstheorie 454 3.5% jährlicher Verlust nach 10 Jahren. Ausgangswert $30,000. Jahr 1: $28,950; Jahr 2: $27,937; Jahr 3: $26,960; Jahr 4: $26,017; Jahr 5: $25,107; Jahr 6: $24,229; Jahr 7: $23,381;Jahr 8: 22,563; Jahr 9: $21,774; Jahr 10 $21,012

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gesamte Gesellschaft hat, so sind die Auswirkungen auf die Armen gravierender als auf die Reichen, wenn es ums Überleben geht. Eine Person mit Ersparnissen im Wert von 3 Millionen Dollar wird von einem 3,5 prozentigem Verlust an Kaufkraft nicht behindert. Eine Person, die jedoch nur $30,000 an Ersparnissen hat, und eventuell daran arbeitet, eine Anzahlung für ein zukünftiges Haus zu tätigen, ist von dieser „versteckten Steuer“ stark beeinträchtigt. Das fehlende Geld, um die Schulden zu decken, erzwingt ständig neue Kredite in der Wirtschaft. Daran gekoppelt ist der heute weltweit benutzte Gelderweiterungsprozess – bekannt als das Mindestreservebankwesen.455 Entgegen der weit verbreiteten Ansicht werden die meisten Kredite nicht vom existierenden Guthaben der Bank entnommen. Sie werden in Echtzeit erzeugt und sind nur von einem festgelegten Anteil des existierenden Guthabens eingeschränkt.456 Kurz gesagt, aufgrund dieses Prozesses können im Laufe der Zeit für jede Einzahlung von $10,000, etwa $90,000 daraus erschaffen werden, in Form von Darlehen und Einzahlungen quer durch das gesamte Bankensystem.457 Diese Verschachtelung von Geld im Zusammenhang mit Zinsdruck, welcher die Knappheit der Geldmenge erzeugt, offenbart, dass das System grundsätzlich inflationär ist. (d) Einkommensunterschiede in der Gesellschaft haben sowohl eine psychologische als auch strukturelle Kausalität. Psychologisch werden sie zum Teil durch den grundlegenden Profit- und Kostenerhaltungs-Mechanismus angetrieben, der benötigt wird, um wettbewerbs- und funktionsfähig in der Marktwirtschaft zu bleiben. In vielerlei Hinsicht kann dieser Anreiz als kognitiv strukturell betrachtet werden, da es eine Verhaltensgrenze gibt, die alle Spieler in der Marktwirtschaft annehmen müssen, wenn es um das Überleben geht. Dieses Interesse der Selbsterhaltung durch Kosteneffizienz und Maximierung von Profiten (neben der Funktion als Grundlage des kapitalistischen Spiels) kann dies wiederum deutlich als allgemeine Überlebensphilosophie oder generell menschliches Wertesystem erweitert werden. In anderen Worten: Die gesellschaftlichen Werte werden durch diese wirtschaftliche Notwendigkeit der dauerhaften Selbsterhaltung geändert und sehr oft manifestiert sich dies in Verhalten, welches (in Abstraktion) als „exzessiv“, „egoistisch“ oder „gierig" bezeichnet werden kann. Tatsächlich ist es jedoch so, dass solche Eigenschaften lediglich als Erweiterung oder Sache des Grades ist, wenn es um die grundlegende Konditionierung des „vorne bleibens“ geht. Demnach sollte uns der generelle Trend der erhöhten Einkommensunterschiede nicht überraschen.458 Auch wenn die USA mit seiner tief wettbewerbsbasierten Art 455

Für eine detallierte Beschreibung des Mindestserve Bankwesens siehe: Modern Money Mechanics, Federal Reserve Bank of Chicago, 1961 456 Um Modern Money Mechanics zu zitieren: „Natürlich geben sie [die Banken] keine Kredit aus dem existierenden Geld, welches sie als Einlagen bekommen. Wenn sie das täten, würde kein zusätzliches Geld erzeugt werden. Was sie machen, wenn sie neue Kredite machen akzeptieren sie einen Schuldschein im Tausch gegen Kredit auf das Konto des Kreditnehmers... Die Reserven werden durch diese Kredittransaktionen nicht verändert. Die neuen Einlagen jedoch, stellen neue Einlagen im Bankensystem dar.“ [Modern Money Mechanics, Federal Reserve Bank of Chicago, 1961] 457 Modern Money Mechanis zitiert: „Der gesamte Betrag der Expansion, der stattfinden kann...bis hin zu seinen theoretischen Grenzen, so können die ursprünglich 10000 US$ innerhalb des Bankensystems zu einer Expansion bis hin zu 90000 US$ an Bankenkredit (Kredite und Investitionen) führen und unterstützt eine Gesamtsumme von 100000 US$ an neuen EInlagen unter der 10% Reserveanforderung.“ 458 Literaturempfehlung: U.S. Income Inequality: It's Worse Today Than It Was in 1774 [http://www.theatlantic.com/business/archive/2012/09/us-income-inequality-its-worse-today-than-it-was-in1774/262537/]

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ein extremes Beispiel der Klassenunterschiede ist,459 ist dieser Trend jedoch ein weltweites Phänomen geworden.460 Auch wenn es Diskussionen über historische Trends verglichen mit heutigen Trends geben kann und warum es gerade diese Zeit solche enorm wachsenden Einkommensunterschiede erzeugt - so können wir Schlussfolgern, dass es bestimmte strukturelle Faktoren gibt, die in das System gekommen sind und diese Faktoren unterstützen dieses Unterschiede. Wir können ebenso Schlussfolgern, dass diese Mechanismen keine Anomalien des Systems sind - sondern eher eine natürliche Entwicklung des Kapitalismus mit der Zeit repräsentieren. Die Einkommen durch beispielsweise „Kapitalerträge“ sind ein guter Punkt. Auch wenn sie scheinbar nur eine kleine Abweichung des generellen Einkommens sind, sehen einige Wirtschaftsanalytiker in den Kapitalerträgen die „Hauptursache der Einkommensunterschiede in den USA“.461 Einkünfte aus Kapitalvermögen werden wie folgt definiert: „Der Art nach gehören zu den Einkünften aus Kapitalvermögen alle Entgelte aus der Nutzungsüberlassung von (Geld-)Kapital, das heißt die Früchte aus der Kapitalnutzung.“462 Dieses Wort wird am häufigsten im Zusammenhang mit dem Verkauf von Aktien, Anleihen, Derivaten, Termingeschäften und weiteren abstrakten „Handels“-Mitteln verwendet. Allein in den USA schöpfen die obersten 0.1% der Bevölkerung ungefähr die Hälfte aller Kapitalerträge ab,463 und diese Erträge machen 60% des Einkommens der 400 Reichsten aus.464 Dieser Klassenmechanismus der Kapitalerträge ist interessant, weil es eine privilegierte Form des Einkommens ist. Auch wenn der Aktienmarkt für konservative gemeinsame Anlagefonds und Pensionsinvestition von der allgemeinen Bevölkerung benutzt werden können, ist er eigentlich ein Spiel der Oberklasse, wenn es um substantielle Gewinne geht, da das hohe Maß an Kapital, welches Anfangs benötigt wird, diese hohen Gewinne ermöglicht. Genauso wie der Elitismus des hohen Einkommens durch Zinsen sind Kapitalerträge ein klassensichernder Mechanismus, der durch bestehenden Reichtum angetrieben wird. Dazu kommen die Einkommensunterschiede aufgrund der verschiedenen Positionen innerhalb der Unternehmenshierachie. In einer Studie des Canadian Centre for Policy Alternatives wurde herausgefunden, dass Kanadas obersten Geschäftsführer das jährliche Einkommen des durchschnittlichen Arbeiters in drei Stunden machen.465 In den USA sind laut den Untersuchungen des Economic Policy Institute „die durchschnittlichen jährlichen Verdienste des ersten 1% stiegen von 1979 bis 2007 um 156%; für die ersten 0.1% stiegen sie um 362%. Im Kontrast dazu haben 459

Referenz: The Unequal State of America: a Reuters series [http://www.reuters.com/subjects/incomeinequality/washington] 460 Referenz: Income Inequality Around the World Is a Failure of Capitalism [http://www.theatlantic.com/business/archive/2011/05/income-inequality-around-the-world-is-a-failure-ofcapitalism/238837/ ] 461 Referenz: The Top 0.1% Of The Nation Earn Half Of All Capital Gains [http://www.forbes.com/sites/robertlenzner/2011/11/20/the-top-0-1-of-the-nation-earn-half-of-all-capital-gains/ ] 462 Kapitaleinkommen quelle http://de.wikipedia.org/wiki/Eink%C3%BCnfte_aus_Kapitalverm%C3%B6gen_(Deutschland) 463 Referenz: Capital gains tax rates benefiting wealthy feed growing gap between rich and poor [http://www.washingtonpost.com/business/economy/capital-gains-tax-rates-benefiting-wealthy-are-protected-byboth-parties/2011/09/06/gIQAdJmSLKstory.html] 464 Referenz: Questioning the Dogma of Tax Rates [http://www.nytimes.com/2011/08/20/business/questioningthe-dogma-of-lower-taxes-on-capital-gains.html?pagewanted=all&r=0 ] 465 Referenz: Top Canadian CEOs make average worker’s salary in three hours of first working day of year [http://business.financialpost.com/2012/01/03/top-canadian-ceos-make-average-workers-salary-in-three-hours/ ]

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die 90 bis 95% einen Lohnzuwachs von 34%, weniger als ein Zehntel der obersten 0.1%. Arbeiter in den unteren 90% haben den geringsten Zuwachs von 17% von 1979 bis 2007.“466 Sie fuhren fort: „Die gewaltigen Anstiege an Einkommensunterschiede sind einer der Hauptantriebe der enormen Aufwärtsumverteilung der Haushaltseinkommen der oberen 1%. Der andere Grund ist der Anstieg an Kapitaleinkommen und der wachsende Anteil der Einkommen, die in das Kapital gehen anstatt in Löhne und Kompensierung. Das Ergebnis dieser drei Trends ist mehr als eine Verdopplung der Anteile des Gesamteinkommens der oberen 1% in den USA zwischen 1979 und 2007 und ein großer Anstieg des Einkommensunterschieds zwischen denen an der Spitze und der großen Mehrheit. 2007 war das durchschnittliche jährliche Einkommen der oberen 1% 42 mal größer als das Einkommen der unteren 90% (von 14 mal größeren in 1979). Einkommen der oberen 0.1% waren 220 mal größer (von 47 mal größeren in 1979).“467 Ähnliche Trends findet man in anderen Industrienationen. Selbst China hat 2013 das Problem der wachsenden Einkommenskluft diskutiert und Vorschläge gebracht diese zu verringern.468 Die OECD haben 2011 in einem Bericht gezeigt, dass Länder mit geringen Einkommensunterschieden in der Vergangenheit in den letzten Jahrzent signifikante Anstiege verzeichneten. [469, 470] Zusammenhänge in Form der klar definierten strukturellen Mechanismen sind schwierig festzumachen hinsichtlich diesem generellen Trend der Beschäftigung in Beziehung zur Einkommensungleichheit. Die Kombination aus dem Kapitalismus innewohnenden Wertesystems des psychologischen Anreizes der Selbsterhaltung und Selbstmaximierung, verbunden mit flexiblen Gesetz-, Steuer- und Finanzvariablen, zusätzlich zu dem grundlegenden strategischen Vorteil, der von der Oberklasse aufgrund der existierenden Reichtumssicherheit erhalten wird, erzeugt einen komplexen synergistischen Mechanismus der klassenerhaltung und Unterdrückung nach außen. Ein subtiler aber dennoch enthüllender Punkt ist, dass während der letzten Rezessionen in den USA sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch weiter ausgeweitet hat.471 Es ist grundsätzlich zu Schlussfolgern, dass wenn das Wirtschaftssystem ohne strukturelle Eingriffe zum Vorteil der Wohlhabenden bestehen würde, so würde eine landesweite Rezession des Ausmaß wie es 2007 und die folgenden Jahre der Fall war alle negativ beeinflussen - unabhängig der 466

Referenz: CEO pay and the top 1% [http://www.epi.org/publication/ib331-ceo-pay-top-1-percent/ ] ebd. 468 Referenz: China Issues Proposal to Narrow Income Gap [http://www.nytimes.com/2013/02/06/world/asia/china-issues- plan-to-narrow-income-gap.html] 469 Referenz: Society at a Glance 2011 - OECD Social Indicators [http://www.oecd.org/social/socialpoliciesanddata/societyataglance2011-oecdsocialindicators.htm] 470 Referenz: 10 Countries With The Worst Income Inequality: OECD [http://www.huffingtonpost.com/2011/05/23/10-countries-with-worst-incomeinequalityn865869.html#s278244&title=1Chile] 471 U.S. Volkszählungsdaten zeigen: „Die oberen 20% der Amerikaner - diejenige, die mehr als 100000US$ pro Jahr machen - bekamen 49.4% aller Einkommen, die in den USA erzeugt worden sind. Die unteren 20%, diejenigen, die unter die Armutsgrenze fallen, machten 3.4%. Das Verhältnis von 14.5 zu 1 war ein Anstieg von 13.6 im Jahr 2008 und doppelt so gering 7.69 im Jahr 1968. An der Spitze haben die reichsten 5% der Amerikaner, die mehr als 180000 US$ machen ein wenig zu ihren jährlichen Einkommen, so die daten. Familien im mittleren 50000 US$ Bereich sanken ebenso ab“ [http://www.huffingtonpost.com/2010/09/28/income-gap-widens-census-n741386.html] 467

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sozialen Schicht. Jedoch 2010 berichtet, dass „die wohlhabendsten 5% der Amerikaner, die mehr als 180.000$ verdienten, einen geringfügigen zuwachs des Jahreseinkommen verzeichneten [...] Die Jahreseinkommen der Familien um den 50.000$ Bereich fielen."472 Als letzter Punkt zu dem Thema der Einkommensungleichheit ist es wichtig zu erwähnen wie sich das Wirtschaftswachstum des Landes oft auf die Oberklasse bezieht, wodurch die generelle wirtschaftliche Relevanz der unteren Klassen reduziert wird. Der Begriff „Plutonomie“ ist in diesem Fall passend. Eine „Plutonomie" wird wie folgt definiert: „Wirtschaftswachstum, das von der reichsten Oberklasse erzeugt und konsumiert wird. Plutonomie bezeichnet eine Gesellschaft in der der Großteil des Reichtums von einer immer kleiner werdenden Minderheit kontrolliert wird; so wird das Wirtschaftswachstum der Gesellschaft abhängig von den Reichtümern dieser selben wohlhabenden Minderheit.“473 Die beste Weise die Art einer Plutonomie und die Relevanz in der modernen Zeit zu beschreiben ist vielleicht die Worte derjenigen zu hören, die diese Entwicklung begrüßen. 2005 hat die Citigroup (eine mächtige weltweite Bank) eine Reihe von internen Memos zu dem Thema produziert und sie waren ziemlich offen in ihrer Analyse und den Schlussfolgerungen. Sie schrieben: „Die Welt ist in zwei Blocks aufgeteilt - die Plutonomie und den Rest. Die USA, UK und Kanada sind die führenden Plutonomien - Wirtschaften, die von den Reichen angetrieben werden.“474 „In einer Plutonomie gibt es keine Tiere wie „den U.S. Konsumenten“ oder „den Engländischen Konsumenten“ oder auch den „russischen Konsumenten". Es gibt wenige reiche Konsumenten, die jedoch den gewaltigen Teil des Einkommens und Konsums ausmachen. Dann gibt es den Rest, die vielen „nicht-reichen“, die jedoch nur einen überraschend kleinen Teil des nationalen Kuchens ausmachen."475 „Wir sollten uns nicht so sehr darum scheren was der durchschnittliche Konsument - sagen wir die 50% - machen werden, da der Konsument (wie wir denken) weniger wichtig für die zusammengefassten Daten sein wird, im Gegensatz zu den Stimmungen der Reichen und was diese machen werden. Das ist einfach ein Thema der Mathematik, nicht Moral.“476 Mit 20% der amerikanischen Bevölkerung in Kontrolle von 85% Reichtum des Landes477 ist es deutlich, dass diejenigen, die diese 85% benutzen wichtiger für das BIP oder Wachstum der Wirtschaft sind. Was das bedeutet ist, dass das Finanzsystem wenig Anreize hat sich um die Aktionen oder das Wohlbefinden des Großteils der Öffentlichkeit kümmern. Sie fahren fort: „Der Kern unserer Plutonomie-These [ist], dass die Reichen die dominante Quelle des Einkommens, Reichtums und der Nachfrage in PlutonomieLändern wie England, USA, Kanada und Australien sind [...] Zweitens glauben wir, dass die Reichen in den nächsten Jahren reicher werden, dabei werden die Kapitalisten (die Reichen) als Ergebnis einen größeren Teil des BIP bekommen, letztendlich durch die Globalisierung. Wir glauben, dass der weltweite Vorrat an 472

Referenz: Income Gap Widens: Census Finds Record Gap Between Rich And Poor [http://www.huffingtonpost.com/2010/09/28/income-gap-widens-census-n741386.html] 473 „Plutonomie“ definiert: [http://de.wikipedia.org/wiki/Plutonomie] 474 Plutonomy: Buying Luxury, Explaining Global Imbalance, Citigroup Internal Memo, October 16th 2005, p.1 475 ebd., p.2 476 The Plutonomy Symposium — Rising Tides Lifting Yachts, Citigroup Internal Memo, September 29, 2006, p.11 477 Referenz: Wealth, Income, and Power [http://sociology.ucsc.edu/whorulesamerica/power/wealth.html]

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Arbeitskraft in Schwellenländern eine Lohninflation in Schach halten wird und Profitmargen erhöhen wird - gut für die Reichtümer der Kapitalisten, relativ schlecht für entwickelte Märkte der einfachen/outsourcebaren Arbeit. Dies prophezeit Gutes für die Unternehmen, die an die Reichen verkaufen oder diesen Dienstleistungen anbieten.“478 Bezüglich der Wichtigkeit der restlichen Bevölkerung heißt es in dem Memo: „Die größte Gefahr für die Plutonomie sehen wir in Form von mehr Forderungen für die Reduzierung von Einkommensungleichheiten, gleichere Reichtumsverteilung und die Kritisierung von Kräften wie der Globalisierung, die den Profit und Reichtumswachstum erhöht haben.“479 „Unsere Schlussfolgerung? Die drei Hebel die Regierungen und Gesellschaften ziehen könnten, um der Plutonomie ein Ende bereiten könnten, sind klein. Die Eigentumsrechte sind generell immernoch Intakt, Besteuerungsrichtlinien neutral bis vorteilhaft und die Globalisierung hält den Nachschub an Arbeitskräften oben, dass zu einer Bremsung der Lohninflation führt.“480, 481 Auch wenn die Plutonomie keine Quelle des Klassenkonfliktes ist, so ist sie doch sicherlich ein Ergebnis. Chrystia Freeland Autorin von Plutocrats: The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else kommentiert die Natur dieser eingerahmten Psychologie in der reichen Minderheit: „Man macht so etwas nicht auf diese glucksende Art, beim Zigarre rauchen auf dieser verschwörerischen Schiene. Du machst das, indem du dich selber davon überzeugst, dass das was in deinem persönlichen Eigeninteresse ist auch im Interesse von allen Anderen ist. Du überzeugst dich also davon, dass die öffentliche Versorgung, also Investition in Bildung, die die soziale Mobilität überhaupt erst ermöglicht, gekürzt werden muss, sodass das Haushaltsdefizit sinkt und so deine Steuern sich nicht erhöhen. Und was mir wirklich Sorgen bereitet ist, dass es so viel Geld und so viel Macht an der Spitze gibt und die Kluft zwischen diesen Menschen an der Spitze und den Anderen so groß ist, dass die soziale Mobilität abgewürgt wird und wir eine transformierte Gesellschaft sehen werden.“482 Zusammenfassung Viel könnte zu dem vielseitigen Kampf auf diesem Planeten gesagt werden, größtenteils immer wieder rückführend auf Finanz- und Marktmächte und deren institutionelle Erhaltung. Von physischer Gewalt bis hin zu subtiler gesetzlicher Manipulation ist diese Thematik allgegenwertig und dominant. Man könnte sogar argumentieren, dass dem Fortschritt selbst der Krieg erklärt wurde, da etablierte Unternehmen (die einen gewaltigen Marktanteil in einer bestimmten Branche halten) oft daran arbeiten rücksichtslos alles auszuschalten was mit ihnen konkurrieren kann, selbst wenn das Produkt fortschrittlicher oder nachhaltiger ist.483 Veränderung und Fortschritt selbst sind werden in dem 478

Revisiting Plutonomy: The Rich Getting Richer, Citigroup Internal Memo, March 5th, 2006, p.11 The Plutonomy Symposium — Rising Tides Lifting Yachts, Citigroup Internal Memo, September 29, 2006, p.11 480 Plutonomy: Buying Luxury, Explaining Global Imbalance, Citigroup Internal Memo, October 16th 2005, p.24 481 Für eine detaliertere Analyse der Citigroup-Dokumente siehe: http://www.insideriowa.com/en/opinion/index.cfm?action=display&newsID=17761 482 National Public Radio (October 15, 2012) "A Startling Gap Between Us And Them In'Plutocrats'"[http://www.npr.org/2012/10/15/162799512/a-startling-gap-between-us-and-them-in-plutocrats] 483 Eine bekanntes Beispiel dieses gehemmten Fortschritts für die ERhaltung des Profits war der erfolgreiche Versuch der Ölindustrie und demnach der US REgierung den Fortschritt eines vollständig elektrischen Fahrzeugs 479

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kapitalistischen System nicht begrüßt, da sie oft den Erfolg von etablierten Institutionen stört. Die unglaublich langsame Anwendungsrate neuer Nachhaltigkeit fördernden technologischen Methoden ist ein Paradebeispiel.484 Tatsächlich gibt es auf Unternehmensebene nicht nur einen ständigen Krieg, um den Wettbewerb zu reduzieren, sondern es gibt auch eine andauernde Ausbeutung der Öffentlichkeit. Adam Smith hat diese Tatsache in dem „Wohlstand der Nationen“ erwähnt. In dieser heißt es: „Das Interesse der Händler in jedem bestimmten Handelszweig oder in der Produktion unterscheidet sich immer und ist sogar entgegen gesetzt zu dem der Öffentlichkeit [...] Den Wettbewerb zu reduzieren ist immer im Interesse der Händler. [...] Den Wettbewerb zu reduzieren [...] dient den Händlern, sodass sie die Profite über das natürliche Maß steigern können, um, zu derem eigenen Vorteil, eine absurde Steuer auf den Rest der Mitbürger legen.“485 Auf der nationalen Ebene scheint „Frieden“ heute nur eine Pause zwischen Konflikten auf der Bühne der weltweiten Zivilisation zu sein. Es gibt nahezu zu jedem Zeitpunkt irgendwo auf der Welt einen Krieg und wenn es keinen gibt, dann beschäftigen sich die Großmächtige damit, bessere Waffen zu bauen und/oder alte Waffen an andere Länder zu verkaufen, die in der gleichen Weise handeln - alle nicht nur im Namen des Schutzes, sondern auch im Namen des „guten Geschäfts“.486 Selbst Nationen haben eine Form der Klassenhierarchie angenommen. Dabei unterdrücken dominante erste Welt Länder die 3. Welt Länder. In historischer Literatur finden wir Begriff für solche Gefälle wie Supermächte, Mächte, Untermächte und Vasallenstaaten. Die nationalen Klassenhierarchie und die strukturellen Mechanismen, die dieses Gefälle in Stand halten, unterscheiden sich nicht stark von denen, die die gesellschaftlichen Klassen aufrechterhalten. Wenn beispielsweise das Schuld- und Zinssystem, wie zuvor beschrieben, sehr gut darin sind einen Druck auf die unteren Klassen auszuüben wodurch strukturell deren Wohlstand und soziale Mobilität beschränkt wird, so gibt es die gleichen Effekte bei der Unterdrückung einer Nation durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfond.487 Sogar John Adams, der zweite Präsident der USA hat dies ausgedrückt: „Es gibt zwei Wege ein Land zu erobern und zu versklaven. Einer ist durch das Schwert. Der andere durch Schulden.“488 Auf der breitesten Ebene wird der echte Krieg gegen Problemlösungen und menschliche Harmonie geführt. Der echte Krieg wird gegen ein Mächtegleichgewicht und gegen soziale Gerechtigkeit geführt. Der echte Krieg wird gegen die Idee der wirtschaftlichen Gleichheit geführt.489, 490 In den Worten des Richters am obersten in den 1990er Jahren zu entwickeln [Empfohlenes Video: “Who Killed the Electric Car?“: http://www.imdb.com/title/tt0489037/synopsis] 484 Referenz: Oil Giants Loath to Follow Obama’s Green Lead [http://www.nytimes.com/2009/04/08/business/energy-environment/08greenoil.html?pagewanted=all&_r=0] 485 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Adam Smith, Modern Library Reprint, 1937, New York, p.250 486 Referenz: The U.S.: Arms Merchant to the Developing World [http://nation.time.com/2012/08/28/theres-nobusiness-like- the-arms-business-2/ 487 Referenz: Structural Adjustment—a Major Cause of Poverty [http://www.globalissues.org/article/3/structuraladjustment-a-major-cause-of-poverty] 488 Zitat: http://www.john-adams-heritage.com/quotes/ 489 Referenz: 'Extreme' Poverty in US Has More Than Doubled, Study Says [http://www.moneynews.com/Economy/Extreme- Poverty-US/2012/03/06/id/431627] 490 Referenz: Of the 1%, by the 1%, for the 1% [http://www.vanityfair.com/society/features/2011/05/top-onepercent- 201105]

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Gerichtshof, Louis D. Brandeis: „Wir können eine Demokratie in diesem Land haben oder wir können konzentrierten Reichtum in den Händen der wenigen haben, aber wir können nicht beides haben.“491 Überall auf der Welt reden die Menschen von der Notwendigkeit der Gleichheit. Die meisten gebildeten Menschen in der Welt haben keinen Respekt gegenüber Geschlechts- oder Rassenvorurteilen. Sexistisch oder rassistisch zu sein wurde zu einer tief verabscheuten Idee, auch wenn es nicht lange her ist, dass in der westlichen Welt solche kulturellen Ansichten als „normal“ angesehen wurden. Es zeigt sich in dem Verlauf der Geschichte ein Ziel, welches ist die Gesellschaft gleicher zu machen, was auch, per Definition, die zugrunde liegende Idee der „Demokratie“ ist. In mitten all dessen wird die am stärksten unterdrückende Form des getrennten menschlichen Leides zum größten Teil unerkannt fortgeführt. Heute unterdrücken einen nicht Rassen, Geschlechte oder Glaubensbekenntnisse - sondern die Institutionen der Klassen. Es ist heute ein Thema der „Reichen“ und „Armen“. Genauso wie der Rassismus, diskriminieren undspalten diese ideologischen und letztendlich strukturellen Formen der Unterdrückung die menschliche Spezies auf heftige und destruktive Weise. Im weiten Kontext ist dieses Theater der multidimensionaler Kriegsführung - eine Welt im Krieg mit sich selbst - komplett unnachhaltig. Im Anbetracht der beschleunigenden gesellschaftlichen Probleme wird es klarer, dass das Ethos des extremen Wettbewerbs und enger Selbsterhaltung auf Kosten von Anderen - ob nun persönliche, auf Unternehmensbasis, klassenbasiert, ideologisch oder auf Staatsebene - nicht die Lösung dieser Probleme oder langanhaltenden menschlichen Wohlstand bringen wird. Es wird eine neue Art des Denkens benötigen diese soziologischen Trends zu überkommen und im Kern dieses kulturellen Wandels liegt die Veränderung der sozioökonomischen Prämisse selbst.

491

As quoted by Raymond Lonergan in Mr. Justice Brandeis, Great American (1941), p.42

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